Libido und Wille zur Macht

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F riedrich N ietzsche

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F riedrich N ietzsche

Nietzsche im Spiegel der Tiefenpsychologie

Der Autor Martin Liebscher, geb. 1972 in Wien, ist Research Fellow am German Department und Honorary Senior Lecturer am Psychology Department des University College London. Er war Mitbegründer und von 2002 bis 2011 Direktor des Ingeborg Bach­ mann Centre am Institute of Germanic & Romance Studies der Universität London. Sein Forschungsinteresse gilt der deutschen Philosophie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere deren Einfluss auf die Entstehung der frühen Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Zurzeit arbeitet er an der Herausgabe des Briefwechsels von C. G. Jung und Erich Neumann.

Martin Liebscher

Libido und Wille zur Macht Martin Liebscher · Libido und Wille zur Macht

Carl Gustav Jungs (1875–1961) Auseinandersetzung mit der philosophischen Tra­ dition lässt sich als psychologische Umdeutung philosophischer Begrifflichkeiten ­beschreiben. Indem Jung diese tradierten Konzepte semantisch neu besetzt, gelingt es ihm nicht nur, Bezeichnungen für bislang unbekannte Phänomene zu finden, ­sondern gleichzeitig assoziativ eine nähere inhaltliche Bestimmung zu ermöglichen. Ausgehend von diesem Aneignungsprinzip unternimmt Martin Liebscher in diesem Buch den Versuch, anhand konkreter Vergleiche wie etwa zwischen Nietzsches ­Konzept des Willens zur Macht und Jungs Begriff der Libido oder zwischen Nietz­ sches Verständnis des Scheins und Jungs Realität psychischer Inhalte den Spuren der Philosophie Friedrich Nietzsches im Denken C. G. Jungs nachzugehen. Im ­Zentrum der Untersuchung steht dabei die Seminarreihe zu Nietzsches Also sprach Zarathustra, die Jung in den Jahren 1934 bis 1939 in Zürich abhielt. Das Buch endet mit einem unerwarteten Berührungspunkt zwischen Nietzsches Begriff der «Um­ werthung aller Werthe» und Jungs Konzept der Individuation.

C. G. Jungs Auseinandersetzung mit Nietzsche

I S B N 978-3-7965-2716-6

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 527166

S chwabe




Beiträge

zu

Friedrich Nietzsche

Quellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches

herausgegeben von David Marc Hoffmann Band 15

S chwabe Verlag B asel


Beiträge

zu

Friedrich Nietzsche

Martin Liebscher

Libido und Wille zur Macht C. G. Jungs Auseinandersetzung mit Nietzsche

S chwabe Verlag B asel


Publiziert mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung Basel

© 2012 Schwabe AG Verlag, Basel Lektorat: Dani Berner und Angela Zoller, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Papier: Z-Offset W 90g Schrift: Times Ten Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2716-6 www.schwabe.ch


Dieses Buch widme ich meinem Vater Heinz Liebscher (1930–2010), von dem ich weiß, wie viel es ihm bedeutet hätte.



I nhaltsverzeichnis Siglen

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Einleitung

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Erstes Kapitel: Das Unbewusste und die Philosophie 1. 2. 3. 4.

Von Tatsachen und Spekulation Des Psychologen Werk Des Psychologen Werkzeug Voraussetzungen einer Betrachtung des Werkzeugs

Zweites Kapitel: Nietzsche als Phänomen und Nebeneinfluss 1. 2. 3. 4.

«Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene» «Wandlungen und Symbole der Libido» «Die Psychologie der unbewußten Prozesse» «Psychologische Typen»

Drittes Kapitel: Das Zarathustraseminar 1. Der Alte Weise 2. Puer Aeternus 3. Der Lebensmittag 4. Wotan 5. Wille zur Macht

Viertes Kapitel: Der Umgang mit Hammer und Dynamit 1. 2. 3.

Wille zur Macht und Libido Die Realität psychischer Inhalte Psychologie als Wille zur Wahrheit

Fünftes Kapitel: Umwertung und Individuation 1. 2. 3.

Vom Willen zur Macht zur Umwertung aller Werte Umwertung aller Werte – psychologisch gelesen Individuation als Perspektivenwechsel

21 21 25 27 38 39 40 44 46 49 53 57 83 93 102 111 119 122 135 144 155 155 159 161


8

Inhaltsverzeichnis

Schlusswort

165

Bibliographie

168 168 171

1. Quellen 2. Forschungsliteratur

Nachweise

177

Danksagung

178

Personenregister

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Sachregister

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Siglen

AC Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christen­ thum [1888]. KSA VI 165–254. BAW Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. 5 Bde. Hg. von H. J. Mette (München 1933– 1942). [Erschienen, dann abgebrochen] DD Friedrich Nietzsche: Dionysos-Dithyramben [1888]. KSA VI 375–411. DK Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Hg. von Hermann Diels, Walther Kranz (Berlin 61951, Nachdruck: Hildesheim 2004). EH Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist [1888]. KSA VI 255–374. FW Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft («la gaya scienza») [1882/1887]. KSA III 343–651. GD Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888]. KSA VI 55–161. GM Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887]. KSA V 245–412. GT Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872]. KSA I 9–156. GW Carl Gustav Jung: Gesammelte Werke. Hg. von Marianne Niehus-Jung, Lena Hurwitz-Eisner, Franz Riklin, unter Mitarbeit von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf. 20 Bde. (Freiburg i. Br., Olten, Stuttgart, Zürich 1958–1994). JGB Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886]. KSA V 9–243. KGW Kritische Gesamtausgabe Werke. – Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von G. Colli und M. Montinari, weitergeführt von W. Müller-Lauter und K. Pestalozzi (Berlin, New York 1967ff.). KSA Kritische Studienausgabe. – Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von G. Colli und M. Montinari (Berlin, München 1980).


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Siglen

KSA-Kommentar Giorgio Colli, Mazzino Montinari: Friedrich Nietzsche. Kommentar zu den Bänden 1–13 [der KSA]. KSA XIV. KSB Kritische Studienausgabe Briefe. – Friedrich Nietzsche. Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von G. Colli und M. Montinari (Berlin, München 1986). M Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881]. KSA III 9–331. MA I–II Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumensch­ liches. Ein Buch für freie Geister [1878/1886]. KSA II. NL Nachlass Friedrich Nietzsches, zitiert nach KSA mit Jahr-, Heft- und Fragmentangabe. KSA VII–XIII. PHG Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. KSA I 799–872. SNZ Carl Gustav Jung: Nietzsche’s Zarathustra. Notes of the Seminar given in 1934–1939. Hg. von James Jarrett (London 1989). WL Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873]. KSA I 873–890. Za Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883/1885]. KSA IV.


Und ich hasse das Selbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind, und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniss auf sie fällt, − jener Schatten bin ich auch. Friedrich Nietzsche Der Wanderer und sein Schatten



Einleitung

Wie aus den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hervorgeht, wurde am Vortragsabend des 1. April 1908 der dritte Abschnitt von Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral besprochen. Freuds Beitrag gegen Ende der Sitzung wird mit den Worten wieder­ gegeben, er kenne Nietzsche gar nicht, «ein gelegentlicher Versuch, ihn zu lesen, sei an einem Übermaß von Interesse erstickt».1 Ähnlich ­äußerte sich Freud am 28. Oktober desselben Jahres anlässlich der Auseinandersetzung mit Ecce Homo: Er habe Nietzsche niemals zu studieren vermocht, «zum Teil wegen der Ähnlichkeit, die seine intuitiven Erkenntnisse mit unsern mühseligen Untersuchungen haben, und zum andern Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften, der ihn bei Versuchen zur Lektüre nie über ½ Seite herauskommen ließ».2 Dies sind nicht die einzigen überlieferten Versuche Freuds, die auf empirischem Weg erlangten Errungenschaften der Psychoanalyse von Nietzsches Philosophie und deren psychologischen Inhalten zu ­distanzieren. Dennoch, die gedankliche Nähe ist augenfällig − man denke nur an das Verständnis des Traums, den Begriff der Verdrängung oder die Triebtheorie – und sie löste nicht von ungefähr eine nachhaltige Diskussion um die Originalität der psychoanalytischen Grundbegriffe aus. Manche Kommentatoren gehen sogar soweit zu behaupten, dass beinahe alles, was heute mit dem Namen Freuds in Verbindung gebracht werde, bereits bei Nietzsche zu finden sei – ein geschultes Auge vorausgesetzt.3

1

Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Hg. von H. Nunberg und E. Federn. Bd. I: 1906–1908 (Frankfurt a. M. 1976) 338: Vortragsabend des 1. April 1908. 2 Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Hg. von H. Nunberg und E. Federn. Bd. II: 1908–1910 (Frankfurt a. M. 1977) 28: Vortragsabend des 28. Oktober 1908. 3 J. Köhler: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft (Nördlingen 1989) 348.


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Einleitung

Die Forschung geht heute davon aus, dass Nietzsches Einfluss auf Freuds Denken ein indirekter gewesen ist.4 Es ist kaum vorstellbar, dass Freud während seiner Wiener Jugend- und Studienjahren nicht in Berührung mit nietzscheanischem Gedankengut gekommen sein soll. Man denke nur an seine Mitgliedschaft im Leseverein der deutschen Studenten Wiens oder an die Freundschaft mit frühen Verehrern Nietzsches wie Siegfried Lipiner oder Josef Paneth, die beide persönlich mit Nietzsche in Kontakt gewesen waren.5 Auch in späteren Jahren finden sich im nächsten Umfeld Freuds – etwa unter Kollegen, Verehrern und Patienten –, ebenfalls zahlreiche mögliche Vermittler der Philosophie Nietzsches. Unter diesen Mediatoren seien einige hervorgehoben: Otto Rank, der im Jahr 1926 Freud zu dessen 70. Geburtstag ein Exemplar der Musarion-Ausgabe der Werke Nietzsches schenkte; Eduard Hitschmann, der an dem oben erwähnten Treffen der Psychoanalytischen Vereinigung die Einleitung und Vorstellung der Genealogie der Moral übernahm; Alfred Adler, dessen Individualpsychologie Anleihen an Nietzsches Konzept des Willens zur Macht zu machen scheint; Lou Andreas-Salomé, einstmals Nietzsches große verhängnisvolle Liebe, die 1894 die wichtige Studie Friedrich Nietzsche in seinen Werken schrieb und sich später bei Freud in Analyse begab, seine enge Vertraute wurde und sich in der Folge selbst zur Psychoanalytikerin ausbilden ließ; Victor Tausk; Georg Groddeck; Thomas Mann; Otto Weininger – die Liste der Bekannten Freuds, die ein Interesse an Nietzsches Philosophie zeigten und Freud mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Kenntnisse darüber vermittelten, ließe sich fast beliebig weiterführen. Der ‘ungewollte’ Freud-Biograph Fritz Wittels beschreibt diese indirekte Beeinflussung bereits 1924 scharfsichtig:

4 5

Siehe insbesondere G. Gödde: Traditionslinien des Unbewußten. Schopenhauer – Nietzsche – Freud (Tübingen 1999); R. Gasser: Nietzsche und Freud [Texte und Monographien zur Nietzsche-Forschung. Bd. 38] (Berlin, New York 1997). W. Hemecker: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzung der Psycho­ analyse (München 1991); H. G. Hödl: Nietzsche in Österreich. Prometheische Religion: Siegfried Lipiners poetische Nietzsche-Rezeption. In: M. Bendikt, E. Kiss et al. (Hg.): Verdrängter Humanismus, verzögerte Aufklärung. Bd. 4 (Klausen 1998) 379–396; M. Liebscher: Wiener Kreise. Freud, Nietzsche und Schopenhauer. In: Nietzsche-Studien 31 (2002) 423–431; ders.: «Lauter ausgesuchte Intelligenzen». Admiration for Nietzsche in 1870s Vienna. In: Austrian Studies 16 (2008) 32–50; W. J. McGrath: Dionysian Art and Populist Politics in Austria (New Haven, London 1974); A. Venturelli: Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste NietzscheRezeption in Wien. In: Nietzsche-Studien 13 (1983) 448–480.


Einleitung

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Was Nietzsche geschrieben hat, ist heute so sehr Gemeingut, daß seine Gedanken auf der Straße, in Kaffeehäusern, im Gespräch zwischen Analytiker und Patient durch die Luft fliegen. Was Freud durch Vermeidung eines unmittelbaren Verkehrs mit Nietzsche erreichen kann, ist nur eine Verballhornung der Gedanken dieses Großen. Nimmermehr kann er sich gegen die Gedankenwelt luftdicht abschließen. Er ist wohl auch schon von seiner Meinung abgekommen und packt in seinen Reisekoffer neben Schopenhauer auch einen Band Nietzsche.6

Wittels schrieb diese Zeilen erst nach seinem Bruch mit Freud. Wie Gasser bemerkt, ist es ein erstaunliches Faktum, dass all diejenigen, die sich von Freud zu distanzieren und einen eigenen Weg einzuschlagen suchten, vermehrt zu Nietzsche-Zitaten griffen.7 Neben Alfred Adler und Otto Rank, der in Das Trauma der Geburt (1924) Nietzsche als denjenigen pries, der das Phänomen der sexuellen Verdrängung und des neurotischen Traumas vorweggenommen sowie eine psychologische Analyse des Sokrates gegeben habe,8 ist hier vor allem Carl Gustav Jung zu nennen. Für ihn wird die Philosophie Nietzsches sogar zu einem entscheidenden Grenzstein zwischen seiner eigenen und der Freud’schen Theorie. Nicht zufällig findet sich die folgende Stelle aus dem Zarathustra in einem seiner letzten Briefe an die Berggasse: Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und ­warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage! […] Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen […] Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich Euch wiederkehren.9

Gerade aufgrund der strikten Zurückweisung entwickelte sich Nietzsches Philosophie zusehends zur Achillesferse Freuds. Zumeist versuchte Freud, Nietzsches Einsichten zu ignorieren oder ihre Bedeutung für die Entwicklung der Psychoanalyse herunterzuspielen. Nach Jung ist man versucht, von einem Komplex zu sprechen, der, einmal berührt, unerwartet harsche Reaktionen mit sich bringen kann. In Erinnerungen, Träume, Gedanken schilderte Jung, dass Freud ihm seine Unfähigkeit, 6

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F. Wittels: Sigmund Freud. Der Mann, die Lehre, die Schule (Leipzig, Wien, Zürich 1924) 53. Zu Wittels siehe: ders.: Freud and the Child Woman. The Memoirs of Fritz Wittels. Edited with a Preface and a Commentary by Edward Timms (New Haven, London 1995). R. Gasser: Nietzsche und Freud, 119. O. Rank: Das Trauma der Geburt (Frankfurt 1988) 150–151, 184. Za. KSA IV 101. Zitiert nach dem Brief C. G. Jungs an Sigmund Freud vom 3. März 1912 (Sigmund Freud und C. G. Jung. Briefwechsel. Hg. von W. McGuire und W. Sauerländer [Frankfurt a. M. 1974] 222).


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Einleitung

Nietzsche zu lesen, eingestanden habe: «Freud hatte, wie er mir selber sagte, Nietzsche nie gelesen.»�10 In seinem Nachruf auf Freud im Jahr 1939 nutzte Jung die wiederholten Beteuerungen Freuds, Nietzsche nicht gelesen zu haben, um sich von Freuds vermeintlicher philo­ sophischer Ignoranz zu distanzieren. Freud habe sich nicht nur dagegen gewehrt, Nietzsche zu lesen, sondern ihm hätten die elementarsten Bildungselemente in der Philosophie überhaupt gefehlt. Dieser Umstand sei dafür verantwortlich, dass die Psychoanalyse niemals nach ihren Wurzeln in den Geisteswissenschaften gefragt habe und im Materialismus des 19. Jahrhunderts befangen geblieben sei.11 Natürlich hatte die Psychoanalyse Freuds geisteswissenschaftliche, besonders auch philosophische, Vorläufer und entstand nicht ex nihilo oder als bloßes Ergebnis empirisch-wissenschaftlicher Versuchsanordnungen12 – dies obwohl Freud seine Neurosenlehre in den materialis­ tischen Wissenschaften angesiedelt sehen wollte. Daran hatte auch Jung keinerlei Zweifel und seine Kritik an Freuds mangelnder philosophischer Gelehrsamkeit muss wohl auch als Versuch verstanden werden, die eigene Theorie als reflektiertere Alternative zu präsentieren: aus diesem Grund betont Jung die abendländische philosophische Tradition als Ursprung seiner eigenen Psychologie. In den Jahren nach seiner Loslösung von Freud finden sich in den Schriften Jungs zahlreiche ­Stellen, wo er die Analytische Psychologie in den Kontext des geistesgeschichtlichen Denkens zu setzen trachtet. Allerdings ist diesen Aussagen stets ein ambivalenter Zug eigen: sobald ihn jemand auf einen dieser Vorläufer festlegen wollte, berief sich Jung auf seine wissenschaftliche Herkunft, die ihm jegliche philosophische Spekulation verbiete. Das Argument folgte in solchen Fällen dem Modus des Konjunktivs: Wäre er ein Philosoph, würde er anti-nominalistisch argumentieren, als Empiriker könne er sich das nicht gestatten.13 Ein Ausdruck dieser Ambivalenz liegt in Jungs Unterfangen, philosophische Begriffe für bisher unbekannte psychologische Phänomene zu verwenden. Er verstand diese Begriffe nicht als Ausdruck einer bestimmten philosophischen Position innerhalb eines Diskursgeschehens, sondern rein psychologisch. Das wird besonders anhand seines Nietzsche-Seminars zu Also sprach Zarathustra deutlich, wo Jung sich überhaupt nicht mit der phi10 C. G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und hg. von Aniela Jaffé (Olten 1971) 157. 11 Ders.: Sigmund Freud. GW XV 53–62. 12 Siehe hierzu: M. Liebscher, A. Nicholls (Hg.): Thinking the Unconscious. Nineteenth Century German Thought (Cambridge 2010). 13 C. G. Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus. GW IX/1 91–92.


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losophischen Bedeutung des Inhalts aufhält, sondern in ausführlichster Weise die analytisch-psychologische Bedeutung der Begriffe aufschlüsselt. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass Jung an anderer Stelle davon spricht, Nietzsche habe neben Burckhardt eher zu den «indirekte[n] Nebeneinflüssen» seines Denkens gehört und habe ihn als «Phänomen» «am tiefsten beindruckt».14 Bedenkt man aber, dass Nietzsche zu den am häufigsten erwähnten Denkern in Jungs Werk gehört, erstaunt diese Distanzierung doch sehr. In der vorliegenden Untersuchung soll nicht nur Jungs ambivalentes Verhältnis zur Philosophie im Allgemeinen und zu Nietzsche im Besonderen untersucht werden. Es sollen insbesondere auch Nietzsches philosophische Lehre des Willens zur Macht15 und Jungs psychologische Weltauslegung in ein Gespräch gebracht werden. Von Seiten Jungs hat dieses Gespräch wirklich stattgefunden, denn er hat sich intensiv mit 14 Ders.: Ein großer Psychologe im Gespräch. Interviews. Reden. Begegnungen. Hg. von R. Hinshaw (Freiburg i. Br. 1994) 63. 15 Nietzsches Konzeption eines Willens zur Macht muss in aller Schärfe von der verfälschenden Kompilation von Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast (alias Heinrich Köselitz) unterschieden werden. Es ist das Verdienst von Forschern wie Walter Kaufmann, Giorgio Colli und Mazzino Montinari nachgewiesen zu haben, dass Nietzsche den Plan zu einem Hauptwerk unter dem Titel «Der Wille zur Macht» Ende August 1888 endgültig aufgegeben und Teile des Materials für die Götzendämmerung verwendet hat. Erste Entwürfe zu einem Buch unter dem Titel «Der Wille zur Macht» datieren vom Sommer 1885, wenngleich die inhaltliche Auseinandersetzung noch weiter zurückreicht. So lassen sich Spuren derselben bereits Anfang der 1880er Jahre nachweisen. Die Aufzeichnungen fließen dann aber in die Morgenröthe und in Also sprach Zarathustra ein. Nietzsche ersetzte schließlich den Plan eines Hauptwerkes «Der Wille zur Macht» durch ein Projekt, das er «Die Umwertung aller Werte» nannte. Von diesem wurde nur der erste Teil realisiert und als Der Antichrist veröffentlicht. Förster-Nietzsche und Gast ignorierten Nietzsches Absichten und begannen auf Initiative Gasts, Nachlassmaterial zum vermeintlichen Hauptwerk zusammenzustellen. In der Großoktavausgabe findet man eine erste Veröffentlichung unter dem Titel «Der Wille zur Macht» im Jahr 1899. Dabei handelt es sich jedoch um den Antichristen. Der vom Herausgeber Arthur Seidl für den Band VIII gewählte Titel lautet: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Von Friedrich Nietzsche. Vorwort und erstes Buch: Der Antichrist. 1901 erscheint dann die erste Kompilation mit 483 Aphorismen und 1906 die später kanonische Ausgabe, die bis heute in dieser Form gedruckt wird, mit 1067 Aphorismen. Vgl.: M. Montinari: Nietzsches Nachlass von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressbericht. Bd. 2/1 [Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975] (1976) 36–58. – eine leicht veränderte Version in: KSA-Kommentar XIV 383–400. Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs siehe: D. M. Hoffmann: Die Geschichte des Nietzsche-Archivs (Berlin, New York 1991). Jung hatte Nietzsches vermeintliches Hauptwerk «Der Wille zur Macht» als Teil der Kleinoktavausgabe in seiner Bibliothek, allerdings finden sich darin keinerlei Anhaltspunkte eines intensiveren Studiums. Vgl. P. Bishop: Jung’s Annotations in Nietzsche’s Work. An Analysis. In: NietzscheStudien 24 (1995) 271–314.


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Nietzsche auseinandergesetzt – Jung aus der Perspektive der Wille-zurMacht-Konzeption Nietzsches zu lesen scheint mir ein lohnenswertes Gedankenexperiment. Im veröffentlichten Werk Nietzsches findet sich der Begriff des Willens zur Macht nur selten. Das ist umso erstaunlicher, als die Notizbücher zeigen, dass sich Nietzsche mit diesem Konzept bereits seit Beginn der 1880er Jahre auseinandergesetzt hat. Seine prominenteste Erörterung erfährt der Begriff in Also sprach Zarathustra, einem Buch, mit dem sich Jung mehrmals intensiv beschäftigte: erstmals während seiner Studienzeit, dann nach dem Bruch mit Freud im Jahr 1913 und wieder in den 1930er Jahren, als er über fünf Jahre hinweg ein wöchentliches Seminar zu diesem Text abhielt. Das erste Kapitel «Das Unbewusste und die Philosophie» beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Jungs Psychologie zur philosophischen Tradition, das ich als psychologische Aneignung philosophischer Konzepte auffasse – Jung selbst spricht in diesem Zusammenhang von «gedanklichen Werkzeugen». Ausgehend von dieser Metapher soll Jungs Verhältnis zur Philosophie anhand seiner wichtigsten Rezeptionen von Platon bis Schopenhauer dargestellt werden. Die Beschreibung dieser Denkbewegung wiederum bildet die Voraussetzung, Jungs Aneignung der philosophischen Begriffe Nietzsches verstehen zu lernen. Im zweiten Kapitel «Nietzsche als Phänomen und Nebeneinfluss» wird die Rolle Nietzsches innerhalb zentraler Texte Jungs untersucht. Dabei zeigt sich, dass Jungs Verfahren der psychologischen Aneignung im Rahmen seiner Nietzscherezeption nicht auf die philosophische Begrifflichkeit beschränkt blieb, sondern auch die Biographie miteinschloss. Dies kann auch als Bestreben Jungs ausgelegt werden, den universalen Geltungsanspruch von Nietzsches Machtphilosophie zu untergraben. Dem Höhepunkt von Jungs Auseinandersetzung mit Nietzsche, seiner Seminarreihe zu Also sprach Zarathustra, ist das dritte Kapitel gewidmet. Diese lese ich aber nicht mehr nur aus dem Blickwinkel der Aneignung, sondern auch und vor allem im Sinne der Machtphilosophie Nietzsches als Versuch der Überwindung anderer psychologischer oder philosophischer Perspektiven. Von besonderer Bedeutung ist hier der Abschnitt, in dem ich mich mit Jungs Gleichsetzung von Nietzsche, Zarathustra und dem Archetypus des Alten Weisen auseinandersetze, da hier die Aneignung neben der Überwindung als Psychologisierung sichtbar wird. Mit drei weiteren Schwerpunkten der Zarathustrainterpretation Jungs im Rahmen des Seminars beschäftigen sich die darauffolgenden Abschnitte. In allen kommt die zeithistorische Bedingtheit des Inhalts zur Sprache, was besonders anhand von Jungs Theorie des Puer Aeternus als Archetypus politischer Massenbewegung, den er


Einleitung

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sowohl im Zarathustra als auch im Deutschland des Nationalsozialismus am Werk sieht, deutlich wird. Dem folgt ein Vergleich von Jungs psychologischem Konzept des Lebensmittags mit Nietzsches philosophischem Bild des großen Mittags, wobei hier wie an keiner anderen Stelle deutlich wird, wie Jung sich des philosophischen Konzepts Nietzsches bedient, um sich gegenüber Freud zu emanzipieren. Jungs Überlegungen zum Archetypus Wotan bilden einen weiteren Schwerpunkt der Seminarreihe: Vor dem Hintergrund des deutschen Faschismus, in dem germanische Kulte wiederbelebt wurden, entwickelte er diese Theorie zum furor teutonicus, den er bereits in bestimmten archetypischen Vorstellungen im Zarathustra vorzufinden glaubte. Die Ergebnisse dieser Überlegungen zur zeithistorischen Verstrickung der Inhalte des Zarathustraseminars lassen sich durchaus gemäß der Lehre vom Willen zur Macht als Überwindung anderer Interpretationen auffassen. Das ­Kapitel schließt dem entsprechend auch mit der Frage, inwiefern sich Jung im Zarathustraseminar direkt mit Nietzsches Begriff des Willens zur Macht auseinandersetzt. Während die ersten drei Kapitel Jungs Rezeption der Philosophie Nietzsches und damit den Standpunkt der Analytischen Psychologie zum Ausgangspunkt der Betrachtung nehmen, beschäftigt sich das vierte Kapitel mit ausgewählten inhaltlichen Aspekten von Jungs ­Psychologie, die anhand von Nietzsches Lehre des Willens zur Macht gelesen und kritisch hinterfragt werden: Mitunter unreflektiert wurden der Willen zur Macht und Jungs Verständnis der Libido von manchen Forschern in inhaltliche Nähe gerückt. Ein Vergleich soll die Berührungspunkte und Ähnlichkeiten herausarbeiten, die zu dieser Annahme führen konnten, aber auch die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen aufzeigen. Jungs gedankliche Nähe zu Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben setzt ihn Nietzsches Kritik der Willensmetaphysik aus und bringt seine Libidotheorie in eine nahezu antagonistische ­Position zu Nietzsches Willen zur Macht. Anschließend wird Jungs schwer zu fassendes Konzept der psychischen Realität mit Nietzsches Auffassung der Welt als Schein – wie er sie aus seiner Kritik an der Annahme eines Dinges an sich entwickelt hat – ins Gespräch geführt. Nietzsches Thematisierung des Gegensatzes von Heraklit und Parmenides soll dabei helfen, das zwischen Geistes- und Naturwissenschaften oszillierende Selbstverständnis Jungs hinsichtlich seiner Auffassung von empirischer Realität zu begreifen. Insofern ich mich auf das Verhältnis von Nietzsche und Jung konzentriere, wird die historische Entwicklung dieser Dichotomie zwischen den Geisteswissenschaften, deren Gegenstand sich für Helmholtz «wesentlich aus psychologischer Grundlage


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Einleitung

entwickelt», und den Naturwissenschaften nur am Rande gestreift.16 Schließlich werden die beiden Pole von Jungs psychologischem Modell, der platonische und der naturwissenschaftliche, jener Kritik Nietzsches, wie sie aus dem Umkreis seiner Überlegungen zum Willen zur Macht entstanden ist, unterzogen: einerseits kommt hier Nietzsches Argumentation gegen das Ding an sich und den Willen zum Leben, andererseits seine Ausführung zum Willen zur Wahrheit zum Tragen. Dabei werden auch Fragen zur Bedeutung der Machtphilosophie im Rahmen postjungianischer Konzeptionen berührt. Im abschließenden Kapitel stelle ich einige Überlegungen dazu an, ob Nietzsches Umwertung aller Werte, die im Jahr 1888 als Projekt den Willen zur Macht ersetzt hat, geeignet ist, eine Brücke zur Analytischen Psychologie zu schlagen. Das Versehen von philosophischen Begriffen mit psychologischer Bedeutung stellt doch letztlich einen Versuch der Umwertung dar. Und nicht nur das, scheint es doch fast so, als sei die Individuation im Kern der Jung’schen Psychologie verwandt mit Nietzsches Verständnis einer Umwertung aller Werte. Die Absicht dieses Buches ist es, das Denken Nietzsches und Jungs in ein Gespräch zu bringen. Dabei sollen beide Seiten ausgewogen zu Wort kommen, indem jedes Modell anhand kritischer Argumente des Gesprächspartners überprüft wird. Keinesfalls stelle ich dabei den Anspruch auf systematische Vollständigkeit, sondern erhoffe mir vielmehr, dass sich der Leser selbst in das Gespräch einbringt.

16 H. von Helmholtz: Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Gesamtheit der Wissenschaft [1862]. In: ders.: Vorträge und Reden. Bd. 1 (Braunschweig 1896) 163.


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