Europa und die Welt

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Europa hat sich lange als Zentrum der Welt verstanden und auch verstehen können. Diesen Status büsste es jedoch mit den beiden Weltkriegen schrittweise ein. Trotzdem wurde das kleine Europa von Europäern weiterhin als grosser Kontinent beschworen und besungen. Inzwischen ist das europäische Selbstbild wesentlich kritischer und nüchterner geworden. Ja, es gibt neben der Überschätzung auch eine starke Tendenz zum Selbsttadel. Die vorliegende Schrift möchte das Verhältnis Europas zur Welt ohne positive oder negative Voreingenommenheit thematisieren. Sie will und kann auf die Frage nach der Bedeutung Europas für die Welt keine Generalantwort vermitteln, aber entwickelt zu einzelnen Dimensionen und Feldern je spezifische Antworten. Das Thema wird aus verschiedenen, zum Teil disziplinär definierten Perspektiven angegangen: mit einem historischen, philosophischen, juristischen, soziologischen, politologischen und literarischen Blick.

Europa und die Welt

Inhalt

Georg Kreis (Hrsg.)

Georg Kreis (Hrsg.)

Georg Kreis, Weltgeschichte aus europäischer und nichteuropäischer Sicht Wolfgang Schmale, «Der europäische Mensch»: Europa- und Kolonialdiskurse nach 1945 Annemarie Pieper, Der Wert menschlichen Lebens. Die Menschenrechte und der Eurozentrismusvorwurf Stephan Breitenmoser / Chiara Piras, Regionalisierung des internationalen Menschenrechtsschutzes Ilma Rakusa, Literarischer Kontinent Europa Elham Manea, Europa und seine muslimischen Migranten: Assimilation oder Integration? Claus Leggewie, Neue Energien für Europa und die Welt Matthias Middell, Warum Europa? – Anmerkungen zu einem historiographischen Topos aus globalgeschichtlicher Sicht

Der Herausgeber Georg Kreis, em. Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel und Leiter des Europainstituts I S B N 978-3-7965-2852-1

Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch

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783796 528521

Europa und die Welt Nachdenken über den Eurozentrismus





Europa und die Welt Nachdenken Ăźber den Eurozentrismus

herausgegeben von Georg Kreis

Schwabe Verlag Basel


Für Madeleine Herren-Oesch, die neue Leiterin des Basler Europainstituts

Abbildungen auf dem Umschlag: Der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angefertigte und im Besitz des St. Galler Klosters befindliche Globus gelangte 1712 als Kriegsbeute nach Zürich. Heute ist er Eigentum der Zentralbibliothek Zürich und als Depositum im Schweizerischen Landesmuseum Zürich aufbewahrt. 2006 gab Zürich nach der Beilegung eines mehrere Jahre andauernden Kulturgüterstreits die Erarbeitung einer Kopie für das St. Galler Kloster in Auftrag. Die Umschlagbilder zeigen verschiedene Phasen der Reproduktion und sollen den Konstruktionscharakter von Weltgeschichten veranschaulichen. Vgl. auch Martina Rohrbach, Beat Gnädinger (Hrsg.), Der Zürcher Globus. Projekt Globus-Replik 2007–2009, Dokumentation. Zürich 2009. Fotos: Matthias Jurt, Luzern.

Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Druck: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2852-1 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Georg Kreis Weltgeschichte aus europäischer und nichteuropäischer Sicht . . . . . . 9 Wolfgang Schmale «Der europäische Mensch»: Europa- und Kolonialdiskurse nach 1945 39 Annemarie Pieper Der Wert menschlichen Lebens. Die Menschenrechte und der Eurozentrismusvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Stephan Breitenmoser / Chiara Piras Regionalisierung des internationalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . 77 Ilma Rakusa Literarischer Kontinent Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Elham Manea Europa und seine muslimischen Migranten: Assimilation oder Integration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Claus Leggewie Neue Energien für Europa und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Matthias Middell Warum Europa? – Anmerkungen zu einem historiographischen Topos aus globalgeschichtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181


Reproduktion des St. Galler Globus aus dem 16. Jahrhundert, vgl. Bildlegende auf Seite 4. Foto: Matthias Jurt, Luzern.


Vorwort

Europa hat sich lange als Zentrum der Welt verstanden und auch verstehen können. Diesen Status büsste es jedoch mit den beiden Weltkriegen schrittweise ein. Trotzdem wurde das kleine Europa von Europäern weiterhin als grosser Kontinent beschworen und besungen. Die vielleicht bekannteste Formulierung hat Winston Churchill in seiner Zürcher Rede vom September 1946 gefunden: «Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemässigtes, ausgeglichenes Klima geniesst, ist die Heimat aller grossen Muttervölker der westlichen Welt. Hier sind die Quellen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit.» Inzwischen ist das europäische Selbstbild wesentlich kritischer und nüchterner geworden. Ja, es gibt neben der Überschätzung auch eine starke Tendenz zum Selbsttadel. Die vorliegende Schrift, wie die bisherigen Publikationen dieser Reihe aus einer Vortragsveranstaltung des Europainstituts der Universität Basel hervorgegangen, möchte das Verhältnis Europas zur Welt ohne positive oder negative Voreingenommenheiten thematisieren. Sie will und kann auf die Frage nach der Bedeutung Europas für die Welt keine Generalantwort vermitteln, sondern zu einzelnen Dimensionen und Feldern je spezielle Antworten entwickeln. Das Thema wird wiederum aus verschiedenen, zum Teil disziplinär definierten Perspektiven angegangen: mit einem historischen, philosophischen, juristischen, soziologischen, politologischen und literarischen Blick. Im ersten Beitrag geht der Herausgeber der Frage nach, mit welchem Verständnis die aus europäischer oder «westlicher» Sicht entwickelte Gattung der «Weltgeschichte» jeweils konzipiert wurde. Eine wichtige Ergänzung dazu ist der ideen- und mentalitätsgeschichtliche Beitrag, mit dem Wolfgang Schmale eine kritische Sichtung der Bilder vom europäischen Menschen entlang der Jahrhunderte vornimmt. Im darauffolgenden Beitrag führt die Philosophin Annemarie Pieper aus, dass es zwar eine eurozentrische Auffassung von Menschenrechten gibt, dass man die Menschenrechte aber auch als überkulturelles Konzept verstehen kann, das, von historischen, sprachlichen und sonstigen Besonderheiten gereinigt, auf der normativen Metaebene qua gesamtmenschheitliches Erbe als universal verbindli-


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Vorwort

cher Normenkatalog postuliert werden kann. Der Völkerrechtler Stephan Breitenmoser würdigt in seinem Beitrag die rechtsetzende Tätigkeit des Euro­parats und der EU als Pionierarbeit auf dem Gebiet des regionalen Menschenrechtsschutzes und spricht sich dafür aus, dass deren hohe Massstäbe weder aufgeweicht noch den niedrigeren Standards anderer Weltregio­ nen angepasst werden dürfen. Die Schriftstellerin Ilma Rakusa zeigt in ihrem Beitrag, dass Europa durch die vielfältige, immer mehrdimensionale Welt der Migrantinnen- und Migrantenliteratur bereichert wird, und mahnt das westliche Europa zugleich, sich nicht gegen Osten und Südosten abzuschotten. Die Politologin Elham Manea hält in ihrem Beitrag der euro­ päischen Tendenz, «die» Muslime als kompakte monolithische Grösse auf­ zufassen, das Bild einer vielfältigen muslimischen Welt entgegen. Der So­ziologe Claus Leggewie ruft die Europäer dazu auf, ihren Kontinent nicht nur als Objekt der Globalisierung zu verstehen, sondern im Kampf für verbesserten Klimaschutz (und Umstieg in erneuerbare Energien) eine Pionierrolle wahrzunehmen, dies aber nicht im Sinne der alten Missionsidee. Und der Historiker Matthias Middell zeichnet den Wandel nach, den die Europa-Historiographie durchgemacht hat: von den alten und kompakten Überlegenheitsvorstellungen über die nach 1989 verstärkt eingetretene Binnendifferenzierung Europas, die aufzeigt, dass Unterschiede innerhalb Europas zum Teil grösser sind als zu Re­gionen anderer Kontinente, bis zur neuerlichen Wahrnehmung der Rolle Europas in der polyzentrischen Weltstruktur, was die Frage verschärft, warum Europa im 19./20. Jahrhundert während vergleichsweise kurzer Zeit doch Weltdominanz ausüben konnte. Die Frage nach dem «Verhältnis» kann den Einfluss meinen, der von ­Europa ausgegangen ist und den es inzwischen eingebüsst hat. Sie kann aber auch die Wechselwirkungen meinen, die zwischen europäischen und nichteuropäischen Teilen der Welt stattgefunden haben. Und sie kann nach europäischen Hinterlassenschaften fragen, die weiter bestehen, obwohl die vormalige Dominanz nicht mehr weiterbesteht. Basel im Februar 2012

G.K.


Weltgeschichte aus europäischer und nichteuropäischer Sicht Georg Kreis

Bekanntlich gibt es Weltgeschichten als historiographische Gattung. Und wir wissen, dass es sich dabei zumeist um europäische Weltgeschichten handelt. Europäische Weltgeschichte kann – wie jede Geschichte – in doppelter Weise verstanden werden: zum einen als Realgeschichte eines Europa, das weltweite Gestaltungsmacht hat, und zum anderen als Repräsentationsgeschichte europäischer Historiographen, die sich den Gang der Welt vorstellen. Ernst Schulin brachte in den 1970er Jahren diese wichtige Differenz auf den Punkt, indem er sagte, dass es wegen der europäischen Dominanz lange Zeit in der Tat eine europäische Weltgeschichte real gegeben habe. Als Europa aber um 1945 aufgehört habe, diese effektiv auszuüben, habe es auch auf der Vorstellungsebene der historischen Darstellung keine europäische Weltgeschichte im Sinne eines monopolisierten Blicks mehr gegeben.1 Aus unserem wachsenden Globalbewusstsein wären wir nun vermehrt an Weltgeschichten aus nichteuropäischer Sicht interessiert. Dies ist ein Interesse aus dem Wissen, dass man dazu wenig weiss. Der an vergleichenden Studien besonders interessierte Berliner Historiker Hartmut Kaelbe hielt noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Aufsatz fest: Wir wissen trotz des «im Westen» wieder stark gewachsenen Interesses an Weltgeschichte bisher wenig bis nichts über die Weltbilder anderer Weltregionen.2 Das elementare Wissenwollen müsste zunächst damit beginnen, dass man nichteuropäische Weltgeschichten, sofern es solche gibt, überhaupt ein­­ mal – mit entsprechenden sprachlichen Überbrückungshilfen – zur Kenntnis nähme. Dieses Interesse geht von der naheliegenden, aber dennoch fragwürdigen Annahme aus, dass es doch auch nichteuropäische Weltgeschichten geben müsse, wie es europäische Weltgeschichten gibt. Beim aktuellen Kenntnisstand kann man jedoch bezweifeln, dass es in perspektivischer und methodischer Hinsicht nichteuropäische Weltgeschichten im   1 Ernst Schulin (Hrsg.), Universalgeschichte, Einleitung. Köln 1974, S. 15.   2 Hartmut Kaelble, Einleitung zu: Nichtwestliche Geschichtswissenschaften seit 1945: Afrika, Indien, Japan, China. In: Comparativ, 11. Jg. 2001, H. 4. 7–16.


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Sinne von europäischen gibt.3 Ironie des Gutgemeinten: Der Versuch eines Perspektivenwechsels in der Absicht, aus dem Eurozentrischen herauszukommen, scheint gerade wiederum an der Eurozentrik zu scheitern. Es mag überregionale Geschichten aus dem nichteuropäischen Raum geben wie im Falle Chinas und des Osmanischen Reichs mit ihrer je eigenen Ethnozentrik.4 Aber Weltgeschichten sind offenbar ein Produkt der nur von ­Europa betriebenen europäischen Weltpolitik. Auch diejenige von Tamim Ansary geht mit seiner Globalgeschichte aus islamischer Sicht und seiner kritischen Umschreibung des Europabildes zunächst von einer «westlichen» Weltsicht aus.5 Es lohnt sich, einen Moment bei Ansary, Jg. 1948, zu bleiben, der in Afghanistan aufgewachsen und selbst unreligiös ist, obwohl er aus einer Familie der geistlichen Elite stammt: Unter welchen Voraussetzungen ist sein weltgeschichtlicher Beitrag entstanden? Es brauchte offenbar den doppelten Kontakt mit dem Westen. Seine Mutter war Amerikanerin mit finnischjüdischen Wurzeln, er selbst wanderte mit seiner Familie nach San Francisco aus, wurde als Publizist (nicht als Historiker) von einem texanischen

3 Auch Markus Völkel scheint dem zuzuneigen, allerdings ohne dies zu präzisieren: «Eine ‹anti-eurozentrische› Geschichtssicht kann bislang noch nicht auf die euro­ päische historische Methode verzichten» (Geschichtsschreibung: eine Einführung in globaler Perspektive. Köln 2006, S. 344).   4 Gemäss elektronischer Datenbank soll es bereits in vorchristlicher Zeit eine chinesische Weltgeschichte gegeben haben, welche die Zeit 2600 v. Chr. bis in ihre Gegenwart abdeckte. Genannt werden auch ältere islamische Weltgeschichten. Möglicherweise gibt es auch indische Weltgeschichten, man müsste allerdings wissen, worin die spezifischen Weltbilder solcher Darstellungen bestehen. Die Einstufung als Weltgeschichte leuchtet allerdings nicht ein. Sima Qian (145–86 v. Chr.), – sozusagen der «chinesische Herodot» – kannte die Gebiete von Zentralasien und Indien, aber er integrierte sie nicht in seine Geschichte. en.wikipedia.org/wiki/Records_of_ the_Grand_Historian (letzter Zugriff, 17.4.2012) und en.wikipedia.org/wiki/Universal_history (letzter Zugriff, 17.4.2012). Zu Chinas Unterricht in Weltgeschichte, aber nicht zum chinesischen Weltbild gibt es einen Beitrag von Xia Jiguo / Wan Lanjuan in: comparativ, 16. Jg. 2006, H. 1. – Der Inder Kavalam Mādhava Panikkar legt mit Asia and Western Dominance. A Servey oft the Vaso Da Gama Epoch of Asian History 1498–1945. London 1953 (dt. Version Zürich 1955) ein Buch vor, das u.a. ein Ergebnis der Dekolonisation und der Unabhängigkeit von 1947 ist, aber nur bedingt eine eigene Weltgeschichte sein will und ist. Er sagt dazu, es sei der erste Versuch eines asia­tischen Autors, die Geschichte der europäischen Mächte in Asien zu fassen. Dabei dürfte vielleicht der Befund wichtig gewesen sein, dass sich die europäischen Seemächte die asiatischen Landmächte nicht dauerhaft unterwerfen konnten.   5 Tamim Ansary, Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht. Frankfurt a.M. 2010.


Weltgeschichte aus europäischer und nichteuropäischer Sicht

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Verlag beauftragt, eine Schulbuch-Weltgeschichte zu schreiben und bemerkte, dass der Islam im Westen bisher nicht seiner Bedeutung gemäss behandelt worden war. Der vom Islam abgedeckte Teil der Welt sei grösser als derjenige der USA und Europas zusammen. Auch er, der sich erst nach seiner Ankunft im Westen, aber noch vor «Nine Eleven» für den Islam zu interessieren begonnen hatte und im Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen «sein» Thema fand, übernahm auf seine Art den europäischen Zentrismus, indem er den Islam als «unbekannte Mitte» definierte und in der Mitte zwischen der Welt des Mittelmeers und der Welt Chinas ansiedelte (das bekanntlich seinerseits Reich der Mitte sein wollte). Aber er verab­ solutiert seinen Ansatz nicht und spricht sich – unter Berufung auf den westlichen Philosophen Leibniz und dessen Monadenlehre! – für ein multiperspektivisches Zusammenfügen der verschiedenen Weltsichten zu einer wirklich universalen Geschichte der Menschheit aus.6 Kaelbe bemerkt dazu, dass die wenigen angestellten Vergleiche alle auf das Verhältnis westlich–nichtwestlich ausgerichtet sind und es frei von der dominanten Ausrichtung auf den Westen kaum nichtwestliche Weltgeschichten gibt.7 Mit «Westen» sind hier selbstredend Europa und die USA gemeint, man sollte sich aber von Zeit zu Zeit doch vergegenwärtigen, dass auch der «Westen» ein westlich geprägter Begriff ist und diese Weltregion für Japan z.B. im Osten liegt.8 Die weiteren Ausführungen zu dieser Thematik gliedern sich im Folgenden in drei Teile: In einem ersten Teil soll das Europäische an den vorliegenden Weltgeschichten aufgezeigt werden. Aus Gründen der Machbarkeit sollen sich die Beispiele auf die deutschsprachige Historiographie beschränken, diese aber einigermassen systematisch beigezogen werden. Es sei zugegeben und bewusst gemacht: Die Erläuterung einer allgemeineren Problematik anhand einzig der deutschen Historiographie entspricht einer Tendenz, die wir als ethnozentrisch zu bezeichnen und zu kritisieren pflegen. Hier geschieht es immerhin bewusst und entsprechend relativierend. Es waren die grossen Kolonialmächte England und Frankreich, welche in   6 Ebenda, S. 348. Eine günstige Voraussetzung dafür ist in den globalen Verhältnissen angelegt, die sich im Weg des Autors von Kabul nach San Francisco und im Weg seines Buches vom New Yorker Verlag Public Affairs in den Frankfurter Verlag Campus und von da aus in verschiedene Richtungen zum Beispiel auch in dieser Publikation abbilden.   7 Kaelble, 2001 (vgl. Anm. 2).   8 Wie zu erwarten, betont zum Beispiel Ansary, dass der «Nahe Osten» aus der Sicht des persischen Hochlandes ein «Naher Westen» sei (S. 24).


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der Weltgeschichtsschreibung eine führende Position innehatten, beispielsweise mit der Cambridge History und der New Cambridge History9 oder der Histoire générale des civilisations.10 Schon Leopold von Ranke verwies 1881 in der Einleitung zu seiner Weltgeschichte auf eine britische Weltgeschichte, die «ans Licht» getreten sei und bei deutschen Gelehrten «entgegenkommende Aufnahme» gefunden und einen «gleichartigen Fleiss» hervorgerufen habe.11 In einem zweiten Teil soll die Frage angesprochen werden, ob man, in Europa wie anderenorts, überhaupt Weltgeschichten entwickeln kann, die den Ethnozentrismus hinter sich lassen und aus übergeordneter neutraler Sicht der globalen Betrachtungsweise gerecht werden. In einem dritten Teil wird schliesslich das Realverhältnis Europas zur Welt kurz thematisiert.

1. Die europäischen Weltgeschichten Wir können zwischen alten und neuen europäischen Weltgeschichten unterscheiden. Die alten beschränken sich grosso modo auf den europäischen Raum und setzen diesen mit der Welt gleich. Die neuen beziehen den «Rest der Welt» in das historische Panorama zwar mit ein, betrachten ihn aber aus einer europäischen Perspektive. Bei den alten Weltgeschichten müssen wir uns hier nicht länger aufhalten. Dazu gehören Darstellungen der Antike (z.B. Herodots Historien) und dann der christlichen Heilsgeschichte (z.B. Otto von Freising).12 Und aus der Zeit der Moderne eigentlich auch noch Leopold von Ranke.13 Ranke nimmt in der Geschichte der Weltgeschichten zudem einen wichtigen Platz ein, weil er für die allgemeine Tendenz steht, das durch die Aufklärung

9 Cambridge History: Initiant Lord Acton, 1902–1939. New Cambridge History: seit 1957ff 10 Schulin, 1974, S. 11ff. (vgl. Anm. 1). 11 Leopold von Ranke, Weltgeschichte. München 1896ff. 1. Bd. Vorrede, S. 4. Der Verlag Duncker & Humblot behielt sich, was die verstärkte Internationalisierung zeigte, ausdrücklich das Übersetzungsrecht vor. 12 Vgl. etwa Werner Kaegi, Chronica Mundi. Einsiedeln 1954. 13 Ernst Schulin, Leopold von Ranke (1795–1886). In: Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Bd. 1. Göttingen 2006, S. 128–151.


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(Voltaire)14 und den Idealismus (Schiller)15 ins Universale erweiterte Verständnis von Weltgeschichte wieder ins Europäische und Nationale zurückzunehmen.16 Rankes unfertige Weltgeschichte der 1880er Jahre gehört noch zu den alten Weltgeschichten, auch wenn in diesen Jahren jüngere Historiker bereits an Weltgeschichten neueren Typus arbeiteten. So erklärte Ranke, Weltgeschichte würde «in Phantasie und Philosopheme ausarten, wenn sie sich von dem festen Boden der Nationalgeschichte losreissen wollte».17 Die Betonung des Nationalen mit dem Interesse für das Innerstaatliche und Innergesellschaftliche entsprach dem vorherrschenden Bedürfnis der nation building-Phase und der Blütezeit des innereuropäischen Konzerts der Mächte. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden «wirklichen» Weltgeschichten sollten dann dem neuen Orientierungsbedürfnis der konsolidierten Nationalgesellschaften entsprechen, das darin bestand, sich als imperiale Akteure mit der aussereuropäischen Welt zu befassen.18 Ranke ist auch darum exemplarisch, weil sein Fall zeigt, wie manche Weltgeschichten als Alterswerke aus einem Verlagsinteresse an einem gros­ sen Namen entstehen.19 Der Verlag Duncker & Humblot forderte im ersten 14 Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756). – Es müsste auch der recht wichtigen Weltgeschichte von August Ludwig von Schlözer (1772/1785) eine Position gegeben werden. 15 Schillers Jenenser Antrittsrede «Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte» (1789). 16 In Rankes «Epochen der neueren Geschichte» tauchte die grössere Welt immerhin am Horizont auf. 17 Ranke, Weltgeschichte, Bd. 1, S. VIII (Anm. 11). 18 Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte, 1890–1990. Leipzig 2005, 3 Bde. Hier Bd. 1, S. 16. 19 Der alte Ranke – halb blind, halb taub – schrieb sich mit Hilfe von Assistenzen durch die Jahrhunderte hindurch und war gerade bei der Eroberung Konstantinopels, als ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. So blieb er uns und seinem Verleger schuldig, wie er mit der aussereuropäischen Welt nach deren Entdeckung durch die Europäer und wie er mit seiner eigenen Zeit, dem imperialistischen 19. Jahrhundert, umgegangen wäre. Seine eigene Zeit war allerdings auch in der Art präsent, wie er die Anfänge und die weitere Entwicklung behandelte. Rankes Perspektivierung ging es darum, darzulegen, dass Weltgeschichte kulturelle Evolutionsgeschichte und explizit Fortschrittsgeschichte sei, die zeige, wie Völker mit ihren «Eigenthümlichkeiten eine wechselseitige, ergänzende und fördernde Einwirkung auf einander ausüben, wie sich der Bildungsprocess der Menschheit als Ganzes vollzieht». Für Weltgeschichten sind Ursprünge stets ein ganz zentraler Punkt. Wie bei anderen vor ihm ging es auch bei Ranke nicht ohne Versatzstücke aus der Bibel (Gesetzgebung am Sinai und


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Band, bevor die weiteren Bände überhaupt geschrieben waren, «alle Gebildeten» auf, sich dieses «klassische Geschichtswerk» doch anzuschaffen. Marktüberlegungen spielen auch später, wie weitere Beispiele zeigen, bei der Produktion von Weltgeschichten meistens eine wichtige Rolle. Rankes achtbändiges Alterswerk wurde, dem hohen Ansehen des Autors entsprechend, mit Lob bedacht, aber nicht nur. Der um 60 Jahre jüngere Althistoriker Eduard Meyer warf Ranke in harscher Kritik vor, «die Ergebnisse eines halben Jahrhunderts wissenschaftlicher Arbeit ignoriert» zu haben. Rankes Werk zeigt exemplarisch: Die Stärke von Einzel- beziehungsweise Alleinautoren ist allenfalls die durchgehende Perspektive und die Kohärenz der Gesamtdarstellung. Die sichere Schwäche besteht in der Unmöglichkeit, an dieser breiten Front kompetent zu sein. Zu den neuen europäischen Weltgeschichten: Das sind nun diejenigen, die dem aussereuropäischen Raum in grossem Masse Rechnung trugen. Das heisst aber nicht, dass sie deswegen diese Erdteile als gleichwertige Welt­ regionen verstanden hätten. Der weniger bekannte aussereuropäische Raum war dabei in einem gewissen Sinn sogar wichtiger als der eigene Kontinent, er war vor allem exotisch und darum interessanter als der besser bekannte euro­päische – aber nur als Objekt der europäischen Betrachtung. Der weltgeschichtliche Blick hing in hohem Mass vom Status des in die weite Welt blickenden Betrachters ab. Und dieser Status war vor 1914 weltherrschaftlicher als in der Zwischenkriegszeit oder gar nach 1945. Dies gilt insbesondere für die mit den Namen Pflugk-Harttung und Helmolt verbundenen Weltgeschichten. Die Historiker Goetz und Toynbee stehen hier für die Zwischenkriegszeit.20 Landnahme Kanaans). Populäre Weltgeschichten setzten noch im 19. Jahrhundert mit Adam und (nicht Eva, sondern) Noah oder Romulus und Remus ein. – Ranke sah in der Weltgeschichte den «Kampf der Völkersysteme», in dem das historische Leben «sich fortschreitend von einer Nation zur andern, von einem Völkerkreis zum anderen» bewege. Das war im Zeitalter des europäischen Imperialismus kulturell gefasster Sozialdarwinismus. Ranke kombinierte zwei Grundverständnisse der Universalgeschichte miteinander: das Zyklenmodell, das sich an Aufstieg und Niedergang von Mächten, Staaten und Völkern orientiert, und das Stufenmodell, das Positionen im Entwicklungsstrang der Evolution wahrnimmt. Der bekannte Universalhistoriker Ernst Schulin unterscheidet vier Modelle, neben den beiden genannten noch das Strukturmodell, das Vergleiche zwischen Zivilisationskreisen anstellt, und das Beziehungsmodell, das den realen Verhältnissen Rechnung trägt. Vgl. Schulin, 1974 (Anm. 1). 20 Nicht berücksichtigt sei hier, weil es sich mehr um eine philosophische (darwinistische) als um eine historische Sicht handelt, Oswald Spengler mit seinem Hauptwerk «Der Untergang des Abendlandes» (1918).


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Julius von Pflugk-Harttung 1909/10 brachte der Ullstein Verlag, Berlin, eine grossformatige Weltgeschichte in sechs Bänden auf den Markt. Julius von Pflugk-Harttung (Jg. 1848), Mediävist und Archivar am Geheimen Staatsarchiv in Berlin, durfte ihr seinen Namen geben. Der damals 60-jährige Historiker lehrte zwei Jahrzehnte zuvor in den Jahren 1886 bis 1889 als Nachfolger Jacob Burckhardts als Professor für Geschichte an der Universität Basel.21 PflugkHarttungs Weltgeschichte pflegte ein sehr konventionelles Verständnis in der Epochenaufteilung und in der Perspektive auf die aussereuropäischen ­«Er­gänzungsräume».22 Wie Matthias Middell feststellt, verlagert sich das zentrale Handlungsfeld vom Mittelmeerraum der Antike ins nordwestliche Europa, von wo aus die als überlegen eingestuften Europäer zur Expansion über die ganze Welt aufgebrochen seien.23 Die sogenannten Entdeckungen werden, «von jedem Egoismus frei», gedeutet, auf den Dienst an der Wissenschaft zugespitzt und sogar ausgestattet mit einem brüderlichen Mitgefühl: Die fremden Erdteile seien aus ihrer Vereinzelung herausgeholt worden. Für diese Weltgeschichte war es selbstverständlich, dass die europäische Expansion einem guten Recht gefolgt war und dass sie Gutes gebracht und alles nach dem Stufenverständnis «zu immer höherer Reinheit» geführt habe: «Dem einfachen Egoismus der Nahrungssuche folgte der edlere Ehrgeiz der Machbestrebungen, diesem das Motiv religiöser Propaganda und diesem endlich der noch ausserordentlich entwicklungsfähige Motivkranz der humanitären Fürsorge.» Zur europäischen Expansion speziell befähigt sei die teutonische Rasse, zu der ausser den Deutschen die Engländer und Amerikaner gezählt wurden.24 21 1889 musste Pflugk-Harttung in Basel zurücktreten, nachdem er in einer Hamburger Zeitung anonym in einem deutsch-schweizerischen Streit über Zoll- und Asylpolitik gegen die Eidgenossenschaft Stellung bezogen hatte und von den Studenten zunehmend boykottiert worden war. 22 Zuerst erschien Band 4 zur Neuzeit. Das Werk bietet im ersten, erst zwei Jahre später herausgekommenen Band keine Einführung und Darlegungen des Grundverständnisses. Hingegen gibt es ein 25-seitiges Schlusswort des Herausgebers unter dem Titel «Europäische Expansion in Vergangenheit und Gegenwart». 23 Middell, Bd. II, S. 605 (Anm. 18). 24 Karl Lamprecht, Europäische Expansion. In: Weltgeschichte, Bd. 5, S. 599–625. Zit. S. 608. Vgl. Auch Karl Lamprecht, Universalgeschichtliche Probleme. In: ders., Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Neu-Yorker Vorträge. Berlin 1909. S. 103–130. Zu Lamprecht vgl. auch Middell, Weltgeschichtsschreibung, Bd. 1 (Anm. 18).


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Neu an dieser Weltgeschichte war ausser dem Einbezug des aussereuropäischen Raums auch die Verbreiterung der Autorenbasis. Das stark erweiterte Feld wurde jedoch einzig von europäischen Spezialisten und nicht unter Einbezug aussereuropäischer Autoren bearbeitet. Insgesamt wirkten 25 Autoren mit, ausser zwei Österreichern (Wien, Graz) alles Deutsche von Königsberg über Stettin bis Strassburg.25 Es verwundert nicht, dass man bei einem so angelegten Werk im Abschnitt «Asiens Stellung in der Weltgeschichte» lesen kann, ein wesentlicher Unterschied bestehe in der starken Geschlossenheit der asiatischen Massen einerseits und dem individuell gestalteten Leben Europas andererseits. Den Geist dieser Weltgeschichte bringen die folgenden auf ein geflügeltes Wort aus Goethes «Faust» Bezug nehmenden Zeilen zum Ausdruck: «Lange schon bleibt niemand mehr unbekümmert, wenn ,hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen‘, denn die Türkei ist nicht ,hinten‘ mehr, und nichts mehr ist ,hinten‘, nichts mehr ist ,weit‘. Die Welt ist rund geworden ringsum.» Dem könnte man an sich gerne zustimmen. Wie es aber gemeint war, erfährt man im ­direkt anschliessenden Satz: «Unsere Soldaten, unsere Söhne und Brüder haben in China gefochten und kämpfen in Südwestafrika, gegen Völker, deren Namen unsere Väter kaum jemals haben aussprechen hören. Russen haben mit Japanern gerungen. Auf einem Kriegsschauplatz, der größer war als Europa, haben [sic] im Stillen Ozean um die Seemacht gekämpft.»26 Im letzten Band dieses Werkes lesen wir im Beitrag des Ethnologen und Religionswissenschaftlers Thomas Achelis, dass Völker um die Siegespalme ringen würden und sich die «arisch-germanische Gesittung» auf dem Siegeszug befände.27

Hans F. Helmolt Nicht weniger imperialistisch war eine etwa zur gleichen Zeit stark verbreitete, sogar leicht früher entstandene Weltgeschichte von Hans F. Helmolt (Jg. 1865). An dem je nach Ausgabe 8/9 Bände umfassenden Kollektivwerk 25 Pflugk-Harttung steuerte zwei Kapitel bei (Völkerwanderung und Kolonialpolitik). 26 Einführung, in: Weltgeschichte. Berlin 1907, Bd. 4, S. IVf. Diese Passage wurde bereits ausführlich zitiert: von Hartmut Bergenthum, Weltgeschichten im wilhelminischen Deutschland. Innovative Ansätze in der populären Geschichtsschreibung. In: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, 12. Jg., 2002, H. 3, S. 16–56. 27 Achelis, Bd. 8, S. 322, sah in den Chinesen, Japanern und Mexikanern, aber auch in den Griechen und Römern «Halbkulturvölker».


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war ebenfalls eine grössere Zahl von Koautoren beteiligt.28 Helmolt war Schüler des auch an Pflugk-Harttungs Werk beteiligten Welthistorikers Karl Lamprecht und dessen Nachfolger in der Leitung des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte. Die Besonderheit dieser Weltgeschichte bestand darin, dass sie Weltregionen nach ethnogeographischen Gesichtspunkten bildete und über die Meere laufende Verbindungen untereinander für wichtig erklärte. Geographische Zusammenhänge wurden nach eigenen Worten «unter den Händen geschickter Bearbeiter» zu einem «inneren» ­geschichtlichen Zusammenhang gestaltet.29 Ihre völlig neue Einteilung in der Präsentation zeigte, dass um 1900 die klassisch-kanonische Geschichtsschreibung einen Teil ihrer Verbindlichkeit eingebüsst hatte und im Namen der strengen Wissenschaftlichkeit neue Konzepte entwickelt werden konnten. Die Sicht dieses Sammelwerks war trotz seiner Weltperspektive (beziehungsweise gerade mit seiner Weltperspektive) nicht weniger eurozentrisch und imperialistisch als die Sicht des zeitgenössischen Pflugk-Harttung. Die leitende Vorstellung ging davon aus, dass ursprüngliche Teilgebiete nach und nach mit der europäisch bestimmten Weltgeschichte in Berührung kämen. Im Originalton heisst es: «Aus der ursprünglich isolierten, mit wallenden Nebelmassen verschleierten Stellung des Landes und Volkes erhebt sich allmählich das fesselnde Bild einer weitverzweigten geschichtlichen Entwicklung, die früher oder später sich mit der tonangebenden europäischen Kultur berührt.»30 Vom 5. Band wird gesagt, hier würden die Völker «gemustert» unter dem Gesichtspunkt, ob sie und wie sie «eine hervorragende Rolle für dieses grosse Drama, das im besonderen Sinne für uns Europäer die Weltgeschichte ausmacht», beanspruchen könnten.31 Konkrete Momente dieses globalen Einbezugs wie die damals zeitgenössische britische Tibetexpedition von 1904 werden gesehen als «Möglichkeit einer Verknüpfung völlig entlegener, durch fast unüberschreitbare Gebirge und unwirtliche Einöden geschützter Erdenwinkel mit weitausschauenden Zielen und Problemen unserer Staatskunst».32

28 Hans F. Helmolt, Weltgeschichte, 1. Aufl. in 8 Bänden, Leipzig/Wien 1899–1907, 2. Aufl. 1913 bis 1922. 29 Ebenda, Bd. 1, S. 287. Bestimmend waren Friedrich Ratzels anthropogeografische Vorstellungen von der «Menschheit als Lebenserscheinung der Erde». 30 Ebenda, S. 288. 31 Ebenda, S. 293. 32 Ebenda, S. 289.


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Vom Mittleren Osten (Irak) wird gesagt, dass nach der Hochkultur der Frühzeit ein «hoffnungsloser Untergang» eingetreten sei und jetzt in «unermesslicher Arbeit» ein geistiger und wirtschaftlicher Wiederaufschwung herbeigeführt werden müsse. Und weiter: «Nur Europa kann hier der Lehrmeister sein und einen Teil der Dankesschuld abtragen für die überreiche Erbschaft, die ihm die alten Völker Westasiens überliefert haben.»33 Von Ägypten heisst es anerkennend, es sei «unter unseren Augen durch britisches Geschick und britische Tatkraft wieder ein vielumworbener Gegenstand europäischer Finanzpolitik geworden».34 Das Werk setzt in seiner 1. Ausgabe mit einer Geschichte des amerikanischen Kontinents ein.35 Man kann dies als Ausdruck der gewachsenen Bedeutungsbeimessung der USA nach ihrem Sieg von 1898 über die alteuropäische Macht Spanien sehen. Die Vereinigten Staaten hätten damit, heisst es, begonnen, «Weltpolitik im grossen Stil zu treiben und damit aus dem bisherigen beschränkten Rahmen herauszutreten».36 Das Innovative bestand darin, dass die Geschichte dieses Kontinents gleichsam von innen her und das heisst seine «Entdeckung» zu Beginn des 16. Jahrhunderts ansatzweise als Intervention gesehen wurde. Dass eine «fremde Rasse» die einheimische besiegte, gehörte ihres Erachtens zu «den wenigen allgemeinen Gesetzen der Kulturgeschichte»37. Es sei abzusehen, dass die Nordamerikaner, mit ihrem «entscheidenden Übergewicht germanischer Elemente», eine neue Rasse bildeten, die ihrem britischen Mutterland höchstwahrscheinlich eine «sehr wirksame» Konkurrenz bilden werde.38 Von da aus ging die historiographische Reise über den Stillen Ozean nach der Weltgegend, die als «Ostasien und Ozeanien» bezeichnet wurde und den Raum von Sibirien bis zum Indischen Ozean umfasste, weiter nach Westasien und Afrika, dann zu den Mittelmeervölkern, um die letzten beiden Bände speziell ausführlich Westeuropa zu widmen und mit dem Blick

33 Ebenda. 34 Ebenda, S. 291. Zur deutschen Kolonialpolitik: Sie wird als «dornenvoll» und «uns eben durch unsere Weltmachtstellung unweigerlich aufgezwungen» bezeichnet (S. 308). Später wird affirmativ die kaiserliche Parole zitiert: «Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser» (S. 309). 35 Die Geschichte Amerikas wurde in der 2. Aufl. im letzten Band behandelt. 36 Ebenda, S. 286. 37 Ebenda. 38 Ebenda, S. 287.


Weltgeschichte aus europäischer und nichteuropäischer Sicht

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über den Atlantik wiederum auf Amerika zu stossen – «so reicht das Ende dem Anfang die Hände».39

Walter Goetz Zwei Jahrzehnte später, nach dem Ersten Weltkrieg, erschien unter der Leitung von Walter Goetz die Propyläen Weltgeschichte, die sich kaum von der Vorgängergeschichte unterschied, sich in der Berücksichtigung der aussereuropäischen Welt eher einschränkte, wie ja Deutschlands Weltstellung nach 1918 ebenfalls zurückgegangen war.40 Der Herausgeber versuchte zwar, nichtdeutsche Europäer als Autoren zu gewinnen (Pirenne, Aulard, Gooch), es blieb aber, abgesehen von einem Italiener, dem Römer de Sanctis, der über Rom schrieb, bei deutschen Beiträgen, 38 an der Zahl.41 Jeder Band wurde, anders als bei Pflugk-Harttung, durch eine solide Einleitung des Herausgebers Goetz eröffnet. Eine auffallende Bevorzugung galt der älteren Zeit: Das auf zehn Bände angelegte Werk begann in Band 1 mit dem «Erwachen der Menschheit» und erreicht erst im 7. Band die Französische Revolution.42 Ziel sei es, die Geschichte der menschlichen Kultur vorzustellen, die von einem gemeinsamen Urvolk ihren Anfang hatte, dem aber ein Auseinandergehen folgte und, so die Überzeugung, mit immer engerer Verbindung aller Völker in der Zukunft enden werde. Man wolle die immer stärker in Einzelwissenschaften, in Zersplitterung und Zweifel versinkende Zeit zur Besinnung auf die grossen Zusammenhänge alles Lebens zurückführen.

Arnold J. Toynbee Wegen der überragenden Bedeutung muss – im Sinne einer Ausnahme – hier kurz von der grossen Leistung des britischen Kulturhistorikers Arnold J. Toynbee (1889–1975) die Rede sein, auch wenn er nicht zur deutschen Historiographie gehört. Sein 12-bändiges Werk, obwohl 1934 begonnen, 39 Achelis, Bd. 8, S. 308 (vgl. Anm. 27). 40 Goetz war Lamprecht-Nachfolger, der in Pflugk-Harttungs 10. Band den abschliessenden Beitrag verfasst hat. 41 Vgl. Middell, Bd. 2, S. 637ff. (Anm. 18). 42 Der 9. Band hatte die Entstehung des Weltstaatensystems zum Inhalt, der 10. Band das Zeitalter des Imperialismus von 1890 bis 1933.


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kann ebenfalls aus der weiteren Erosion des alteuropäischen Selbstverständnisses verstanden werden. Toynbee, der letzte grosse Universalhistoriker, vermittelte in seinem Hauptwerk «A Study of History» (deutsch: Der Gang der Weltgeschichte, 1949) eine Analyse der Bedingungen von Entstehung, Aufstieg und Verfall von Kulturen (civilizations). Er sah von einem allgemeinen Evolutions- und Stufenmodell ab, ihn interessierten die jeweils gegebenen Entwicklungsbedingungen und die zeitgleichen kollektiven Reaktionen darauf, dies nach dem mittlerweile bekannten Muster der challenges und der von den Herausgeforderten darauf entwickelten responses.43

43 Dabei rückte er vom barock-darwinistischen Paradigma des Aufstiegs und Niedergangs von Völkern bzw. Kulturen weitgehend ab, seine Entwicklungsvorstellungen gingen davon aus, dass die Prozesse prinzipiell ergebnisoffen seien, je nach der Fähigkeit, geeignete Antworten (responses) auf anfallende Herausforderungen (challenges) zu finden. Unangemessene (zu grosse oder zu kleine) Herausforderungen durch Natur und territoriale Gegebenheiten können in diesem Verständnis gute Entwicklung behindern. Beispiele für schlechte Bedingungen: Polynesien/Inuit; Beispiel für gute Bedingungen: Altägypten. Entscheidende Triebkraft der Geschichte seien nicht abstrakte Ideen oder Gesetzmässigkeiten, sondern sei das Wirken konkreter Menschen. Wichtiger als Entstehung und Untergang sei die Kategorie der Transformation in eine oder mehrere Tochterkulturen. Ein Beispiel für solche Transformationen ist die aus der römisch-hellenistischen Kultur hervorgegangene byzantinische Kultur. In Toynbees Geschichtsbild war die Vision eines friedlichen Weltstaats angelegt. Nach dem Ersten Weltkrieg positionierte er sich in dieser Richtung, vgl. The evolution of world-peace. Oxford 1921. – In seinem letzten, universalgeschichtlichen Werk «Menschheit und Mutter Erde» von 1974 schreibt er: «Die gegenwärtigen unabhängigen Regionalstaaten sind weder imstande, den Frieden zu bewahren, noch die Biosphäre durch die Verunreinigung durch den Menschen zu schützen oder ihre unersetzlichen Rohstoffquellen zu erhalten. Diese politische Anarchie darf nicht länger andauern in einer Ökumene, die längst auf technischem und wirtschaftlichem Gebiet eine Einheit geworden ist. Was seit fünftausend Jahren nötig ist – und sich in der Technologie seit hundert Jahren als durchführbar erwiesen hat –, ist eine weltumfassende politische Organisation, bestehend aus einzelnen Zellen von den Ausmaßen der neolithischen Dorfgemeinschaften – so klein und überschaubar, dass jedes Mitglied das andere kennt und doch ein Bürger des Weltstaates ist. [...] In einem Zeitalter, in dem sich die Menschheit die Beherrschung der Atomkraft angeeignet hat, kann die politische Einigung nur freiwillig erfolgen. Da sie jedoch offenbar nur widerstrebend akzeptiert werden wird, wird sie wahrscheinlich so lange hinausgezögert werden, bis die Menschheit sich weitere Katastrophen zugefügt hat, Katastrophen solchen Ausmaßes, dass sie schließlich in eine globale politische Einheit als kleinerem Übel einwilligen wird» (Ausgabe Düsseldorf 1979, S. 501ff., siehe auch: http:// de.wikipedia.org/wiki/Arnold_J._Toynbee, letzter Zugriff 17.4.2012).


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