Mythos, Traum und Imagination

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Die Autorin: Christiane Haid, geb. 1965, studierte Germanistik, Geschichte, E ­ rziehungswissenschaften, Kunstgeschichte und Kunst in Freiburg i.Br. und Hamburg. Sie war 1993–2001 Wissen­ schaftliche Mitarbeiterin am Friedrich von Hardenberg-Institut für Kulturwissenschaften in Heidelberg, 2001–2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sektion für Schöne Wissen­ schaften am Goetheanum Dornach/Schweiz und 2006–2009 als Kulturwissenschaftlerin in der Albert Steffen Stiftung, Dornach tätig. Seit 2009 leitet sie den Verlag am Goetheanum in Dornach.

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Mythos, Traum und Imagination

Christiane Haid

Albert Steffen (1884–1963) gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Robert Walser zu den wichtigsten Schweizer Nachwuchsschriftstellern. 1945 ist im Schwabe Verlag in der Sammlung Klosterberg zum 60. Geburtstag des Dichters eine Gedichtsammlung Steffens erschienen, herausgegeben und eingeleitet von Walter Muschg. Heute ist Steffens Werk von der Literaturwissenschaft nahezu unbeachtet. In der einleitenden Rezeptionsgeschichte stellt die Autorin die Ursachen der Anerkennung des Frühwerks dar bis zur gescheiterten Verleihung des Schillerpreises und zur späten Rezeption. Dies bildet den Hintergrund der im Zentrum stehenden Analyse der 1923 erschienenen Kleinen Mythen, einer Kurzprosa die zu Steffens originärsten Schöpfungen gehört. Dieses Werk bildet den Übergang in ein experimentelles und hermetisches Schreiben, dem die literarische Kritik nicht mehr folgen konnte. Steffens Kleinen Mythen beziehen den Traum, das Jenseits und die Verstorbenen als Wirklichkeit mit ein. Während der alte Mythos die Welt der Götter als selbstverständliche Offenbarung voraussetzt, erzählt Steffen einen neuen, eben den ‹Kleinen Mythos›, der sich von der Erde aus über die Grenzen des Irdischen hinweg auf ein Himmlisches zu bewegt. Kleinen Mythen sind jedoch keine theoretischen, hypothetischen Phantasien über die andere Seite der Wirklichkeit. Sie gehen von der Erfahrung des individuellen Lebens aus, das als eine Auseinandersetzung des Ich mit ver­schiedenen Grenzerfahrungen erzählt wird. Steffens Mythosverständnis wird mit den wichtigsten Mythostheorien in Verbindung gebracht und liefert die inhaltlichen Gesichtspunkte für die Analyse. Die semantische und narrative Struktur der Texte wird mit Hilfe strukturalistischer Analyseverfahren freige­legt. Exkurse in angrenzende Themen des Werkes sowie in Theologie, Anthroposophie, Mythologie bis hin zu hermetischen Traditionen der Astrologie und Zahlensymbolik erläutern die Kontexte.

Christiane Haid

Mythos, Traum und Imagination Die Kleinen Mythen Albert Steffens



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Mythos, Traum und Imagination Die Kleinen Mythen Albert Steffens

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Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Geisteswissenschaften, Fachbereiche Sprache, Literatur, Medien & Europäische Sprachen und Literaturen der Universität Hamburg im Wintersemester 2010/2011 auf Antrag von Prof. Dr. Heinz Hillmann und Prof. Dr. Jörg Schönert als Dissertation angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: einigen Privatpersonen des Forschungsfonds der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland der Stiftung Zürcher Kerzenziehen der Friedrich Hiebel-Stiftung

© 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel © für sämtliche zitierten Stellen aus dem Werk und den Tagebüchern Albert Steffens bei Albert Steffen-Stiftung, Dornach, Schweiz Umschlaggestaltung von Philipp Tok, unter Verwendung des Covers der Erstausgabe von Albert Steffen «Kleine Mythen», die 1923 im Verlag Seldwyla, Zürich erschien Satz: Höpcke, Hamburg Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2796-8 www.schwabe.ch


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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   11 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   12

Teil A I.  Die Rezeption von Albert Steffens Werk und Aspekte seines dichterischen     Selbstverständnisses als Ausgangspunkt der Untersuchung . . . . . . . . . .   15 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   15 Die Rezeption Steffens in Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung . . . . 828 Steffen in aktuellen Literaturgeschichten und Lexikonartikeln . . . . . . . . . . . . 028 Steffens Werk im Spiegel der Literaturkritik seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 039 Hermann Hesses Blick auf Steffens Frühwerk als Beispiel einer differenzierten Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 042 Eduard Korrodi und Albert Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 045 Der verweigerte Schillerpreis der Stadt Bern – Zur Verquickung von Literatur und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 056

II.  Zur literarischen Einordnung und Selbstverortung des Dichters . . . . . . 059 „Seine Feder ist eine der wenigen ganz verantwortlichen und reinen …“ – Steffens Begegnung mit Rilke und seine literarische Annäherung an Rilke . . . . 059 Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   66 Zur inneren Orientierung Albert Steffens   „Ihnen ist vieles schon sicher und gestillt“ – Albert Steffen und sein Verhältnis   zum Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 066

Albert Steffen und Rudolf Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 074

Teil B III.  Theoretische und methodologische Voraussetzungen der Textanalyse . . 081 Zum Mythosbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 081 Einführung: Albert Steffens „Kleine Mythen“ – ein Vorverweis auf stilistische und traditionelle Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 081 Mythos – ein vielschichtiges Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 084 Kurt Hübners „Die Wahrheit des Mythos“ als Deutungsmuster für Albert Steffens Kleine Mythen – Die wichtigsten Mythostheorien und ihr Verhältnis zu Albert Steffens Mythenschaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 087 Umriss der Mythostheorie Kurt Hübners – Die Wahrheit des Mythos . . . . . . . . . 99


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Methodisches zur Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Analysegesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Zu den Analysegesichtspunkten der Sammlung „Kleine Mythen“ . . . . . . . . . . . 104

Teil C:  Textanalysen IV.  Der Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die Raumkomposition als Landkarte der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Der „Raum“ Wald als Lebensgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Der Raum „Wald“ als symbolischer Hintergrund der Handlung . . . . . . . . . . . 113 Der Handlungsort als Vorschau auf das Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Oppositionen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Figurationen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kosmos der Figuren – eine kleine Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Der Onkel – Herrscher über eine „kleine“ Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Ein Wissen aus unbekannten Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Herr über Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Die Korberfamilie und der Neffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dominante Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der schwache Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erhängte im Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Kindheits- und Jugendmythen – Exkurs über Themengruppen  in der Sammlung Kleine Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das Eichhörnchen und die Begegnung mit der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Wunsch, Jäger zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Begegnung – Blick – Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Die „als ob“-Metapher als mythisierendes Verfahren –  Zum poetischen Verfahren I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Moralische Grenzen und ihre Überschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Abwendung von der Welt des Onkels – der Ich-Erzähler und seine neue Ethik . . . . 133 Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Natur und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Sinnliche Wahrnehmung, seelische Wirkung und Überhöhung –   Zum poetischen Verfahren der Farbennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138


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Der Mönch im Steineichenhain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Naturreligion und institutionalisierte Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Individuelle Religiosität und kollektive Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Die Gärtnerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problematische Paarkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Apfel der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus Tod wird Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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In Beziehung stehen – die Ich-Figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Das Ich und seine Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Der Tod als Grenzerfahrung und Aufwachmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Leben mit den Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Der Tod im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Transzendierende Figurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Vision und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Christus oder vom Ideal des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Stufen der Entwicklung des Ich-Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Übergang – Zum thematischen Aufbau des Buches Kleine Mythen Kurze Skizzen zu weiteren Mythentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kleine Mythen – ein Kaleidoskop des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Seelsorgerrausch – Skizze einer Berufsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Eine Kellnerin aus guter Familie – Vom Einbruch des Unerklärlichen . . . . . . . . 160

V.  Tierkreisbilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Die Figuration als Schlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vater und Mutter als Polaritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sohn als Erzähler und Hauptakteur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leerstellen – was nicht erzählt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ungleichen Geschwister – Euryanthe und der Ich-Erzähler . . . . . . . . . . . .

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Verwandlungen I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Vorbemerkung – notwendige Erweiterungen des bisherigen analytischen Instruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Euryanthe und der Ich-Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Zum Raumkonzept – Mythische Räume, Traumzeit und Realitätsentrückung . . . . . . . . . . . . . . . . 181


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inhaltsverzeichnis

Verwandlungen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Ein Motiv im Märchen, im Mythos und in der Literatur –   Exkurs zu intertextuellen Horizonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   186 Auf der Suche nach der Schwester – Ein nicht fassbares Gegenüber . . . . . . . . . . 187 Eine Figur mit wechselnden Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Die Schwester – vertraut und fremd zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ein Traum als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Wie aus dem Traum ein Mythos wird – Exkurs zum poetischen Verfahren I . . . 197 Die Entstehung der Kleinen Mythen – Exkurs zum poetischen Verfahren II –   Zu Steffens Umgang mit Steiners Meditationshinweisen . . . . . . . . . . . . 199 Die Bilder der unbekannten Frau – zur Symbolik der Bilder des   Tierkreisbilderbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Die Evangelistensymbole – Verbindungen zur theologischen Tradition –   Exkurs Wissenshorizonte I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Das Kreuz des Tierkreises – Verbindungen zur astrologischen Tradition –   Exkurs Wissenshorizonte II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Traum und Tradition – Exkurs zum poetischen Verfahren III –   die Implikation der Tradition in den literarischen Text(-traum) . . . . . . . . 208 Die Zahlen des Tierkreisbilderbuchs – Verbindungen zur Zahlensymbolik –   Exkurs Wissenshorizonte III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Der Ich-Erzähler und sein Verhältnis zur Bilderwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Der Schüler und die Meisterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Vom Erwachen in der Realität – oder die misslungene Initiation . . . . . . . . . . . 214

VI.  Die Totenmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 An des Weges Scheide und Begräbnisfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0217 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vierergruppe der Totenmythen über einen Freund . . . . . . . . . . . . . . . . Im Laboratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung an einen Frühgestorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Diener des Vulkan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217 217 218 219 221 224

An des Weges Scheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0225 Raum: Raumkonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226


inhaltsverzeichnis

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Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Exkurs zum poetischen Verfahren des Benennungswechsels vom Fluss zum Strom – Der Grenzraum als Übergang von einer Realitätsebene in die andere 228 Zwei Welten und ein Grenzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Irdische Welt, Schattenreich und himmlische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Griechische Unterwelt und christlicher Himmel – Exkurs zum   mythischen Kontext der poetischen Verfahrensweise der Mythosrezeption . . 232 Der Weg des Verstorbenen nach dem Tod aus der Perspektive   der Anthroposophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Der mythische Charakter – Erde und Himmel berühren sich . . . . . . . . . . . . . 237 Figuration: Drei Daseinsformen: Lebende, Schatten und Verstorbene . . . . . . . . . . . . . . . 239

Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Die Bilder, die sein Geist in mein Traumleben goss …“ – Kurt Wernly,   der Freund und Gefährte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Briefe – Dokumente einer innigen Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Träume – Botschaften des Freundes aus dem Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schriftsteller als Chronist realen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wirklichkeitsstatus: Vom Ineinandergreifen verschiedener Wirklichkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . 250 Zeit: Erzählformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Begräbnisfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0251

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Begräbnisfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Einführung: Erzählung als fesselndes Geschehen ohne Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Raum: Erde und Himmel, zwei Räume und ein Grenzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Figuration: Aktive und passive Figurationen. Der Erzähler als Medium . . . . . . . . . . . . . . 256 Mythisch-Märchenhafte Figurationen als Mittel der Transzendierung . . . . . . . . 258 Zeit: Simultanität als Überwindung des linearen Zeitkontinuums . . . . . . . . . . . . . Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Riese als Christopherusgestalt – Exkurs zur mythologischen Tradition . . . . Bezüge zur Anthroposophie oder Aufarbeitung des Vorwurfs der   Allegorisierung Steiners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258 259 259 261


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inhaltsverzeichnis

Mythenvarianten Mythenvarianten – Vergleich mit der Mythe „Selbstbiographie eines Toten“ . . . . . 263 Der Riese als Sinnbild des Übergangs – Bezüge zu Goethes Märchen . . . . . . . . . 265 Der Riese in Goethes Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Der Riese als Sinnbild der Generationenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

VII.  Botschaft der Frau mit der Brosche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Ort und die Botschaft – Das Raumkonzept als Schlüssel der Erzählung . . . . 0270 Das Haus des Gottesdieners als Ausgangspunkt und Endziel . . . . . . . . . . . . . 270 Das Haus des Dienstherrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Finden und Verlieren der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Brücke und Tor als Grenzräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Eine Reise durch vergangene Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Gotische Dome – Selbstverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Griechische Tempel – Selbstverhärtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Die Pyramide als Grab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Überwindung einer weiteren Grenze – Ankunft in der Stadt . . . . . . . . . . . . . 282 Zufluchtsort Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Die drei Arbeiten – der Landbau und seine Früchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Ende und Anfang begegnen sich in einem Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Der Raum im Raum – das Bild als Tor in eine andere Welt . . . . . . . . . . . . . . 287 Vom Kleinen Mythos zur Religion des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Stufen der Einweihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Mythisierungen in Kunst und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Der Ort des Dichters – Tagebuchschreiben als imaginative Arbeit   am Schicksal und an sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Vergleiche zwischen den Träumen und der Kleinen Mythe „Botschaft der Frau mit der Brosche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Teil D VIII.  Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Mythos – Traum und Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313


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Vorwort

Der Name Albert Steffen ist heute aus den gängigen Literaturlexika und der expressionistischen Literatur weitgehend verschwunden. Er ist daher ein in der Literaturwissenschaft kaum noch bekannter Dichter. Außer einer 1961 erschienenen Werkmonographie des Germanisten Friedrich Hiebel und zwei älteren Dissertationen sowie einer neueren Arbeit, die Steffen und Goethe vergleicht, sind bisher keine Arbeiten erschienen, die dieses Werk literaturgeschichtlich oder ikonographisch erschließen oder zugänglich machen. Diese Tatsache hat die vorliegende Arbeit maßgeblich bestimmt, denn es konnte für die Textanalysen auf keinerlei literaturwissenschaftliche Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Dasselbe gilt für die literaturgeschichtliche Einordnung Steffens, die nicht ganz leicht vorzunehmen ist, da sich sein Schaffen über einen Zeitraum von 1907 bis 1963 erstreckt und er daher auch keiner bestimmten Schreibweise eindeutig zugeordnet werden kann. Zudem wandelte sich das Werk auch im Laufe der Jahre und weist daher Affinitäten zu mehreren Literaturprogrammen der literarischen Moderne auf. Für meine Untersuchungen habe ich mich auf zwei Zugänge konzentriert: Am Anfang steht eine ausführlichere Rezeptionsgeschichte, um Steffens Bedeutung in seiner Zeit aufzuarbeiten. Dabei habe ich den Schwerpunkt der Betrachtung von der ersten Publikation bis in die 1930er Jahre gelegt, da eine Rezeptionsgeschichte des gesamten Werkes den gesetzten Rahmen gesprengt hätte. Ein ausführlicher Blick auf die frühe Rezeption ist zum einen für die Einschätzung von Steffens Bedeutung innerhalb der Literaturgeschichte relevant, zum anderen ergeben sich daraus auch die Ursachen der zurückgehenden Rezeption des Werkes und die Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen, die dieses Werk selbst stellt. Den zweiten, umfassenderen Teil der Arbeit machen die Textanalysen aus dem 1923 erschienenen Werk Kleine Mythen aus, das zu den originellsten und eigenständigsten Schöpfungen Steffens gehört, das aber damals kaum verstanden wurde. Ich habe mich auf diese eine frühe Arbeit des insgesamt 80 Bände umfassenden Werkes beschränkt, da es erst einmal darum ging, eine methodisch sinnvolle Zugangsweise zu der teilweise hermetischen Schreibweise zu eröffnen und die Verfahrensweisen sowie die Symbolik des Dichters transparent zu machen. Dabei waren die von Heinz Hillmann ausgearbeiteten textanalytischen Verfahren ein hervorragendes Instrument, das es möglich machte, auch zunächst scheinbar ganz unverständliche Texte doch noch aufzuschlüsseln. Die Verbindung Steffens zu Rudolf Steiner bestand nicht darin, dass er, wie oftmals behauptet wurde, Inhalte der Anthroposophie literarisch allegorisiert hätte, sondern er ließ sich vielmehr von Steiners Meditationstechnik anregen. Steffen verfolgt einen betont spirituellen Ansatz, den er in seinen Dichtungen auch vermitteln will. Sein Werk ist vor allem heute interessant, weil es Kunst und Spiritualität in einer eigenständigen Weise miteinander verbindet, eine ganzheitliche Weltsicht vermittelt.


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Danksagung

Während der Entstehung dieser Arbeit haben mich viele Menschen, sei es aus der Nähe oder aus der Ferne, begleitet und gefördert. Ihr Interesse, auch als Hörer von manchem Vortrag, hat mich bereichert und weitergebracht und mit dazu beigetragen, diesen nicht ganz leichten Stoff Stück für Stück zu erschließen. Für die inspirierende, fördernde und lehrreiche Betreuung sowie die Ermutigung, ein literaturwissenschaftlich noch nicht erschlossenes Gebiet zu betreten, möchte ich Heinz Hillmann herzlich danken. Jörg Schönert danke ich für die Übernahme des zweiten Gutachtens und seine hilfreichen Hinweise. Mein Dank gilt auch den anregenden Gesprächen mit Inge Hillmann, Reinhart Moritzen, Anna Kartini und Michael Kurtz. Heinz und Angela Matile (†) verdanke ich wichtige Hinweise zur Biographie und zum Werk Albert Steffens. Für das umfassend aufgearbeitete und kompetent bereitgestellte Material zum Gesamtwerk von Albert Steffen, ohne das die vorliegende Arbeit so nicht möglich gewesen wäre, sowie die Förderung der Arbeit möchte ich der Albert SteffenStiftung, Heinz Matile, Angela Matile (†), Ursula Kehlert, Andreas Meister, Martin van Ledden und Peter Ries ganz herzlich danken. Für die Korrektur des Manuskripts danke ich Inge Hillmann und Claus Jahncke. Die Fertigstellung des Manuskriptes besorgte Uwe Höpcke kompetent und umsichtig, wofür ich ebenfalls herzlich danke. Ohne die großzügigen Spenden von Freunden des Werkes von Albert Steffen, der Stiftung Zürcher Kerzenziehen, dem Forschungsfonds der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland und der Friedrich Hiebel-Stiftung wäre die Publikation dieser Arbeit nicht möglich gewesen, dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Dass das Buch beim Basler Schwabe Verlag in der Schweiz erscheinen kann, sehe ich als eine besonders schöne Fügung an, denn dort ist vor 66 Jahren in der Sammlung Klosterberg, von Walter Muschg herausgegeben, eine Gedichtsammlung Steffens publiziert worden, verbunden mit einer bedeutenden Würdigung, auf die ich noch eingehen werde. Dornach, im August 2011 Christiane Haid


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Teil A

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I. Die Rezeption von Albert Steffens Werk und Aspekte seines dichterischen Selbstverständnisses als Ausgangspunkt der Untersuchung

Einführung Eine Dissertation über das Werk eines Dichters zu schreiben, dessen Name gegenwärtig in der Literaturwissenschaft so gut wie nicht bekannt ist und den man in Literaturlexika1 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wenn überhaupt nur als einen „anthroposophischen“ Autor, was immer das auch heißen mag2, findet, bedarf einer ausführlicheren Begründung. Der kaum vorhandenen späteren Rezeption und mangelnden Erwähnung steht gegenüber, dass Steffens Werke zu seinen Lebzeiten in der Literaturkritik, vor allem bis 1921, recht häufig3 und sehr kontrovers besprochen wurden. Eine umfassende Rezeptionsgeschichte, für die das Material durchaus bereitliegt, würde freilich eine eigene Arbeit bedeuten. Ich kann hier einleitend nur an einigen markanten Beispielen und auffälligen Aspekten skizzieren, deren kritische Überprüfung die nachfolgende Textanalyse ermöglichen wird. Bei einer Durchsicht der literarischen Rezensionen und der sehr spärlichen und weit zurückliegenden literaturwissenschaftlichen Behandlungen wird auch deutlich, warum es notwendig ist, eine textnahe Untersuchung an einer

1 In Kindlers Literaturlexikon findet sich beispielsweise kein Eintrag zu Albert Steffen. 2 Die Durchsicht vieler Lexika, wie beispielsweise das Literatur Lexikon – Autoren und Werke in deutscher Sprache, herausgegeben von Walther Killy, oder das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Kurt Böttcher, zeigt, dass dieser Begriff, ohne in irgendeiner Weise transparent gemacht oder durch Beispiele belegt zu werden, als Werturteil dient und somit zu einem stillschweigenden Ausschluss des Autors aus dem Bereich ernstzunehmender Literatur führt. Insofern mag es erstaunen, dass Albert Steffen, dessen Werk in manchen Abschnitten durchaus auch expressionistische Schreibweisen aufweist, in dem umfangreichen Werk Autoren und Bücher des Literarischen Expressionismus von Paul Raabe nicht einmal erwähnt ist. 3 Regelmäßige Rezensionen, bis in die letzten Lebensjahre, wurden in der Neuen Zürcher Zeitung, in Der Bund, der wichtigsten Tageszeitung Berns, der Basler Nationalzeitung und in verschiedenen deutschen, österreichischen, französischen und niederländischen Zeitungen abgedruckt. Darüber hinaus finden sich zudem Besprechungen in verschiedenen literarischen Blättern und Kulturzeitschriften, wie Polis, Wissen und Leben, Pro Helvetia, Das Literarische Echo u. a. Im Archiv der Albert Steffen-Stiftung sind bis 1921 zu jeder Neuerscheinung rund 10 –15 Rezensionen, und später etwas weniger, insgesamt rund 1000 Rezensionen, gesammelt worden.


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begrenzten, aber exemplarischen Sammlung durchzuführen, wie ich sie mit den Kleinen Mythen 4 plane. Ein Blick auf die zeitgenössischen Rezensionen von Steffens Werken zeigt ein vielschichtiges und teilweise auch spannungsvolles Bild, in das verschiedene, auch außerhalb des rein Literarischen liegende Implikationen hineinspielen, im Besonderen die Folgen von Steffens öffentlichem Eintreten für Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Für sein Ansehen innerhalb der literarischen Öffentlichkeit hatte das nachhaltige negative, man könnte sogar sagen, katastrophale Konsequenzen. Man darf annehmen, dass das eine gewisse Isolation des Dichters bewirkt hat, einen Rückzug aus der literarischen Entwicklungsströmung im späteren Werk – auch wenn sich das Werk sonst weiter und sogar intensiver mit politisch-gesellschaftlichen Prozessen wie etwa dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Von 1907 bis 1920 publizierte Steffen acht Werke5, Romane, Novellen und Dramen, bei S. Fischer in Berlin, einem Verlag, den man als den Publikationsort der damaligen literarischen Avantgarde schlechthin bezeichnen kann, in dem u. a. Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Hesse veröffentlichten. Steffen wurde zu dieser Zeit in verschiedenen Besprechungen in einem Atemzug mit Robert Walser als hoffnungsvoller schweizerischer Jungautor genannt. Heinz Matile6 erwähnte in einem Vortrag andererseits, dass Samuel Fischer Anfang der 1920er Jahre geäußert habe, er wisse nicht, was er mit einem Sektendichter solle. Während des Ersten Weltkriegs – Steffen lebte damals in München – gewannen seine

4 Steffen, Albert: Kleine Mythen, 1. Auflage im Verlag Seldwyla, Zürich 1923, 2. Auflage (3. – 5. Tsd.) Verlag Grethlein, Zürich und Leipzig o. J. (1925); weitere Auflagen im Verlag für Schöne Wissenschaften, Dornach 1953, 1961, 1983. 5 Ich führe hier einmal als Beleg die bei Fischer erschienenen und bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs verkauften verschiedenen Titel und Auflagen auf: 1. Ott, Alois und Werelsche, 1. und 2. Auflage S. Fischer, Berlin 1907; 3. – 7. Auflage, Dornach 1929; 4. Auflage, Dornach 1987. 2. Die Heilige mit dem Fische. Sieben Novellen, 1. – 3. Auflage, Berlin 1909; 4. und 5. Auflage, Berlin 1926. 3. Die Bestimmung der Rohheit, 1. Auflage 1912, 2. – 3. Auflage 1925, beide S. Fischer, Berlin; 4. Auflage (wurde im Krieg vernichtet), Dornach 1940; 5. Auflage 1945; 6. Auflage, Engelberg 1948; 7. Auflage, Dornach 1985. 4. Die Erneuerung des Bundes, 1. Auflage, Berlin 1913; 2. und 3. Auflage, Berlin 1925; 4. Auflage, Dornach 1950. 5. Der rechte Liebhaber des Schicksals, 1. Auflage, Berlin 1916; 4. – 5. Auflage, Berlin 1928; 5. Auflage, Dornach o. J. (1955). 6. Sibylla Mariana, 1. – 10. Tsd., Berlin 1917; 11. – 15. Tsd., Berlin 1918; 16. und 17. Tsd., Berlin 1929; 4. Auflage (18. – 19. Tsd.), Dornach 1955. 7. Der Auszug aus Ägypten / Die Manichäer, Berlin 1916; 2. Auflage, Dornach 1930, 1965. 6 Matile, H. (Leiter der Albert Steffen-Stiftung), Vortrag anlässlich der Tagung zu Albert Steffens 125. Geburtstag am 11. Dezember 2009, in Dornach, Schweiz.


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Werke vor allem für die Schweiz eine herausragende Bedeutung, denn er vermittelte als ein im Ausland lebender Schweizer sein Erleben des Krieges in einer besonderen Art und Weise, was vor allem in dem auflagenstärksten, 1917 veröffentlichten Roman „Sibylla Mariana“7 zum Ausdruck kam. Walter Muschg fasste dies einmal so zusammen: „Die Romane, Novellen und Dramen, mit denen er uns damals beglückte, sind wohl [… C. H.] die Bücher [gewesen C. H.], in denen die Erlebnisse des ersten Weltkriegs bei uns in der Schweiz ihren reinsten Ausdruck fanden. Steffen war unser friedlicher Kriegsdichter und unser ungewollter Expressionist.“8 Muschg bezeichnet Steffens Schreibweise hier ausdrücklich als expressionistisch und fügt interessanterweise hinzu, dass diese Zuordnung von Steffen allerdings nicht unbedingt gewollt sei, denn dieser siedelte sich weltanschaulich anders als die Expressionisten an, wie wir noch sehen werden. In den zwanziger bis vierziger Jahren wurden dann in einer, man könnte sagen, zweiten Phase einige seiner Theaterstücke an verschiedenen Schweizer Bühnen aufgeführt. Dazu heißt es beispielsweise in dem im Jahr 2000 erschienenen Sammelband Schweizertheater über den Dramatiker Steffen: „Doch Steffens Erfolg auf schweizerischen Bühnen der Dreißiger- und Vierzigerjahre, sein dramatisches Können und seine – wenn auch anthroposophisch vergeistigte – Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen fordern dringend eine Annäherung an diese außergewöhnliche Persönlichkeit.“9 Hier fällt die merkwürdig ambivalente Formulierung innerhalb der beiden Gedankenstriche auf, denn trotz des positiven Endes handelt es sich um einen konzessiven Satz, der einerseits sozusagen als Einwand hervorhebt, dass die sogenannte „anthroposophisch vergeistigte“ Haltung Steffens ein kritisierbarer Faktor sein könnte, andererseits wird aber eine „Annäherung an diese außergewöhnliche Persönlichkeit“ gefordert. Gerade hier zeigt sich in der Hervorhebung des „anthroposophisch vergeistigten“ Habitus einer der wesentlichsten Topoi, die allerdings – obwohl unzählige Male verwendet – nie am Text selbst belegt oder auch nur erörtert, sondern nur in Form einer immer wiederkehrenden negativen Zuschreibung und eines Werturteils tradiert wurden. Die geforderte Annäherung an Steffens Werk ist bis auf wenige Ausnahmen10 aus verschiedenen Gründen bis heute nicht geleistet worden.

*   7 Steffen, Albert: Sibylla Mariana, Verlag für Schöne Wissenschaften, Dornach 1955.   8 Muschg, Walter: Albert Steffen, Ausgewählte Gedichte, Basel 1945, S. 11.   9 Käser-Leisibach, Ursula: Albert Steffen, in: Schweizertheater, Überblick über Drama und Bühne der Deutschschweiz bis Frisch und Dürrenmatt, 1930 – 1950, Zürich 2000, S. 415 – 428. 10 Ich nenne hier nur die Namen, da die Werke im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zitiert werden: Robert Faesi, Dieter Fringeli, Hermann Hesse, Friedrich Hiebel, Walter Muschg, Fritz Strich und Josef Viktor Widmann.


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Das literarische Schaffen Steffens umfasst insgesamt einen Zeitraum von 56 Jahren, der seinerseits wiederum in verschiedene Perioden unterteilt werden kann. Am folgenreichsten – im Hinblick auf seine Präsenz und Rezeption innerhalb der literarischen Welt vor und nach dem Ersten Weltkrieg – ist die zunächst nur innere und dann ab 1921 auch berufliche Verbindung mit Steiner und der Anthroposophischen Gesellschaft. Steffen übernahm ab 1921 zunehmend maßgebliche institutionelle Verantwortungen11, die er von sich aus nicht suchte, die sich aber aus den Notwendigkeiten und Zwängen einer immer größer werdenden Institution ergaben. Der Zeitraum bis 1921 – Steffen übernahm im August dieses Jahres die Redaktion der Kulturzeitschrift Das Goetheanum 12 – kann in einem gewissen Sinne auch als die erste Periode seines literarischen Schaffens betrachtet werden. Laut Dieter Fringeli hatte sich Steffen 1921 „durch sein Bekenntnis zu Rudolf Steiner [… C. H.] ins Abseits begeben. In literaturgeschichtlichen Darstellungen wurde der einst erfolgreiche Autor bestenfalls noch am Rande erwähnt. Die ,offizielle‘ Literaturkritik speiste den einst Gefeierten gleichsam von einem Tag zum andern nur noch mit mitleidigem Achselzucken ab.“13 Was der Rezensent ein „sich ins Abseits begeben“ nennt, müsste doch eher heißen, dass er ins Abseits gedrängt, mit den Jahren nicht mehr genannt und dann vergessen wurde. Daher wurde und wird auch sein späteres Werk gar nicht mehr erwähnt, und das schon zu Lebzeiten. In diesem Zusammenhang lässt eine Bemerkung von Walter Sedelnik, die in der 2007 erschienenen Schweizer Literaturgeschichte. Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert unter der Überschrift „Dichter im Abseits“ zu finden ist, aufmerken: „In ein freiwilliges Abseits begab sich der vielseitig talentierte Albert Steffen (1884 – 1963), der in Lyrik, Prosa, Drama und Essay gleichermaßen Vollwertiges geschaffen hat.“14 11 1921 Redaktion der Wochenzeitschrift „Das Goetheanum“, 1923 wurde er Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz, 1923 Leitung der Sektion für Schöne Wissenschaften der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft und Mitglied des Vorstands am Goetheanum und ab 1925 1. Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. 12 Das Goetheanum, Internationale Zeitschrift für Anthroposophie und Dreigliederung, erste Ausgabe 21. August 1921, erscheint bis heute wöchentlich, allerdings unter dem veränderten Titel Das Goetheanum, Wochenschrift für Anthroposophie. Steffen hatte die Redaktion von 1921 bis 1963 inne. 13 Fringeli, Dieter: Dichter im Abseits, Schweizer Autoren von Glauser bis Hohl, Zürich und München 1974, S. 59. 14 Pezold, Klaus, Hg.: Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 62.


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Offenbar ist hier der von Fringeli bereits in fragwürdiger Weise erwähnte Grund, dass das Bekenntnis zu Steiner Steffen ins Abseits geführt habe, nun zu einem „freiwillig“ gewählten Abseits geworden. Tatsächlich kann nicht davon die Rede sein, dass Steffen einen radikalen Wandel oder gar einen Bruch in seinem Werk vollzieht, vielmehr hat  er eine schon angelegte Linie weiter entwickelt. Diese Annahme beruht darauf, dass Steffen 1921 gleichsam vor einer Alternative gestanden habe, entweder seine Karriere innerhalb der Literatur fortzusetzen oder sich Steiner anzuschließen. Das war jedoch nicht der Fall. Dass die Nähe zur Anthroposophie und seine Tätigkeit als Redakteur überhaupt nachhaltige, überprüfbare ästhetische und thematische Folgen gehabt hat, dürfte nicht nur herausgestellt, sondern müsste im späteren Werk selbst untersucht werden – was natürlich eine genaue Analyse der Schreibweise der frühen Werke verlangt, wie sie hier geplant ist. Die Rezeptionsgeschichte zeigt deutlich, dass die Isolation Steffens eine Folgeerscheinung war, die sich wohl hauptsächlich aus allgemeinen Ressentiments gegen die Anthroposophie ergab, denn es ist ein auffälliges Charakteristikum, dass die Kritiker als Ursache ihrer Kritik immer die Anthroposophie anführen, also ein weltanschaulich gefärbtes Argument. Rein literarische Kriterien kommen dagegen kaum vor, was darauf hinweist, dass es sich zunehmend weniger um literarische Probleme handelte als mehr um Weltanschauungsfragen, die sich in ästhetischen Urteilen maskieren, wie das häufig in zu rein literarischen Werturteilen verpflichteten Rezensionen geschieht. Steffen selbst hat sich zwar aus Überzeugung für Steiner und die Anthroposophie eingesetzt, doch daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass er sich dadurch freiwillig ins Abseits begeben oder eine völlige Abkehr von seinen bisherigen literarischen Verfahren und weltanschaulichen Orientierungen vorgenommen habe, beruht auf einem Irrtum. In den Augen der Öffentlichkeit hat allerdings sicher eine Rolle gespielt, dass Steffen insbesondere in Essays, die im Goetheanum und in anderen Zeitschriften erschienen sind, für Rudolf Steiner und die Anthroposophie eintrat. Die zunehmende Isolation ist freilich nicht allein durch dieses Engagement zu erklären. Ein weiterer Faktor war, dass sich Steffens Art des Schreibens gerade mit dem Beginn der 20er Jahre in einer Weise änderte, die die literarische Kritik irritierte, wenn nicht sogar verstörte. Sein Stil wurde teilweise als ein Weg ins Abstrakte, Leblose, Allegorische und Symbolische erlebt. Diese Veränderungen wurden jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, wie beispielsweise bei Walter Muschg und Friedrich Hiebel, damals nie mit Merkmalen des Symbolismus oder literarischen Expressionismus in Zusammenhang gebracht – denen Schreibweise und Denkrichtung ähneln. Sie werden stattdessen beinahe durchgehend, immer ohne Begründung15, wie es der prominente Schweizer Literaturkritiker Eduard Korrodi einmal geradezu überspitzt formulierte, als eine 15 Weshalb eine analytische Untersuchung unerlässlich ist und schon lange ein Desiderat darstellt.


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kapitel i „Urkunde der dichterischen Bewirkungen der Anthroposophie“16

festgelegt und missverstanden. Mit dieser literaturhistorisch nur wertenden statt erklärenden Zuordnung hat man dem Dichter folglich eine eigenständige schöpferische Leistung aberkannt und ihn als Apologeten abgetan. Interessant in diesem Zusammenhang ist dagegen das Urteil Rudolf Steiners, der in einer Rezension über Steffens Drama Das Viergetier 17 1925 eine Überlegung vornimmt, die nicht nur für dieses Drama gilt, sondern als eine generelle Einschätzung von Steffens Œuvre und Denkhaltung gesehen werden kann: „Dass dieser Dichtergeist [Albert Steffen C. H.] mit den Personen seines Dramas in den rechten Augenblicken in eine Geistwelt aufsteigt, dazu braucht er der Anlehnung an eine Theorie nicht. Er braucht den Weg in die geistige Welt von der Anthroposophie nicht zu lernen. Aber Anthroposophie kann von ihm eine lebendige, im Seelenleben veranlagte ,Pilgerfahrt‘18 nach der Geist-Welt kennenlernen.“19 Es ist interessant, dass Steiner der Dichtung eine eigene Erkenntnisweise und Wahrheitsfindung zuerkennt – und nicht nur Religion, Wissenschaft oder Philosophie –, eine spätestens seit Hegel und Nietzsche verbreitete Auffassung. Steiner schätzte an Steffen gerade den ganz eigenständigen Zugang zu einer anderen Wirklichkeitssphäre und hob ihn in seiner Eigenart hervor, hatte er doch nur sehr wenige Mitarbeiter, die in dieser Weise selbständig waren. Es ist daher nicht erstaunlich, dass im letzten Satz des Zitats, ganz anders als viele Literaturkritiker annahmen, die Rede davon ist, dass die „Anthroposophie“ etwas von Steffen lernen könne.20 Zur Vollständigkeit des Bildes im Hinblick auf die Einschätzungen der damaligen Literaturkritik gehört allerdings dazu, dass keiner derselben über eine so weitreichende Kenntnis der Anthroposophie verfügte, dass er beurteilen konnte, inwiefern diese tatsächlich im Schaffen Steffens zum Ausdruck21 kam oder auch nicht. Für manche war 16 17 18 19

Korrodi, Eduard: Albert Steffens Gedichte, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. November 1921. Steffen, Albert: Das Viergetier, Verlag Grethlein, Zürich 1925. Bezieht sich auf Steffens 1925 in Zürich erschienenes Werk Pilgerfahrt zum Lebensbaum. Steiner, Rudolf: Der Goetheanumgedanke. Gesammelte Aufsätze von 1921 – 25, Dornach 1961, S. 210. 20 In Kapitel II, Abschnitt Albert Steffen und Rudolf Steiner werde ich noch Näheres dazu ausführen. 21 Hier muss allerdings zwischen dem Essaywerk und dem dichterischen Werk Steffens unterschieden werden. Denn in seinem Essaywerk, das größtenteils eine Zusammenstellung seiner Aufsätze aus der Zeitschrift Das Goetheanum ausmacht, setzte er sich gerade das Ziel, die Anthroposophie darzustellen. Dem gegenüber steht das dichterische Werk, das er als sein ganz eigenes schöpferisches Gebiet betrachtete und in dem er sich gerade nicht als Vermittler einer Weltanschauung empfand. In der Literaturwissenschaft ist es


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