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Handwerker Kßchenhoff  |  Lier (Hrsg.)
Neben Wien, der Wirkungsstätte Sigmund Freuds, war ZĂźrich der wichtigste Ort fĂźr die Rezeption und Ausbreitung der ÂPsychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies war Eugen Bleuler, dem Direktor des BurghĂślzli (1898–1927), der heutigen Psychiatrischen Universitätsklinik ZĂźrich, und einer Reihe seiner Mitarbeiter zu verdanken. Sie waren die ersten klinischen Psychiater, die sich intensiv mit Freuds Psychoanalyse ausein andersetzten. An C.G. Jung schrieb Freud daher voller Hoffnung: ÂŤIch gedachte, die psychoanalytische Bewegung zu organisieren, ihren Mittelpunkt nach ZĂźrich zu verlegen.Âť
Zßrich – Stadt der Seelenkunde
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Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch
Barbara Handwerker KĂźchenhoff, Doris Lier (Hrsg.)
Stadt der Seelenkunde Psychoanalyse in ZĂźrich
Neben Wien, der Wirkungsstätte Sigmund Freuds, war Zürich der wichtigste Ort für die Rezeption und Ausbreitung der Psychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies war Eugen Bleuler, dem Direktor des Burghölzli (1898-1927), der heutigen Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, und einer Reihe seiner Mitarbeiter zu verdanken. Sie waren die ersten klinischen Psychiater, die sich i ntensiv mit Freuds Psychoanalyse auseinandersetzten. An C.G. Jung schrieb Freud daher voller Hoffnung: «Ich gedachte, die psychoanalytische Bewegung zu organisieren, ihren Mittelpunkt nach Zürich zu verlegen.» Seither sind mehr als hundert Jahre vergangen. In Auseinandersetzung mit Freuds Psychoanalyse und in Abgrenzung von ihr entstanden wichtige eigenständige psychoanalytische Richtungen und engagierte Diskussionsforen. Die vorliegende Publikation ist der Verortung der Psychoanalyse in psychoanalytischen Schulen und an der Universität gewidmet. Beiträge von Theoretikern und Praktikern geben Einblick in deren vielfältige Entwicklungen. Vertreten sind die Freud’sche Psychoanalyse am Freud-Institut und am Psychoanalytischen S eminar Zürich (PSZ), die Analytische Psychologie C.G. Jungs am C.G. Jung-Institut und am Internationalen Seminar für Analytische Psychologie Zürich (ISAPZurich), die Schicksalsanalyse Leopold Szondis am SzondiInstitut, die Individualpsychologie Alfred Adlers am AAI Kompetenzzentrum für Individualpsychologie nach Alfred Adler, die Lacan’sche Psychoanalyse am Lacan-Seminar, die Daseinsanalyse am Daseinsanalytischen Seminar und die Ethnopsychoanalyse, deren Begründer Paul Parin war. Darüber hinaus widmen sich weitere Autoren der Beziehung zwischen Sigmund Freud und Eugen Bleuler und der Rezeption der Psychoanalyse in der universitären Psychiatrie und Psychologie. Die Herausgeberinnen Barbara Handwerker Küchenhoff ist Verlagslektorin. Sie studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg und promovierte in Philosophie an der Universität Zürich. Doris Lier ist Psychotherapeutin in freier Praxis. Sie studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich und hat seit 1988 ein Diplom in analytischer Psychologie.
Barbara Handwerker KĂźchenhoff, Doris Lier (Hrsg.)
Stadt der Seelenkunde Psychoanalyse in ZĂźrich
Schwabe Verlag Basel
Gedruckt mit Unterstützung der Margrit Egnér-Stiftung und der Gesellschaft für die Geschichte der Schweizer Psychiatrie
Schwabe reflexe 22 Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: B. Handwerker Küchenhoff Schrift: Quadrat Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2843-9 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Eugen Bleuler und Sigmund Freud BERNHARD KÜCHENHOFF .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Professionalisierung der Psychoanalyse. Gesellschaftliche und berufspolitische Entwicklungen ALEXANDER MOSER .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Das Psychoanalytische Seminar Zürich. Zur Frühgeschichte der Schweizer Freudianer THOMAS KURZ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Das Freud-Institut Zürich. Schweizer Psychoanalyse im internationalen Kontext EVA SCHMID-GLOOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 C.G. Jung: Vom Assoziationsexperiment zu den Archetypen DORIS LIER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die Individualpsychologie Alfred Adlers und ihre Fortsetzung in der Schweiz JÜRG RÜEDI, PAUL SIEGWART .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Die Daseinsanalyse – Seelenkunde auf philosophischem Grund ALICE HOLZHEy-KUNZ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Schicksalsanalyse Leopold Szondis KARL BÜRGI-MEyER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Zur Entstehung und Entwicklung der Ethnopsychoanalyse in Zürich MARIO ERDHEIM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Das Lacan Seminar Zürich PETER WIDMER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Psychoanalyse im universitären Kontext BRIGITTE BOOTHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Psychotherapie in der psychiatrischen Klinik: Überwindung der Dogmen HEINZ BÖKER, DANIEL HELL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Vorwort Neben Wien, der Wirkungsstätte Freuds, war Zürich am Anfang des 20. Jahrhunderts der wichtigste Ort für die Rezeption der Psychoanalyse. Freud selbst dachte daran, ihren Mittelpunkt hierher zu verlegen, wie er in einem Brief an C.G. Jung 1910 schrieb. In Zürich hatte sich unter dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, Eugen Bleuler, eine Gruppe von Ärzten zusammengefunden, die sich in ihrer klinischen Arbeit engagiert mit der Psychoanalyse auseinandersetzten. Zur Zeit Eugen Bleulers waren die Auffassungen Emil Kraepelins (1856-1926) und seiner Psychiaterkollegen in Deutschland noch weithin gültig: Das galt für die Einteilungen der psychischen Erkrankungen wie für die hirnorganischen Ursachenannahmen der sogenannten Geisteskrankheiten. Eugen Bleuler erschien diese Reduktion als unzureichend. Auf Grund seiner intensiven Kontakte zu psychisch Kranken in der Klinik Rheinau, nicht zuletzt auch zu seiner psychotisch kranken Schwester, erweiterte er die psychologischen Untersuchungen und erstellte differenzierte psychopathologische Befunde (zum Teil mit eigenen Begriffsprägungen und -ausgestaltungen wie z.B. denjenigen der Ambivalenz und des Autismus). Auf der Suche nach therapeutischen Ansatzpunkten rezipierte Bleuler mit grossem Interesse die neue tiefenpsychologische Theorie Freuds. In seinem grossen Werk über die Schizophrenie (1911) stellt er die psychoanalytische Betrachtungsweise gleichberechtigt neben die klinisch-systematische. Der vorliegende Reflexe-Band gibt in verschiedenen Beiträgen und aus verschiedenen Blickwinkeln Einblick in die Schweizer und insbesondere Zürcher Entwicklung der Psychoanalyse und ihre Nachfolgegestalten. Ein Teil der Texte erschien zum ersten Mal 2007 in den Schweizer Monatsheften, wurde aber für die vorliegende Publikation von den Autorinnen und Autoren überarbeitet und aktualisiert. Im ersten Artikel des Bandes geht Bernhard Küchenhoff Eugen Bleulers Beziehung zu Freud nach. Die persönliche und die inhaltliche Verbindung zwischen den beiden stellt eine entscheidende Etappe der Psychoanalyse- und Psychiatriegeschichte dar. 7
Die drei anschliessenden Beiträge von Alexander Moser, Thomas Kurz und Eva Schmid-Gloor befassen sich mit der Entwicklung des Berufs des Analytikers und der Bildung der psychoanalytischen Vereinigungen und Schulen in Zürich. Freud lag viel daran, seiner psychoanalytischen Theorie eine institutionelle Verankerung zu geben, ihr wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen und eine klare therapeutische Vorgehensweise zu entwickeln. Dessen eigenständige Rezipienten aber übernahmen seine Konzepte nicht in orthodoxer Weise, sondern führten lebhafte theoretische Diskussio nen und entwickelten neue Positionen. Sie gründeten teilweise eigene Schulen und formulierten entsprechende Ausbildungscurricula. Unter allen Vereinigungen, Gruppierungen und Ausbildungsseminaren, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden, herrschte eine rege Dynamik von Integration und Ausschluss, und zwar auf institutioneller wie auf inhaltlicher Ebene. Im Zentrum der gesellschaftlichen und berufspolitischen In stitutionalisierung der Psychoanalyse stand die Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Ausbildung der Psychoanalytiker. Alexander Moser berichtet von den beiden einander widerstreitenden Auffassungen: Einerseits sollte die Therapie in Übereinstimmung mit einem medizinischen Ausbildungsmodell gestaltet werden, andererseits aber sollte sie gerade nicht medizinalisiert werden, damit die Psychoanalyse ihre emanzipatorische Wirkung und ihre kultur- und gesellschaftskritische Bedeutung behalte. Für all jene Mediziner, die psychotherapeutisch arbeiten wollten, mussten zudem Einigungen mit dem Gesetzgeber herbeigeführt werden, der Zulassungs- und Ausbildungsbestimmungen festlegte. Thomas Kurz beginnt seinen Bericht über Die Frühgeschichte der Schweizer Freudianer mit dem Zeitpunkt ihrer 1914 erfolgten Trennung von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die Freud 1910 gegründet hatte. Er verfolgt deren spannungsvolles Verhältnis und schildert die wechselvollen wie konfliktreichen Beziehungen, die die verschiedenen psychoanalytischen Seminare untereinander hatten und haben. Die Bedeutung internationaler Beziehungen wurde und wird von den Schweizer Institutionen unterschiedlich bewertet. Eva Schmid-Gloor stellt die Entwicklung des Freud-Instituts dar. Es wurde nach der Trennung des Psychoanalytischen Seminars Zü8
rich von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse gegründet und zugleich zur Ausbildungsstätte der Gesellschaft bestimmt. Eva Schmid-Gloor betont das grosse Interesse der im Freud-Institut assoziierten Analytiker, sich international mit anderen psychoanalytischen Vereinigungen zu vernetzen und sich für die starke Einbindung in die European Psychoanalytic Federation (EPF) und die International Psychoanalytic Association (IPA) einzusetzen. Der internationale Dialog wird als Voraussetzung betrachtet für eine weitere Entwicklung der Psychoanalyse. Inhaltliche Differenzen zwischen Freud und einigen der ersten, ursprünglich Freud’schen Psychoanalytiker führten zur Entwicklung jeweils eigenständiger psychoanalytischer Richtungen. Ihnen sind die folgenden Beiträge gewidmet. Neben Eugen Bleuler war C.G. Jung für Freud der wichtigste Psychiater in Zürich. In ihm hatte er zeitweise sogar seinen Nachfolger gesehen. Doris Lier schildert C.G. Jungs theoretischen Werdegang und die Gründe für seine Trennung von Freud. Jung wollte seelische Probleme nicht allein im Kontext der unbewusst wirkenden persönlichen Geschichte verstanden wissen. Er erweiterte Freuds Unbewusstes um die Dimension eines kollektiven Unbewussten, als dessen Inhalte er Archetypen bestimmte. Seines Erachtens sind es nicht ausschliesslich persönliche Erlebnisse, die zu einer psychischen Erkrankung führen, sondern ebenso sehr das Seelische a priori strukturierende Archetypen. Ein weiterer Aspekt der Differenz zwischen Jung und Freud war, dass Jung die Sexualität nur als Teiltrieb anerkannte und die Libido selbst als allgemeine Lebensenergie betrachtete. Jung prägte eine eigene tiefenpsychologische Richtung, die «Analytische Psychologie», und gründete 1917 den Psychoanalytischen Club. Heute gibt es im Raum Zürich zwei Jung’sche Institutionen: das Internationale Seminar für Analytische Psychologie (ISAPZurich) und das C.G. Jung-Institut in Küsnacht. Ähnlich wie zwischen C.G. Jung und Freud kam es auch zwischen Alfred Adler und Freud bereits früh zur Trennung. Allerdings ergriff in diesem Fall Freud die Initiative, nachdem er keine theoretische Übereinstimmung mehr zwischen sich und Adler sah. Jürg Rüedi und Paul Siegwart schildern Alfred Adlers Herkunft und die ihn prägenden Erfahrungen als Sohn eines jüdischen Getreide9
händlers in Wien. Als junger Arzt nahm er an der von Freud ins Leben gerufenen Psychologischen Mittwochsgesellschaft teil. Adler ging in seinem später als «Individualpsychologie» bezeichneten Konzept davon aus, dass der Mensch als Individuum immer zugleich als soziales Wesen zu sehen ist. Deshalb stellte er das Gemeinschaftsgefühl in das Zentrum seiner Theorie. In den 20er Jahren waren in grösseren Städten Europas Ortsgruppen und Arbeitsgemeinschaften für Individualpsychologie entstanden, 1948 wurde die Schweizerische Gesellschaft für Individualpsychologie in Zürich ins Leben gerufen. Erst 26 Jahre später kam es zur Gründung der Zürcher Schule für Psychotherapie. Eine weitere, auch heute aktuelle und aktive psychotherapeutische Schule ist die Daseinsanalyse. Ihr widmet Alice Holzhey-Kunz ihren Beitrag und stellt deren Geschichte, Theorie und Praxis vor. Ludwig Binswanger, einer der Begründer der Daseinsanalyse, lernte die Psychoanalyse Freuds über seinen Doktorvater C.G. Jung am Burghölzli kennen. Theoretisch distanzierte er sich bereits früh von Freud, allerdings nicht mit psychologischen, sondern mit philosophischen Argumenten. Er kritisierte das der Psychoanalyse zugrundeliegende Menschenbild als zu naturalistisch und zu deterministisch. Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Menschenbild diente ihm Heideggers Auslegung des Menschen als «Dasein» in Sein und Zeit. Sie wurde philosophische Basis seiner phänomenologischen Untersuchungen der an Schizophrenie erkrankten Menschen. Medard Boss, ebenfalls zunächst Psychoanalytiker, entwickelte Ende der 40er Jahre eine revidierte Daseinsanalyse, die sich der direkten Zusammenarbeit mit Heidegger verdankte. Anders als für Binswanger war für ihn die Daseinsanalyse auch eine Form therapeutischer Praxis. 1971 wurde das Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie und Psychosomatik gegründet, das bis zum Jahr 2000 bestand. Heute wird die Daseinsanalyse im Rahmen des seit 1983 bestehenden Daseinsanalytischen Seminars gelehrt und weiterentwickelt. Eine weitere Richtung der Tiefenpsychologie ist die von Leopold Szondi begründete Schicksalsanalyse. Karl Bürgi-Meyer schreibt über deren Grundgedanken und therapeutischen Ansatz. Leopold Szondi, der Vater des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi, war von 1927 bis 1941 Professor für Psychopathologie und Psychotherapie an der Ungarischen Hochschule für Heilpädagogik in Budapest. 10
Nach seiner Internierung im KZ Bergen-Belsen gelang ihm 1944 die Flucht in die Schweiz. Auch nach seiner Auffassung spielen unbewusste Motive für die Entstehung psychischer Erkrankungen eine entscheidende Rolle, wobei er neben der Wirkung eines individuellen und eines kollektiven Unbewussten zusätzlich die eines familiären Unbewussten beizieht. Das Schicksal des Menschen sieht er in lebensbestimmenden Wahlhandlungen. 1970 wurde in Zürich unter seiner Leitung das Lehr- und Forschungsinstitut für Schicksalspsychologie und allgemeine Tiefenpsychologie gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Sohn und spätere Nachfolger Eugen Bleulers, Manfred Bleuler, wie sein Vater 40 Jahre zuvor, der Psychoanalyse an der Universitätsklinik wiederum viel Raum. Gustav Bally und Medard Boss – beide waren Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse – erhielten von ihm den Auftrag, die Assistenzärzte in die Psychoanalyse einzuführen. Sie leiteten gemeinsam das Institut für ärztliche Psychotherapie. Ausserdem setzte Gaitano Benedetti, zusammen mit Christian Müller und Balthasar Staehelin, das Anliegen einer psychoanalytischen Therapie Schizophrener fort. Mario Erdheim sieht die Motivation von Paul Parin, Goldy Parin-Matthey und Fritz Morgenthaler für die Begründung der EthnoPsychoanalyse in Zürich in dem Bedürfnis einer kulturpolitischen Verortung der Psychoanalyse angesichts des Kalten Krieges und des verlorenen Glaubens an die Humanität der Kultur. Diese Analy tikergruppe versuchte auch, durch ihre Beschäftigung mit anderen Kulturen die unbewussten Prozesse in der eigenen Kultur besser zu verstehen. Die Aktualität der Ethno-Psychoanalyse liegt in der notwendigen spezifischen Behandlung der zunehmenden Zahl psychisch kranker Migrantinnen und Migranten und traumatisierter Asylsuchender. Freud war nicht immer Freudianer, so lautet ein bekanntes Diktum des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan. Sein Motto war daher: «Zurück zu Freud». Er wollte das einholen, was seines Erachtens in der Geschichte der orthodoxen Psychoanalyse verlorengegangen oder überhaupt noch nie ausformuliert worden war. Das Lacan Seminar in Zürich ist die jüngste Institution der Psychoanalyse in der Region Zürich. Es wurde 1997 von Analytikern, Philosophen und Literaturwissenschaftlern gegründet und diente 11
von Anfang an nicht als Ausbildungsinstitut, sondern wollte ein Ort für Weiterbildung und wechselseitigen Austausch sein. Die Psychoanalyse wurde auch an der Universität Zürich und in der Universitätsklinik rezipiert und angewandt. Brigitte Boothe stellt deren Rolle am Psychologischen Institut Zürich dar. 1962 begann sich Ulrich Moser, Professor für klinische Psychologie, für psychoanalytische Weiterbildung zu engagieren. So wurden die Traumforschung und die Emotions- und Beziehungsanalyse programmatische Schwerpunkte. Brigitte Boothe selbst wurde dessen Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse. Sie vertrat die theoretischen und praktischen Anliegen der Psychoanalyse und engagierte sich darüber hinaus für eine postgraduale psychodynamische Weiterbildung. Seit 2005 besteht eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die psychoanalytische Konzepte in ihre eigene Forschungstätigkeit einbezieht. In der Psychiatrischen Universitätsklinik finden die verschiedenen psychoanalytischen Konzepte, objektbeziehungstheoretische Ansätze, die kognitive Verhaltenstherapie und neue Affekttheorien ebenso Beachtung wie die neurowissenschaftlichen Ergebnisse der bildgebenden Verfahren. Heinz Boeker und Daniel Hell formulieren in ihrem Beitrag das Anliegen, für jede Erkrankungsform eine auf konkreten Handlungsanweisungen basierte Therapieform anzubieten und störungsspezifische Spezialstationen aufzubauen. Begründet wird diese Diversifikation mit der spezifischen Klientel und der jeweils kurzen Aufenthaltsdauer der Patienten. Damit tritt der klassische psychoanalytische Zugang, der nicht Störungen behandelt, sondern verborgene Sinnzusammenhänge psychischen Krankseins aufdeckt, in den Hintergrund. BARBARA HANDWERKER KÜCHENHOFF, DORIS LIER
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Eugen Bleuler und Sigmund Freud BERNHARD KÜCHENHOFF
«Die Psychiatrie ist psychologischer geworden … via Zürich» 1 Eugen Bleuler (1857-1939) ist als Ordinarius der Psychiatrie an der Universität Zürich und als Direktor der psychiatrischen Klinik Burghölzli weltberühmt geworden, insbesondere durch seine Begriffsprägung der «Gruppe der Schizophrenien» und seine Beschreibung dieser Krankheitsbilder in seinem umfassenden Handbuchbeitrag Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien 2. Eugen Bleuler war es auch, der S. Freud und die sich gerade entwickelnde Psychoanalyse als erster Psychiatrieordinarius eingehend rezipierte. Die persönlichen und inhaltlichen Verbindungen zwischen E. Bleuler und S. Freud zeigen deshalb eine ganz wesentliche Etappe des Verhältnisses zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse. 1895 erschienen die für die Entwicklung der Psychoanalyse wegweisenden Studien über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud.3 Ein Jahr später wurden sie von Eugen Bleuler rezensiert, der damals noch Direktor der psychiatrischen Klinik Rheinau war. Seine Besprechung enthält eine Reihe kritischer Hinweise auf Zusammenhänge, die ihm noch unbewiesen erschienen, endet aber mit einer deutlich positiven Wertung: «… eine der wichtigsten Erscheinungen der letzten Jahre auf dem Gebiet der normalen und pathologischen Psychologie».4 Die Aufnahme dieses gänzlich neuen Ansatzes durch einen Psychiater war nicht selbstverständlich, denn seine Kollegen widmeten sich vor allem den hirnorganischen Grundlagen und standen der Psychoanalyse ganz ablehnend und abwertend gegenüber. Demgegenüber war das Burghölzli in Zürich die erste psychiatrische Universitätsklinik, an der die Theo rien Freuds ausführlich diskutiert wurden und die Psychoanalyse im klinischen Alltag angewandt wurde. Aber auch im Hinblick auf die Forschung gab es bei Bleuler und Freud, wenigstens zunächst, eine gewisse Übereinstimmung. Die naturwissenschaftliche Fundierung war bei beiden Forschern anfangs Ausgangspunkt und Ziel. Dies lässt sich an den frühen Arbeiten beider Autoren able13
sen: Freuds zunächst unveröffentlichter Entwurf einer Psychologie von 18955 und Bleulers 1894 erschienene Arbeit Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der psychologischen Grundbegriffe 6. Darüber hinaus waren die einzigen empirischen psychologischen Forschungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts am Burghölzli die Assoziationsstudien, die, von Bleuler angeregt, von Franz Riklin und C.G. Jung durchgeführt wurden. Diese Forschung kann zugleich auch als ein erster Versuch gewertet werden, psychoanalytische Annahmen mit einer experimentellen Versuchsanordnung zu überprüfen.7 Im Buch von Löwenfeld Die psychischen Zwangserscheinungen8 schreibt Bleuler: «Freud hat uns in seinen Hysterie- und Traumstudien ein Stück – lange nicht alles – einer neuen Welt gezeigt. Unser Bewusstsein sieht nur die Puppen auf seinem Theater; in der Freud’schen Welt werden viele der Schnüre gezogen, die die Figuren bewegen.»9 Diese positive Rezension hat nach Einschätzung von M. Schröter möglicherweise mit dazu beigetragen, dass Freud eine mehrjährige Schaffenspause beendete.10 Bemerkenswert gross ist die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die E. Bleuler anstellte und die in der weiteren Geschichte der Psychoanalyse eine herausragende Rolle spielten. Unter ihnen sind vor allem C.G. Jung, Franz Riklin, Karl Abraham, Ludwig Binswanger, Max Eitingon, Johan van Ophuijsen und Hermann Nunberg zu nennen. Für die Verbreitung der Psychoanalyse in Amerika war Abraham A. Brill von zentraler Bedeutung, der 1907/08 bei Bleuler arbeitete. Aus den eigenen Schilderungen Bleulers kann man sich die damalige Aufnahme Freuds und der Psychoanalyse gut vergegenwärtigen. So beschreibt er in einem der ersten Briefe an Freud, am 14.10.1905, wie man in der Klinik versuchte, mit dem psychoanalytischen Ansatz zu arbeiten. Er teilt ihm mit, wie er einen eigenen Traum seinen Assistenzärzten und seiner Frau, die an der Sitzung teilnahm, vorgetragen habe und wie anschliessend versucht worden sei, seinen Traum zu deuten. Während der Traumanalyse habe er (Bleuler) aus dem Zimmer gehen müssen und seine Frau habe die Leitung der Traumdeutung übernommen. Bei seiner Rückkehr habe er dann aber feststellen müssen, dass in der Deutung die Komplexe seiner Frau und nicht etwa seine eigenen zum 14
Ausdruck gekommen seien. Andere Beispiele schildert Bleuler in seiner 1910 veröffentlichten Arbeit Die Psychoanalyse Freuds: «Die Ärzte des Burghölzlis haben einander nicht nur die Träume ausgelegt, sie haben jahrelang auf jedes Komplexzeichen aufgepasst, das gegeben wurde: Versprechen, Verschreiben, ein Wort über die Linie schreiben, symbolische Handlungen, unbewusste Melodien summen, Vergessen, usw. Auf diese Weise haben wir einander kennengelernt.»11 Bleuler und Freud gingen in ihrer therapeutischen Arbeit von ihren praktischen Erfahrungen aus. Allerdings war ihr Erfahrungsbereich jeweils ganz unterschiedlich. Bleuler sah vor allem psychotische Patienten, Menschen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die stationär behandelt werden mussten. Freud behandelte im Unterschied dazu vor allem neurotische Patienten, also Menschen mit Ängsten, Zwängen oder Hysterien, und zwar ausschliesslich ambulant. Ein Grund für Bleulers Interesse an der Psychoanalyse lag sicher darin, dass die therapeutischen Möglichkeiten in der Psych iatrie damals sehr begrenzt waren. Um die Kranken besser verstehen zu können, prüfte er deshalb, inwiefern sich die Vorstellungen Freuds auf die psychotischen Patienten übertragen liessen. Zustimmung zu und Abgrenzung von Freud bezeugt bereits seine Arbeit von 1906 Die Freud’schen Mechanismen in der Symptomatologie von Psychosen 12. Wichtig ist die Unterscheidung deutlich herauszustellen, an der Bleuler zeitlebens festgehalten hat: die organische Ursache der Psychosen und davon abzugrenzen die Möglichkeit, die Krankheitserscheinungen, die Symptome, zu verstehen, eben und gerade mit Hilfe der Freud’schen Mechanismen. Bleuler zeigte, dass die gleichen psychischen Prozesse, die Freud bei den neurotischen Störungen fand, auf die Pathologie der Psychosen anwendbar sind. Beispielsweise seien im Inhalt vieler Wahnideen nur schlecht verhüllte Wunschträume zu sehen. In den Verfolgungsideen kamen für ihn die Hindernisse zum Ausdruck, die den Wünschen und ihrer Erfüllung im Wege standen. Ebenso griff Bleuler das für die Psychoanalyse zentrale Thema «Sexualität» auf. In Bezug auf die Psychosen schrieb er dazu: «Meine persönliche Erfahrung bei der Schizophrenie gibt Freud in einer Weise Recht, die mich selbst höchst überraschte. Von den 15
Hunderten von Patienten, die wir analysieren, war keiner ohne sexuellen Komplex. Bei den meisten war dieser der alleinige Beherrscher der Symptome.»13 Dieses Thema bietet auch ein gutes Beispiel dafür, wie Bleuler Kernstücke der Psychoanalyse persönlich und sachbezogen überprüfte und wie ironisch er die Kritik an seinen Kollegen formulierte. So entsteht ein etwas anderes Bild von Bleuler, der üblicherweise als trocken und asketisch geschildert wird: «Mit der Konstatierung der infantilen Sexualität hängt zusammen die Entdeckung des Ödipus-Komplexes. Sie ist allerdings der Gipfel des Unverstandes, der Pietätlosigkeit, das ekelhafte Produkt einer ausschweifenden Phantasie, so dass ein unwiderleglicher Gegenbeweis gegen die Existenz sexueller Gefühle zwischen Eltern und Kindern in Ausrufezeichen oder den gleichwertigen Bemerkungen liegt, die man der Erwähnung der Missgeburt jeweilen beifügt. Aber dieser Ödipus-Komplex existiert trotz dieses streng wissenschaftlichen Gegenbeweises und zwar wird er – wenn man danach sucht – so regelmässig gefunden, dass die Annahme, er sei allen Menschen eigen, die von andersgeschlechtlichen Eltern aufgezogen sind, die wahrscheinlichste ist. Als ich zum ersten Mal davon las, hatte ich genau die gleichen Gefühle wie die meisten unserer Kritiker. Schliesslich – im Laufe von zirka 4 Jahren – habe ich ihn bei mir selber in ganz krasser Form nachgewiesen, und zwar aus Zeichen, die aus der Pubertätszeit, also lange vor Freuds Publikation, datieren … Bei meiner Frau habe ich bewusst wichtige Ähnlichkeiten mit meiner Mutter erst lange nach der Verheiratung entdeckt, aber bevor ich meine Ödipus-Komplexe kannte … An meinem älteren Knaben und meinem Mädchen habe ich den Ödipus-Komplex vom ersten Jahre an … absolut sicher konstatiert …»14 Bleuler war anfangs durchaus bereit, Mitverantwortung für die sich entwickelnde Psychoanalyse zu übernehmen und sich auch organisatorisch einbinden zu lassen. So wurde 1907 in Zürich die Gesellschaft für Freud’sche Forschungen gegründet, und Bleuler wurde deren Vorsitzender. Ebenso beteiligte er sich im März 1908 beim 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg, bei dem er und Freud sich erstmals persönlich trafen. Während des Kongresses wurde auch das Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung gegründet, mit Bleuler und Freud als den 16
Herausgebern und Jung als Chefredaktor. Noch im gleichen Jahr, im September, hätten sich Bleuler, Freud und Jung auch in Zürich treffen können. Denn Freud besuchte Jung im Burghölzli. Allerdings suchte Freud Bleuler nicht auf, obwohl dieser seine Wohnung im Burghölzli nur einen Stock unter der von Jung hatte. Dies war sicher ein Affront gegenüber Bleuler, der Freud später auch noch beschäftigte.15 Einen Monat später waren Bleuler und seine Frau in Wien und besuchten bei dieser Gelegenheit Freud. Über diese Zusammenkunft schrieb Freud an Jung am 15.10.1908: «Ihr Chef und seine Gemahlin waren vorigen Freitag unsere Abendgäste. Er ist entschieden weit erträglicher als sie. Er war gelöst, liebenswürdig, soweit es bei seiner Steifheit ging. Er hat eine Lanze für die infantile Sexualität gebrochen, der er noch vor 2 Jahren verständnislos gegenüberstand. Dann fielen beide über mich her, ich solle doch den Namen Sexualität durch einen anderen ersetzen (Modell: Autismus), alle Widerstände und Missverständnisse würden dann aufhören. Ich sagte, ich glaubte nicht an diesen Erfolg, übrigens konnten sie mir den anderen besseren Namen auch nicht nennen.»16 Beim 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongress Ende März 1910 in Nürnberg, an dem Bleuler wegen einer Blinddarmoperation nicht teilnehmen konnte, wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet. C.G. Jung wurde zu deren Vorsitzendem und Franz Riklin zum Sekretär gewählt. Die Auseinandersetzung um die Internationale Vereinigung nahm in den folgenden Jahren einen grossen Teil des Briefwechsels zwischen Bleuler und Freud ein.17 Freud stellte seine Gründe für die neue Organisation dar, bedrängte und umwarb Bleuler. Bleuler setzte sich demgegenüber für sein Wissenschaftsverständnis ein, das eine offene Diskussion erfordere, weswegen er sich nicht vorstellen könne, in der geschlossenen Gesellschaft der Vereinigung zu bleiben. Er trat 1911 aus der Ortsgruppe Zürich der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus.18 Freud ging es darum, durch die Schaffung von Organisationsstrukturen der Psychoanalyse einen festeren Rahmen zu geben. Damit waren dann allerdings in der Folge Prozesse des Einschlusses und der Ausgrenzung verbunden, wie etwa die Trennung von Jung und Adler. Bleuler war für Freud vor allem auch ein berufspolitisch 17
wichtiger Verbindungsmann zur Psychiatrie. Sein ernsthaftes und nicht lediglich taktisches Bemühen, ihn nicht zu verlieren, wird in seinen Briefen deutlich.19 Und auch Bleuler hielt nach seinem Austritt aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung an seinem persönlichen und sachbezogenen Interesse an Freud fest. 1910 erschien die ausführliche Auseinandersetzung Bleulers mit Freud: Die Psychoanalyse Freuds. Verteidigung und kritische Bemerkungen .20 Diese Schrift von über 100 Seiten steht in der abwägenden Weise der Beurteilung singulär dar in der damaligen wissenschaftlichen Diskussion über Freud und die Psychoanalyse. Ein weiterer Beleg für Bleulers Freud-Rezeption, die ihn der Kritik seiner Psychiater Kollegen aussetzte, ist sein bedeutsamstes Werk Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien von 1911, in dessen Vorwort er Kraepelin und Freud als seine zentralen Bezugsgrössen gleichberechtigt nebeneinander nennt.21 Im gleichen Jahr (1911) wie Bleulers Buch über die Schizophrenien erschien, unbeeinflusst von Bleulers Werk, die bekannteste Auseinandersetzung Freuds mit einem psychotischen Patienten, den er allerdings nicht selbst in Behandlung hatte, der Fall Schreber.22 Bleuler verfasste eine ausführliche Kritik der Schreber-Arbeit Freuds und sandte sie diesem vor der Veröffentlichung zu. In seinem Begleitbrief schreibt Bleuler am 1.1.1912 an Freud, dass er es diesem überlassen wolle, ob seine (Bleulers) Besprechung veröffentlicht werden solle oder nicht. Er bat Freud auch um Verbesserungen, da er befürchtete, dass er, aufgrund ihrer unterschiedlichen psychologischen Auffassungen und aufgrund seiner Unkenntnis, auf welche Erfahrungen sich Freud in seinen Hypothesen stütze, etwas falsch verstanden und falsch dargestellt haben könnte. Hinweise dafür, dass Freud auf das Diskussionsangebot Bleulers eingegangen wäre, gibt es nicht, so dass von einer verpassten Chance sowohl für die Psychoanalyse wie auch für die Psychiatrie gesprochen werden muss. Die Besprechung Bleulers erschien 1912 im Zentralblatt für Psychoanalyse, deren Herausgeber Freud war.23 Zürich war im Jahre 1912 Tagungsort des Internationalen Vereins für medizinische Psychologie und Psychotherapie, der 1909 von A. Forel, O. Vogt, L. Frank und anderen gegründet worden war und in einem Gegensatz zur Internationalen psychoanalytischen Vereinigung stand.24 Nach dem Rückzug von Vogt und nach dem 18
Schlaganfall von Forel, wurde Bleuler die Leitung der Jahrestagung angetragen. Bleuler hielt auch einen Vortrag mit dem Titel Das Unbewusste 25, der von Freud in einem Brief an Ferenczi scharf kritisiert wurde.26 Bleulers Wunsch nach einer intensiveren inhaltlichen Ausein andersetzung wurde von Freud kaum aufgenommen. Beispielsweise informierte Bleuler Freud darüber, dass er sich habe überreden lassen, bei dem Kongress der deutschen Psychiater im Mai 1913 in Breslau das Referat über die Psychoanalyse zu halten, wobei als 2. Referent zu diesem Thema Alfred Hoche sprechen sollte, dessen entschieden ablehnende Haltung gegenüber Freud und der Psychoanalyse bekannt war. Bleuler bat Freud eindringlich um Mithilfe in der Vorbereitung, da ihm noch einige Punkte in der Freud’schen Auffassung unklar seien. Aus dem Briefwechsel zwischen Bleuler und Freud ergeben sich keine Hinweise darauf, dass er eine Hilfe von Freud erhalten hätte. In den weiteren Kontakten wurde ab der zweiten Jahreshälfte 1913 die Kritik von Bleulers Seite schärfer. Ende 1913 trat er als Mitherausgeber des Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen zurück. Im Verlauf dieser Entwicklungen und auch nach den Trennungen vor allem von Jung, aber auch von Adler und Stekel 1913, nahm Freuds Bereitschaft ab, sich mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen. Enttäuscht und verärgert schrieb er am 7.12.1913 an Ludwig Binswanger: «Ich werde die ‹Abschüttelung› der Zürcher, die ich dort [gemeint ist der 4. Internationale Psychoanalytische Kongress im September 1913 in München] begonnen, als sie sich fälschlich für meine Anhänger und Fortsetzer ausgaben, gewiss bald weiterverfolgen.»27 Hier – und das gilt auch für weitere Äusserungen im folgenden Jahr 1914 – werden Zürich und Wien als Verortungen der Psychoanalyse pars pro toto einander gegenübergestellt. Die kritischen Rezensionen, erstens des Bleuler-Vortrags in Breslau durch S. Ferenczi28 und zweitens der Arbeit von Jung Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie durch K. Abraham29, beide im gleichen Heft der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, werden von M. Schröter als «Kriegserklärung gegen die Zürcher»30 bezeichnet. Diese führte dann dazu, dass Jung als Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zurücktrat. 19
Trotz weiterer Distanzierung zwischen Bleuler und Freud kam es aber nicht zu einem vollständigen Bruch, wie es zwischen Freud und Jung der Fall war. 1914 schrieb Freud in seiner Arbeit zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung: «Ich habe die grossen Verdienste der Zürcher Psychiatrischen Schule um die Ausbreitung der Psychoanalyse, des besonderen die von Bleuler und Jung, wiederholt dankend anerkannt und stehe nicht an, dies heute, unter so veränderten Verhältnissen, von Neuem zu tun […] An keiner anderen Stelle fand sich auch ein so kompaktes Häuflein von Anhängern beisammen, konnte eine öffentliche Klinik in den Dienst der psychoanalytischen Forschung gestellt werden, oder war ein klinischer Lehrer zu sehen, der die psychoanalytische Lehre als integrierten Bestandteil in den psychiatrischen Unterricht aufnahm. Die Zürcher wurden so die Kerntruppe der kleinen, für die Würdigung der Analyse kämpfenden Schar. Bei ihnen allein war Gelegenheit, die neue Kunst zu erlernen und Arbeiten in ihr auszuführen. Die meisten meiner heutigen Anhänger und Mitarbeiter sind über Zürich zu mir gekommen […] Bedeutsamer noch war eine andere Leistung der Zürcher Schule oder ihrer beiden Führer B leuler und Jung. Der erstere wies nach, dass bei einer ganzen Anzahl von rein psychiatrischen Fällen die Erklärung durch solche Vorgänge in Betracht käme, wie sie mit Hilfe der Psychoanalyse für den Traum und die Neurosen erkannt worden waren […] Von da war es den Psychiatern unmöglich gemacht, die Psychoanalyse noch länger zu ignorieren. Das grosse Werk von Bleuler über die Schizophrenie (1911), in welchem die psychoanalytische Betrachtungsweise gleichberechtigt neben die klinisch-systematische hingestellt wurde, brachte diesen Erfolg zur Vollendung.»31 Im weiteren Text hebt Freud dann aber auch die Dissonanzen und Differenzen seiner Auffassungen gegenüber denen der Zürcher hervor. Auf diese Arbeit nahm Bleuler, trotz allen Differenzen, erfreut Bezug in seinem Brief an Freud im Juli 1914. Er wünschte sich allerdings, dass Freud nicht so global von den Schweizern rede, sondern seine (Bleulers) Auffassung klarer von derjenigen Jungs unterscheiden müsse, da es ihm wichtig sei, dass auch für den Leser deutlich werde, dass er (Bleuler) Freud näherstehe als Jung. Als Beleg sei hier ein eindrücklicher Brief aus dem demnächst erscheinenden Briefwechsel zitiert: 20