Karl Pestalozzi
Bergschluchten Die Schluss-Szene von Goethes Faust
Die Schluss-Szene von Goethes Faust ist seit jeher umstritten. Das Befremden über das Aufgebot von Heiligen, Engeln, Büsserinnen, Seligen Knaben und sogar der Maria durchzieht die Wirkungsgeschichte, entsprechend zahlreich sind die Versuche, darin ein Grundkonzept der Tragödie zu erkennen. Auch der hier vorgelegten Neuinterpretation geht es darum, die innere Folgerichtigkeit der Szene herauszuarbeiten. Sie argumentiert ebenso originell wie nahe am Wortlaut und eröffnet dabei überraschende Zugänge zu dem vermeintlich bekannten Text. Gegen die in der massgeblichen Faust-Forschung herrschende Auffassung, Faust selbst bleibe in der Schluss-Szene stumm, wird die These vertreten, die rätselhafte Gestalt des Doctor Marianus sei der verwandelte Doctor Faust. So verstanden erweist sich das Ende von Faust II als Revision des tragischen Schlusses des ersten Teils. Stützen lässt sich diese Deutung durch Goethes 1827 entstandene Nachlese zu Aristoteles’ Poetik. Goethe versteht in diesem späten Aufsatz die aristotelische Katharsis philologisch gesehen eindeutig falsch, doch wird ihm eine entsprechende Reinigung und Versöhnung zum Konzept von Dramenschluss überhaupt. Die in diesem Sinne in Bergschluchten stattfindende Katharsis rührt gar an das patriarchalische Gottesbild.
Der Autor Karl Pestalozzi, geb. 1929 in St. Gallen, war von 1968–1999 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Basel, von 1990– 1992 deren Rektor. Er ist Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe von Friedrich Nietzsches Werken sowie Präsident der Stiftung für eine Historisch-Kritische Gottfried-Keller-Ausgabe (seit 1996). Studien zu Goethe, Schiller, Ulrich Bräker, Johann Kaspar Lavater, Gottfried Keller, Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Robert Walser und zur Geschichte der Germanistik.
Karl Pestalozzi
Bergschluchten Die Schluss-Szene von Goethes Faust Altes und Neues
Schwabe Verlag Basel
Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel
Schwabe reflexe 19 © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel Gesetzt aus der Quadraat Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-9-7965-2814-9 www.schwabe.ch
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Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Bergschluchten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Kapitel: Die Marianus-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Kapitel: Die Szene Bergschluchten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 Der Aufbau der Szenerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Die Wiederaufnahme der Handlung . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3 Doctor Marianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.4 Die Büsserinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.5 «Una poenitentium sonst Gretchen genannt» . . . . . . 71 2.6 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3. K apitel: Goethes Nachlese zu Aristoteles’ Poetik als Dramaturgie des Tragödienschlusses .. . . . . . . . . . . . . 82 3.1 Goethes Verständnis von Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Die Katharsis-Diskussion zwischen Goethe und Zelter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.3 Goethes Beispiele für sein Katharsis-Verständnis . . . 96 3.4 Georg Friedrich Händels Kantate Das Alexander-Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. K apitel: Der Faust-Schluss im Lichte von Goethes Nachlese zu Aristoteles’ Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.1 Aristoteles und das «moderne» Drama . . . . . . . . . . . . 108 4.2 Tragödienelemente in Bergschluchten . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3 Gerichtssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.4 Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Nachtrag: Goethe – ein Hypsistarier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Goethe-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Faust II, V. 11844–12111 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Nachlese zu Aristoteles’ Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfaden zu ferneren Beobachtungen? Dies ist es, was ich zu tun mir gegenwärtig vorsetze; und sollte ich auch nicht so glücklich sein, wie ich wünsche und hoffe, so werden doch meine Bemühungen andern Gelegenheit geben weiterzugehen; denn bei Beobachtungen sind selbst die Irrtümer nützlich, indem sie aufmerksam machen und dem Scharfsichtigen Gelegenheit geben sich zu üben. Goethe, Über den Granit (1784)
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Dank Dieses Buch verdankt sein Zustandekommen der «Silser Runde». Diese, eine Gruppe befreundeter Germanistinnen und Germanisten, die an Schweizer Universitäten tätig waren oder sind, trifft sich, auf Einladung von Bernhard Böschenstein (Universität Genf), seit 1971 Jahr für Jahr zu einem kleinen Kolloquium. Gastlicher Ort dieser Zusammenkunft war während Jahrzehnten die Villa Laret oberhalb Sils Maria, daher der Name. In den Spätsommern 2005 und 2006 stand Goethes Faust II auf dem Programm. Das regte mich an, noch vague Ansätze zur Deutung der rätselhaften Schluss-Szene des Faust, die ich früher in Basler Vorlesungen und Seminaren erprobt hatte, erneut aufzugreifen und stringenter zu begründen. Das positive Echo, das ich damit bei den Kolleginnen und Kollegen in Sils fand, motivierte mich, sie weiter zu verfolgen, gründlicher auszubauen und sie schliesslich, ebenfalls auf ihre Anregung, in Buchform öffentlich zur Diskussion zu stellen, wie das hiermit geschieht. Diese kontinuierliche Vertiefung meines Verständnisses des Faust-Schlusses hat meine liebe Frau, Dr. med. Julia PestalozziKerpel, über die Jahre hinweg neugierig und geduldig begleitet. Sie wurde nie, aber auch wirklich nie müde, sich meine oft etwas verwegenen Textdeutungen als erste kritisch anzuhören und weiterführend zu kommentieren. Wo dabei ihre Erfahrungen als Psychoanalytikerin mit einflossen, wird man beim Lesen unschwer erkennen. Eine erste Fassung des fertigen Manuskripts haben dankenswerterweise folgende Befreundete gegengelesen: Jörg Germann, Fanas; Gerhard Kaiser, Freiburg i.B.; Norbert Miller, Berlin; Marianne Schuller, Hamburg; Ulrich Stadler, Zürich/Basel; Martin Stern, Basel; Georgine von den Steinen, Basel. Luciano Zagari, Pisa, hat die Verwertung seiner wichtigen Anregungen leider nicht mehr erleben können. Dr. David Marc Hoffmann, der Leiter des Basler Schwabe-Verlages, war sogleich bereit, das kleine Buch im Rahmen von dessen neuer Reihe reflexe herauszubringen. Auch ging er bereitwillig auf den Vorschlag ein, die beiden zugrunde liegenden Quellentexte, die 11
Schluss-Szene des Faust und Goethes Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, mit abzudrucken, um beim Lesen die Überprüfung meiner Interpretationsvorschläge zu erleichtern; dem Deutschen Klassiker Verlag sei für die Abdruckerlaubnis bestens gedankt. Die ebenso sorgfältige wie unermüdliche Lektorierung durch Nana Badenberg vom Schwabe Verlag hat den Text von verbliebenen Schlacken gereinigt und ihm den letzten Schliff und zusätzlichen Glanz verliehen. Die intensive Zusammenarbeit mit ihr entsprach bester Verlagstradition; ich danke ihr herzlich dafür. Den heutzutage unerlässlichen Druckkostenzuschuss steuerte grosszügerweise die Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel bei. Allen, die das Zustandekommen dieses kleinen Buches angeregt, gefördert und an seiner endgültigen Gestalt mitgewirkt haben, sei auf das herzlichste gedankt. Möge es nun auch seine kritischen Leserinnen und Leser finden. Allschwil/Basel, im Frühjahr 2012
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Karl Pestalozzi
Bergschluchten
Abb. 1: Goethes Erwähnung des Doctor Marianus in einem Brief an Johann Friedrich August Göttling vom 18.12.1830 (Universitätsbibliothek Jena)
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Vorrede Goethe war lange Zeit unschlüssig, wie er den Zweiten Teil seines Faust abschliessen sollte. Je älter er wurde, umso dringender wurde jedoch diese Frage. Für ihn stand wohl von Anfang an fest, dass sein Faust nicht mehr wie derjenige im Volksbuch vom Doctor Faust vom Teufel geholt und in die Hölle fahren würde. Vom Sechsundsiebzigjährigen haben sich Entwürfe erhalten, die eine Gerichtsverhandlung im Himmel über Faust vorsehen; sie sind aber nicht weit gediehen. Auch ein «Epilog» ist aus dieser Zeit überliefert, der an den «Prolog» des Dramas anknüpfen sollte. Aber keiner dieser Ansätze führte zum Ziel, und die Sache blieb unfertig liegen. Der Abschluss des Faust wurde fünf Jahre später drängender, als der Einundachtzigjährige auf den plötzlichen Tod seines Sohnes August am 27. Oktober 1830 in Rom mit einem gesundheitlichen Zusammenbruch reagierte, der ihn an den Rand des Todes brachte. Er kam mit dem Leben davon, war sich aber bewusst, dass er nun alle seine Kräfte dafür einsetzen müsse, «das Haus zu bestellen» (an Zelter am 6. Dezember 1830), was vor allem auch den Abschluss seines «Hauptgeschäfts», wie er den Faust zu nennen pflegte, einschloss. Und tatsächlich brachte er innerhalb von zwei Wochen die letzte Szene Bergschluchten zustande, so dass er am 4. Januar 1831 Zelter nach Berlin melden konnte: «Der Fünfte [sc. Akt], bis zum Ende des Endes steht auch schon aufm Papier.» Nun fehlte nur noch der vierte Akt, der jedoch bald nachfolgte. Wie der Faust zu Ende ging, sollte die Welt erst nach Goethes Tod erfahren, wenn das Paket, in das er das Faust-Konvolut verschnürte und versiegelte, geöffnet würde. Die vorliegende Studie unternimmt erneut einen Versuch, der zahllose Vorgänger hat, die Abschluss-Szene von Goethes Faust, der Kürze halber durchwegs Bergschluchten genannt, zu verstehen. Sie verdankt sich dabei vor allem zwei unterschiedlichen Anstössen. Es hatte mich immer unbefriedigt gelassen, dass der Faust zu Ende gehen soll, ohne dass dessen Protagonist nochmals auftritt und zu Wort kommt, wie die traditionelle Faust-Forschung bis heute fast unisono behauptet. In einer höchst eindrücklichen Gesamtaufführung von Goethes Drama vor vielen Jahren im Goethea15
num Dornach begegnete mir erstmals der Versuch, das Problem so zu lösen, dass Doctor Marianus als der wiederverkörperte Faust auftrat. Das schien mir überzeugend, und Nachfragen bei Martina Maria Sam ergaben, dass diese szenische Lösung des Problems auf Rudolf Steiner selbst zurückging. Weitere Nachforschungen zeigten, dass Rudolf Steiner damit nicht allein stand, dass früher schon und auch nach ihm diese These vertreten worden war, ohne dass sich daraus jedoch eine kontinuierliche Deutungstradition ergeben, geschweige denn durchgesetzt hätte. So war es verlockend, der «Marianus-These», wie sie im Folgenden genannt wird, nä her nachzugehen, vor allem aber, in ihrem Licht eine konsequente Interpretation der Szene Bergschluchten zu versuchen. Das positive Echo, das ich damit fand, erst bei den befreundeten GermanistikKolleginnen und Kollegen der «Silser Runde», dann bei Vorträgen darüber in Basel, Pisa und Hamburg, liess den Plan aufkommen, meine Deutung des Faust-Schlusses im Lichte der Marianus-These der Faust-Forschung und allen an Faust Interessierten in Gestalt der nun vorliegenden Abhandlung zu unterbreiten. Wie bekannt, pflegte sich Goethe mit Äusserungen über seine gerade aktuellen Arbeitsvorhaben grösste Zurückhaltung aufzuerlegen. So weiss man kaum etwas darüber, welche inhaltlichen und dramaturgischen Überlegungen ihn bei der Schluss-Szene des Faust leiteten. Jost Schillemeit, seinerzeit in Zürich mein geschätzter Kommilitone, war der erste, der Goethes Intentionen bei der Weiterführung des Faust auf dem Umweg über den Aufsatz Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, der 1827 in Goethes Zeitschrift Über Kunst und Altertum erschienen war, näher zu kommen suchte. Allerdings beschränkte er sich dabei, offenbar aus entstehungsgeschichtlichen Gründen, darauf, einen Zusammenhang zwischen der Nachlese und der Elfenszene zu Beginn des Zweiten Teils des Faust herzustellen. Gleichwohl ist sein Aufsatz, auch wegen seiner chronologischen Klärungen, die wichtigste Vorarbeit dieses Teils der Untersuchung.1 Die Intensität jedoch, mit der Goethe in der Nachlese und im anschliessenden Briefgespräch darüber mit Zelter den aristotelischen Katharsis-Begriff diskutiert und illustriert, legt es meines Erachtens nahe, in der Nachlese vor allem Überlegungen zu einer Dramaturgie des Tragödienschlusses zu sehen. Diese betreffen zwar die Gattung im Allgemeinen, doch ist 16
anzunehmen, dass sich Goethe damit auch über den noch ausstehenden Abschluss seiner Faust-Tragödie klar zu werden suchte. Dass bisher noch nie versucht worden ist, diesem Zusammenhang genauer nachzugehen, hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass Goethes Verständnis der aristotelischen Katharsis vonseiten der Philologen als auf einer falschen Übersetzung beruhend durchwegs abgelehnt und deshalb bis heute nicht recht ernst genommen worden ist. Dabei weiss man nicht erst seit heute, dass gerade solche offensichtlich «falschen» Interpretationen «Fehlleistungen» sein können, die Zugänge zu den tieferen Intentionen eines Autors eröffnen. Das liess es verlockend erscheinen, auch und vor allem die Schluss-Szene des Faust damit in Verbindung zu bringen und sie im Lichte der Nachlese zu verstehen. Die Marianus-These und die Überlegungen zu Goethes Nachlese zu Aristoteles’ Poetik sind somit die Grundpfeiler des folgenden Deutungsversuchs der Szene Bergschluchten. Sie werden im ersten resp. im dritten und vierten Kapitel behandelt und rahmen damit die eigentliche Interpretation ein. Diese Abfolge spiegelt einerseits meinen eigenen Erkenntnisweg, andrerseits soll so der Eindruck vermieden werden, es bestehe ein eindeutiger, nicht nur hypothetischer Zusammenhang zwischen Goethes Aristoteles-Aufsatz und dem Faust-Schluss. Merkwürdigerweise ist mir erst in einer relativ späten Phase der Bemühungen um den Faust-Schluss bewusst geworden, dass ich damit auch an meine Habilitationsschrift Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik (1970) anknüpfte. Diese hätte eigentlich Elevatio heissen sollen, was das die Auswahl der Texte leitende Motiv des Aufschwungs und Aufstiegs hervorgehoben hätte und nicht die, leider selten verstandenen, Konsequenzen für die Lyrik-Theorie. In den darin untersuchten dichterischen Texten von Dante bis Stefan George geht es immer um einen Aufstieg oder Aufschwung in die Höhe als Bewegung eines Zu-Gott- resp. Zu-sich-selbst-Kommens des Einzelnen. Goethe war dabei übergangen worden. Es liegt auf der Hand, dass die Schluss-Szene des Faust in dieser auf Dante zurückzuführenden Motivtradition steht. Ja, sie ist wohl die spektakulärste szenische Darstellung eines Aufschwungs in der deutschen Literatur. Damit ist auch gesagt, dass sich Goethes Phantasie dabei im Rahmen ei17
ner festen Motivtradition weniger frei bewegen konnte als in den vorangegangenen Partien des Dramas. Sie wandelt dieses vorgegebene Motiv jedoch auf eine völlig eigene, ja eigenwillige Weise ab. Dieser im Detail nachzugehen, bedeutete somit auch eine Wiederbelebung des Interesses, das mich bei meinem mehr als vierzig Jahre zurückliegenden Gesellenstück geleitet hatte, und kam einem verstärkten Bedürfnis nach Kontinuität zupass. Sich um das genaue Verständnis einer Szene von Goethes Faust zu bemühen, bringt schliesslich deshalb so viel Freude und Befriedigung mit sich, weil für die Erforschung keiner anderen Dichtung deutscher Sprache so günstige Voraussetzungen bestehen. Generationen von Goethe-Forschern und -Forscherinnen haben Bausteine zum Verständnis des Faust zusammengetragen, die ein neuer Anlauf wie der hier unternommene dankbar benützen und auf denen er weiterbauen kann. Die Faust-Forschung ist jedoch auch ein Paradebeispiel dafür, dass die Interpretation eines so bedeutenden literarischen Werks nie an ein Ende gelangen kann, und dies schon allein deshalb, weil jede Interpretation notwendigerweise auf den Standort und das Wissen des jeweiligen Interpreten bezogen und damit begrenzt bleiben muss. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass jeder neue Versuch die Chance in sich birgt, neue Zusammenhänge oder bereits erkannte auf neue Weise zu sehen. Das dispensiert freilich nicht von der Auseinandersetzung mit bisherigen Meinungen, wo es angezeigt erscheint. Der vorliegende Versuch kann das freilich nur in begrenztem Masse leisten. Er hat sein Ziel in erster Linie darin, eine eigene kohärente Deutung der Szene Bergschluchten zur Diskussion zu stellen. Dabei profitiert er, was die Textbasis angeht, dankbar von den jüngsten editorischen und kommentierenden Leistungen der Goethe-Philologie im Umkreis von Goethes 250. Geburtstag. Der Faust-Text liegt gegenwärtig in zwei neueren historischkritischen und eingehend kommentierten Editionen vor, derjenigen von Albrecht Schöne (1994) in der «Frankfurter Goethe-Ausgabe» und derjenigen von Dorothea Lohmeyer (1997) in der chronologisch angelegten «Münchner Goethe-Ausgabe». Beide lösen die «Hamburger Ausgabe» von Erich Trunz ab, mit der meine Generation gross geworden ist. Ein weiterer, detaillierter Kommentar zu Faust II (2004) stammt von Ulrich Gaier. In den genannten Ausga18
ben und Kommentaren sind der aktuelle editorische Stand und derjenige des Wissens zur Szene Bergschluchten leicht zugänglich; sie waren meine ständigen Berater. Die Faust-Zitate im Text beziehen sich auf die Ausgabe von Schöne.2 Unentbehrlich war für meine Arbeit ferner die vorzügliche Ausgabe der Faust-Paralipomena von Anne Bohnenkamp «… das Hauptgeschäft nicht ausser Augen lassend» (1994). Anne Bohnenkamp zeichnet auch als Herausgeberin des Bandes Über Kunst und Altertum V–VI (1999) der Frankfurter GoetheAusgabe, welcher Goethes Nachlese zu Aristoteles’ Poetik enthält und eingehend kommentiert. Der für diese Arbeit ebenfalls unentbehrliche, unerschöpfliche Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, in dem der Nachlese-Aufsatz immer wieder Thema wird, liegt neuer dings in drei Bänden (1991–1998) der Münchner Goethe-Ausgabe vor, auf das sorgfältigste ediert und sachkundig kommentiert von Edith Zehm, Hans-Günther Ottenberg und anderen. Äusserst hilfreich war mir immer wieder die «Sammlung» von Goethes Äusserungen zu antiken Werken, Autoren und Themen des unvergessenen Ernst Grumach. In seltenen Fällen werden die «Weimarer Ausgabe» oder die Hamburger Ausgabe zitiert. Albrecht Schöne (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte und Kommentare. 2 Bde. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe). 1. Abt., Bde. 7/1 und 7/2. (Der Faust-Text wird im fortlaufenden Text nach dieser Ausgabe mit Angabe der Verszahlen nachgewiesen; Schönes Kommentarband zitiert als Schöne.) Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Einleitung und Kommentar zu Faust II. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Bd. 18/1: Letzte Jahre 1827-1832. München, Wien: Carl Hanser 1997. Ulrich Gaier: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Der Tragödie Zweiter Teil. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 2004. Anne Bohnenkamp: «… das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend». Die Paralipomena zu Goethes «Faust». Frankfurt/Main: Insel 1994. 19
Anne Bohnenkamp (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Ästhetische Schriften 1824–1832. Über Kunst und Altertum V–VI.Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe). 1. Abt., Bd. 22. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999. (Im fortlaufenden Text zitiert als KuA.) Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. 3 Bde, hrsg. von Edith Zehm u.a. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Bde. 20.1–3. München, Wien: Carl Hanser 1991–1998. (Beider Briefe werden im Text nach dieser Ausgabe und mit ihrem Datum zitiert.) Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. 2 Bde. Berlin: Walter de Gruyter 1949. Knappheit und Rätselhaftigkeit der Szene Bergschluchten regten immer wieder dazu an, durch die Beiziehung möglicher Quellen bzw. anderer Texte zu einem besseren Verständnis zu gelangen, anders gesagt: auf dem Wege der Intertextualität. So hat Jochen Schmidt 1990 den Versuch vorgelegt, die Szene ganz von einem spätantiken «Muster» her zu erschliessen: «Dieses Muster ist das Fundamentalwerk der abendländischen Mystik: Die ganz vom Neuplatonismus bestimmte Schrift des Pseudo-Dionysius Areopagita Über die himmlische Hierarchie.»3 So scharfsinnig dieser Nachweis in der Folge geführt wird, er hat den gravierenden Nachteil, dass darin das frühere Gretchen, die zentrale Figur der Szene, nur nebenbei erwähnt wird. Albrecht Schöne wiederum deutet im Kommentar seiner Faust-Ausgabe Bergschluchten apodiktisch vom Konzept der ¢pokat£stasij p£ntwn, der Allversöhnungslehre des Origines her, eine These, die dank der Prominenz ihres Erscheinungsortes und der Autorität ihres Urhebers undiskutiert bis in die populäre Goetheliteratur ausstrahlt. So kommentiert z.B. Bernd Hamacher den berühmten Vers «Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen» folgendermassen: «Angespielt wird hier auf die Lehre des Origines von der Wiederbringung aller Dinge am Ende der Zeiten, der Rückversetzung der Welt in den Zustand vor dem 20