Gefährliche Filme - gefährliche Zensur?

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Gefährliche Filme – gefährliche Zensur?

Martin Eberli

Der Autor Martin Eberli, geboren 1951, studierte an der Universität Luzern Geschichte und promovierte mit der vorliegenden Arbeit bei Aram Mattioli. Der Autor unterrichtet Deutsch und Geschichte an der Abteilung Berufsmaturität der Berufsfachschule des KV Luzern.

Martin Eberli

Gefährliche Filme – gefährliche Zensur?

In der Frühzeit des Films, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde das neue Unterhaltungsmedium als «Schmutz und Schund» geschmäht. Diese Studie geht der Entstehung erster Vorschriften für Kinobetriebe in den Kantonen Luzern, Zürich und der Waadt nach, als Zensurparagrafen Filmvorführungen für Erwachsene einschränkten und in der Folge Filme von Kontrolleuren wegen «Verletzung des sittlichen Empfindens» verboten oder beschnitten wurden. Ergründet werden hier bürgerliche und religiöse Moralvorstellungen, mit denen ­Zensoren dauerhafte Dämme gegen Verrohung und Sittenzerfall errichten wollten. Zensurkommissionen gingen damit weit über jene Publikationsbeschränkungen hinaus, welche der Generalstab während des Zweiten Weltkrieges Presse, Radio und Film aus politischen Gründen auferlegte. Quervergleiche zwischen einzelnen Kantonen legen einerseits verschiedene Zensurmotive offen, anderseits dokumentieren Längsschnitte durch unterschiedliche Zensurregime den Wertewandel bis in die neuste Zeit, als mündige Bürgerinnen und Bürger in Volksabstimmungen die Zensur in den Kantonen Zürich und Luzern 1971 aufhoben und auch Filmvorführungen dem Strafrecht unterstellten. Bilddokumente sowie zahlreiche Übersichten, Tabellen und Grafiken im Anhang illustrieren den Band.

Filmzensur im Kanton Luzern im Vergleich mit den Filmkontrollen der Kantone Zürich und Waadt

I S B N 978-3-7965-2853-8

Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch

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783796 528538

Luzerner Historische Veröffentlichungen




Luzerner Historische VerĂśffentlichungen Band 44 Herausgegeben vom Staatsarchiv des Kantons Luzern und vom Stadtarchiv Luzern Redaktion: AndrĂŠ Heinzer


Martin Eberli

Gefährliche Filme – gefährliche Zensur? Filmzensur im Kanton Luzern im Vergleich mit den Filmkontrollen der Kantone Zürich und Waadt

Schwabe Verlag Basel


Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern

Abbildung auf dem Umschlag: Standbild des Filmes «Et Dieu… créa la femme» mit der Bewertung des «Filmberaters» Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2853-8 www.schwabeverlag.ch


Vorwort

«Ceci n’est pas une pipe», schrieb der Maler René Magritte auf das surrealistische Bild, das eine Tabakpfeife zeigt, und verwies damit auf den Unterschied zwischen der realen Pfeife und dem Bild davon. Als die Bilder laufen gelernt hatten und Kinematographen Bildergeschichten erzählten, waren diese Erzählungen so wenig eindeutig wie die Bilder, die sie zeigten. Staatliche und kirchliche Autoritäten erkannten in den ersten Filmen gefährliche Unsitte und reagierten darauf entsprechend verunsichert: Mit rigo­ rosen Vorschriften und Zensur versuchten sie, dem neuen Medium beizukommen. Die Betrachtungsweisen dieser Autoritäten habe ich mit der vorliegenden Arbeit erfasst und bin dabei auf ästhetische, politische und moralische Aspekte gestossen, die mich in ihrer Vielfalt herausforderten. In der Folge richtete sich mein besonderes ­Interesse auf das ausgehende 19. Jahrhundert, als die bildungsbürgerlich geprägte Elite mit ihren rigiden Kunst- und Moralvorstellungen auf die Kultur der modernen Industriegesellschaft traf. Filmzensur geht zwar von Filmen aus – das Thema greift aber in verschiedene kultur- und sozialwissenschaftliche Bereiche hinein und tangiert auch die Rechtswissenschaft. Dieser interdisziplinäre Forschungsansatz hat mich ganz besonders gereizt und weist Parallelen zu aktuellen Diskussionen um Pornografie und Gewalt im Internet auf. Spätestens hier stellt sich die Frage nach unserem Verständnis von gesellschaftlicher ­Liberalität. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Aram Mattioli, danke ich für seine sorgfältige Betreuung, seine wertvolle fachliche Unterstützung sowie die nötigen Aufmunterungen. Dank schulde ich auch Prof. Dr. Guy Marchal, der mich in seinen Publikationen und Kolloquien zur kritischen Betrachtung von Bildern inspirierte. Ich danke ebenso den Filmwissenschaftlern Dr. Viktor Sidler und Roland Cosandey für ihre grundlegenden ­Anregungen bei der Entstehung der Arbeit. Mitstudierenden und unzähligen Menschen im Bekanntenkreis bin ich für ihre unermüdliche Bereitschaft dankbar, mit mir neue Gedanken kritisch zu diskutieren und neue Ideen anzustossen. Im Laufe meiner Arbeit haben mich viele Personen tatkräftig unterstützt. Vorab danke ich den Teams der Staatsarchive Luzern, Waadt und Zürich, die mich beim Einblick in die Archivalien berieten. Ohne die sachkundige und zuvorkommende Mitarbeit, die wertvollen konkreten Hinweise sowie die freundliche Hilfsbereitschaft aller Archivmitarbeitenden hätte ich das Werk nie erstellen können. Beim Finden von Illustrationen konnte ich auf die wertvolle Mitarbeit der Cinémathèque Suisse in Zürich und Lausanne sowie auf die Stadtarchive von Luzern und Zürich zählen. Roman Bussmann bin ich zu Dank für seine entscheidenden Auskünfte aus dem Innern der Zensurbehörde verpflichtet. Im Weiteren möchte ich an dieser Stelle meines verstorbenen Kollegen Hansruedi Beck gedenken. Er gewährte mir seinerzeit in verdankenswerter Weise erste Einblicke in die Akten des ehemaligen Filmklubs Luzern, die inzwischen von Peter Leimgruber im stattkino verwahrt werden. Schliesslich danke ich den Bibliotheks­angestellten der


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Zentral- und Hochschulbibliothek in Luzern, die meinen Wünschen stets aufmerksam entgegenkamen. Mit ihren Tipps und Anleitungen im Bereich der elektronischen Aufbereitung der Daten sind mir Johnny Walker und Philipp Haas beigestanden, denen ich dafür ebenfalls aufrichtig danke. Für sein kritisches und konstruktives Gegenlesen der Arbeit bin ich Alois Hartmann besonders dankbar. Seine Einwände haben meine Sicht auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geschärft. Es ehrt mich, dass dieser Band in der Reihe der Luzerner Historischen Veröffentlichungen erscheint. Die Herausgabe haben grosszügigerweise das Luzerner Stadt­archiv und das Staatsarchiv übernommen. André Heinzer vom Staatsarchiv Luzern hat als wissenschaftlicher Redaktor Verbesserungen eingebracht sowie in minutiöser Kleinarbeit technische und administrative Details geregelt. Ihm danke ich herzlich für seine Arbeit. Meine Frau Claudia Emmenegger und unsere Tochter Jana haben mich während der ganzen Phase meiner Forschungsarbeit grosszügig unterstützt und liebevoll betreut. Ihnen beiden widme ich das Buch in herzlicher Dankbarkeit. Horw, April 2012, Martin Eberli


Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5 1. Einleitung

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1.1 Zum Thema

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1.2 Anfänge des Films und der Filmzensur

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1.3 Föderalismus und Zensur

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1.4 Zensurdiskurse

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1.5 Fragestellung und Forschungsansatz

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1.6 Forschungsstand

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1.7 Quellen und Archive

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1.8 Aufbau und Methode 22 2. Bürger setzen Werte

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2.1 Bürgerlichkeit und Katholizismus 2.1.1 Das bürgerliche Wertegebäude 2.1.2 Die Moral in der katholischen Subgesellschaft

26 26 27

2.2 Lesesucht, Hygienediskurs

29

2.3 Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, Sittlichkeitsvereine

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2.4 Schmutz und Schund

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2.5 Im Banne des Films 2.5.1 Kinos setzen sich durch 2.5.2 Kino in der katholischen Kirche 2.5.3 Der Film im Schmutz- und Schunddiskurs

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Topos 1 – Der Film verdirbt die Jugend; Topos 2 – Der Film schädigt die Gesundheit; Topos 3 – Der Film unterhält die städtische Unterschicht; Topos 4 – Der Film leitet zu Verbrechen an; Topos 5 – Der Film «entsittlicht» die Gesellschaft; Topos 6 – Der Film verschlingt Millionen; Topos 7 – Der Film ist subversiv

2.5.4 «Kinoreform»-Bewegung 2.5.5 Filmkritik der Katholischen Aktion in der Schweiz 2.5.6 Behördliche Massnahmen gegen den Film im Vorfeld des Zensurzeitalters 2.5.7 Filmbesprechungen

54 56 60 64


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Gefährliche Filme – gefährliche Zensur?

3. Sittlichkeit und Zensur

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3.1 Recht, Sittlichkeit und Moral

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3.2 Zensur 3.2.1 Zensurdefinitionen 3.2.2 Typen der Zensur 3.2.3 Wirkung der Zensur

69 70 71 73

3.3 Hollywoods Zensur 3.3.1 Hollywoods Zensursystem 3.3.2 Hollywoods Zensurrhetorik 3.3.3 Hollywoods moralische Werte

74 75 77 80

3.4 Zensurdiskurse 3.4.1 Zensur und Öffentlichkeit 3.4.2 Das Denkkollektiv-Modell

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3.5 Katholische Zensur 3.5.1 Vigilanti cura 3.5.2 Miranda prorsus 3.5.3 Der katholisch-konservative Zensor Korner 3.5.4 Der Filmberater 3.5.5 Der Filmberater als «heimlicher» Zensor?

85 88 90 91 95 104

4. Zensurregime

107

4.1 Föderalistische oder zentralistische Zensur? 4.1.1 Im Dienst der Geistigen Landesverteidigung 4.1.2 Schweizerisches Strafgesetzbuch

108 112 116

4.2 Luzern: Rechtliche Grundlagen 4.2.1 Städtische Verordnung 4.2.2 Kantonales Lichtspielgesetz 1917 4.2.3 Gesetzesrevision 1942 4.2.4 Kantonale Filmkontrollkommission 4.2.5 Zensurverfahren

117 117 119 124 129 131

4.3 Filmzensur in Zürich 4.3.1 Rechtliche Grundlagen 4.3.2 Zensurverfahren

135 137 142

4.4 Filmkontrolle in der Waadt 4.4.1 Rechtliche Grundlagen 4.4.2 Zensurverfahren

146 147 151


Inhaltsverzeichnis

4.5 Kantone im Vergleich 4.5.1 Rechtsgrundlagen im Vergleich 4.5.2 Zensurmechanik 4.5.3 Zensurkommissionen 4.5.4 Zensurmotive

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158 159 159 163 163

Verletzung des sittlichen Empfindens; Verrohende Wirkung; Verletzung des religiösen Empfindens; Verletzung des nationalen Empfindens

4.5.5 Kantonale Filmkontrolle in Zahlen 171

5. Fallbeispiele

177

5.1 Frauennot – Frauenglück (1929)

178

5.2 Die Dreigroschenoper (1931)

185

5.3 Ossessione (1943)

190

5.4 Duel in the sun (1946)

194

5.5 La ronde / Der Reigen (1950)

199

5.6 Du rififi chez les hommes (1955)

203

5.7 Nous irons à l’île du Levant / Lockender Süden (1956)

211

5.8 Divorzio all’italiana (1961)

214

5.9 Tystnaden / Das Schweigen (1963)

217

5.10 Das Wunder der Liebe (1967)

222

5.11 Flesh (1968) 226 6. Wider die Zensur

231

6.1 Moralvorstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg 6.1.1 Katholische Sittlichkeit im Film 6.1.2 Mode und Nacktheit 6.1.3 Ehe- und Sexualmoral

232 233 235 239

6.2 «Sexuelle Befreiung» 6.2.1 Sex- und Pornofilme 6.2.2 Die Sprache der Zensur

240 241 244

6.3 Gesellschaftliche Liberalisierung 6.3.1 Vom «liberalen Diskurs» zur «sexuellen Revolution» 6.3.2 Kirchliche Filmbewertung nach dem Konzil 6.3.3 Zerfall der «Legion of Decency» 6.3.4 Filmklub Luzern

247 248 249 250 251


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Gefährliche Filme – gefährliche Zensur?

6.4 Aufhebung der Filmzensur 6.4.1 Neues Filmgesetz von 1971 in Zürich

Ausserparlamentarische Beratungskommission; Debatte im Kantonsrat; «Jugendgefährdende Schriften»; Volksabstimmung

6.4.2 Neues Filmgesetz von 1971 in Luzern

261 261

268

Studienkommission; Stellungnahme des Filmklubs; Botschaft des Regierungsrates; Kommissionsberatungen; Debatte im Grossen Rat; Referendum; Abstimmung vom 28. November 1971

6.5 Gesellschaft ohne Zensur 292 7. Erkenntnisse und offene Fragen

295

7.1 Zensurtraditionen 7.1.1 Liberalismus und Zensur 7.1.2 Macht der «Sittlichkeit» 7.1.3 «Schmutz und Schund»

295 295 296 296

7.2 … so hat es doch Methode

297

7.3 Zensur beschränkt den freien Markt

299

7.4 Film als Kulturträger 300 Tabellen 12–16

303

Quellen und Literatur

327

Quellen 327 Ungedruckte Quellen 327 Mündliche Quellen 328 Gedruckte Quellen 328 Zeitungen und Zeitschriften 329 Literatur 330 Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abbildungen

339

Register 341


1. Einleitung

Rundfunk und Film sind einfach wirksamer als das Buch; sie haben sich aber noch nicht ihre Freiheit erkämpft. Also kann man sie knuten, also kann man sie zensurieren.1 1.1 Zum Thema In der Schweiz wurden bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Filme zensuriert.2 Filmzensur verbindet sich heute meistens mit der Vorstellung von «Sittenfilmen», ein euphemistischer Begriff dafür, was diesen Filmen – laut Zensur – fehlte, nämlich Sitte und Anstand. Filmliebhaber erinnern sich an Ingmar Bergmans Schweigen (1963), aus dem für die Aufführung in den meisten europäischen Ländern mindestens die Szene mit der sich selbst befriedigenden Frau herausgeschnitten werden musste. Sie denken ebenso an damals verbotene Unterhaltungs- und Gangsterfilme aus den 1950er Jahren, die heute Kultstatus haben, wie z. B. Et Dieu… créa la femme von Roger Vadim mit Brigitte Bardot (1956) oder an Du rififi chez les hommes von Jules Dassin (1955) aus der Epoche des «Film Noir». Dass «Russenfilme» in den 1930er Jahren im Kanton Waadt generell geächtet waren oder dass im Jahr 1929 der Film Frauennot – Frauenglück, den Eduard Tissé und Sergej Eisenstein zusammen gedreht hatten, sowohl in Zürich als auch in Basel zu breiten Protestaktionen führte, ist heute kaum mehr bekannt. Die erwähnten Filme stehen beispielhaft für verbotene Darstellungen von Nacktheit und Sexualität, Kriminalität und Gewalt sowie missliebiger politischer Ideen. In dieser Arbeit werden Ziele, Motive und Vorgehensweisen staatlicher Stellen erforscht, die systematisch, weitgehend und nachdrücklich in die Informations- und Kunstfreiheit eingriffen, indem sie das Filmangebot kontrollierten, Filme beschnitten oder deren Aufführung verboten. Verschiedene Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass um den Begriff Zensur eine babylonische Sprachverwirrung herrscht. Wer heute Zensur sagt, meint damit Verbote, eingeschwärzte Text- oder Bildstellen, Lücken und durch Pfeiftöne überdeckte gesprochene Texte, aber auch Kunstausstellungen, die, von viel Lärm begleitet, geschlossen werden.3 Redaktoren beziehungsweise Direktoren eines Mediums sind keine Zensoren, obwohl sie schliesslich bestimmen und verantworten, was veröffentlicht wird. Was wie ein «glasklarer Fall von Zensur»4 erscheint, zeigt möglicherweise 1 2

3 4

Tucholsky 1990. Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel alias Peter Panter, Die Rotstiftschere 110f. Das Zitat stammt von 1931. Im Schweizer Sprachgebrauch ist «zensurieren» üblicher, in Deutschland hingegen «zensieren». Im Folgenden wird «zensurieren» verwendet, weil der Begriff fast ausschliesslich auf die Schweiz bezogen wird, vgl. Duden 1. Vgl. Borjesson 2004, Studer 2001. Vgl. Neue Zürcher Zeitung, 3. Juni 2006. Der Geschäftsführer der österreichischen Autorengewerkschaft bezeichnete die Nichtvergabe des Heine-Preises im Mai 2006 an Peter Handke, der sich wiederholt an die


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Gefährliche Filme – gefährliche Zensur?

einen Konflikt im dialektischen Verhältnis zwischen individuellem Anspruch auf persönliche Freiheit in einer bürgerlichen Gesellschaft einerseits und der Verteidigung moralischer Werte und politischer Strukturen anderseits.5 Eingriffe staatlicher Autoritäten aus Übereifer, politische Druckversuche oder restriktive Öffentlichkeitsarbeit sind nicht Zensur, aber initiieren oder vertiefen paradoxerweise sogar Diskussionen über das, was verschwiegen werden sollte.6 Der Schweizerische Video-Verband führt zusammen mit der Stadtpolizei Bern eine aktuelle «Liste problematischer Filme» mit den Titeln einiger Dutzend verbotener Videofilme, vor allem aus dem Genre «Kannibalen- und Kettensägefilme». Ein Aufführungsverbot gilt laut Schweizer Strafgesetzbuch (StGB) für Gewaltdarstellungen sowie für Pornografie, insbesondere für Darstellungen sexueller Akte mit Kindern.7 Auch in der Schweiz sind «Propaganda- und Hetzfilme»8 aus der Nazizeit nicht erhältlich, sondern gemäss der Antirassismus-Strafnorm seit dem 1. Januar 1995 ausdrücklich verboten.9 1.2 Anfänge des Films und der Filmzensur Am 28. Dezember 1895 führten die Gebrüder Louis und Auguste Lumière ihren «Cinématographe» im Untergeschoss des Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris erstmals öffentlich gegen Entgelt vor.10 In der Folge wurden Filmvorstellungen weltweit und auch hierzulande zu beliebten Jahrmarktsensationen. Mit den «lebenden Bildern», einem universal verständlichen Massenprodukt, zogen Schausteller für geringes Eintrittsgeld ein Massenpublikum in ihren Bann. In engen Vorstadtkinos und in Varie­ tés wurden Kinematographen11 bald sesshaft und spulten zwischen Zaubertricks und

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7  8

9 10 11

Seite von Slobodan Milosevic gestellt hatte, als «glasklaren Fall von Zensur». Das Düsseldorfer Stadt­ parlament, das sich in diesem Fall über eine fachliche Preisjury hinwegsetzte, hat die Veröffentlichung von Handkes Schriften nicht tangiert und war deshalb nicht Zensurbehörde. Habermas 1990, 196f. Im Februar 2007 wollte das Kino Xenix in Zürich den Film Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975) des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini zeigen. Aufgrund von Gesprächen mit der Stadtpolizei Zürich entschieden die Veranstalter, auf die Vorführung zu verzichten, nachdem der Film als gewaltverherrlichend und pornografisch eingestuft worden war. Kurz darauf wider­ rief jedoch die Polizei ihre eigene Einschätzung, weil sich gezeigt habe, dass der künstlerische Wert des Films zu wenig gewürdigt worden sei und die Kunstfreiheit durch die Verfassung garantiert werde, vgl. Neue ­Zürcher Zeitung, 15. Februar 2007. Die Kunstausstellung von Thomas Hirschhorn im Centre culturel Suisse in Paris, «Swiss Democracy» 2004, stand unter dem Patronat der Pro Helvetia und setzte sich kritisch mit dem Schweiz-Bild auseinander. Schweizer Parlamentarier schwangen sich zu Kunstsachverständigen auf, als sie aufgrund der Hirschhorn-Ausstellung in Paris im Jahr 2004 generell zeitgenössische Kunst abqualifizierten und durch Budgetkürzung deren Förderung hintertrieben – aber sie übten keine Zensur aus.  Vgl. Strafgesetzbuch, 311.0, Artikel 135 und 197. «Nur einige wenige offensive Propaganda-Filme gelten aufgrund ihres rassistischen, antisemitischen, ­militaristischen oder volksverhetzenden Inhalts als ‹Vorbehaltsfilme›, die nur in geschlossenen Veranstaltungen mit wissenschaftlich fundierter Einführung und Diskussion gezeigt werden dürfen», URL: FilmPortal.de. Vgl. Strafgesetzbuch, 311.0, Artikel 261bis. Faulstich 2006, 101. Das Datum variiert je nach Autor zwischen dem 25. bis 28. Dezember 1895. Der Apparat zur Wiedergabe von Filmen hiess auf Deutsch «Kinematograph». Die vorliegenden Quellen enthalten das Wort «Kinematograph» bzw. «Kinematographie» in der alten Schreibweise und wurden so in


Einleitung

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Abbildung 1: Die Betreiber des Kinos Moderne, die Brüder Morandini, gelten als eigentliche Luzerner Kinopioniere. 1908 hatten sie in Luzern erstmals ein Kino, das Pathé, eröffnet, weitere Kinoeröffnungen folgten. Bis Ende der 1940er Jahre galten die Morandini als führende Kinobetreiberfamilie in Luzern.

Tanzeinlagen kurze Filme ab. Abgesehen vom Ort der Aufführungen vermochten weder Aufnahme- noch Wiedergabetechnik und ebenso wenig die Thematik der ersten Filme gehobenen ästhetischen Ansprüchen des Bildungsbürgertums zu genügen. Im Gegenteil: Gemessen an den Darbietungen eines Theaterschauspielers auf der Bühne galten die Leistungen der Filmschauspieler in Filmen, weil sie auf sprachlose Gebärden reduziert, technisch verfremdet, industriell gefertigt und beliebig reproduzierbar waren, nicht als «künstlerisch». Entgegen heutigen Vorstellungen galt der Film in seinen ersten Jahrzehnten nicht als «Septième Art», wie sie der Schriftsteller Riciotto Canudo 1911 propagierte, sondern wurde als minderwertige Unterhaltung wahrgenommen. Wo zahlreiche luxuriöse Hotels den vielen Touristen standesgemässe Unterkunft boten, sollte es ihnen nicht an Unterhaltung fehlen, mögen die ersten Kinounternehmer in der «Leuchtenstadt» Luzern spekuliert haben: Von den sechs Kinobetrieben, die vor dem Ersten Weltkrieg, also noch zur Blütezeit des Luzerner Fremdenverkehrs, eröffnet wurden, erstanden drei (Apollo, Royal und Renoma) in unmittelbarer Nähe der gros­sen Hotels auf der rechten Seeseite. Repräsentative Lichtspielpaläste, mit grossartigen Theaterräumen, wie sie damals in Grossstädten errichtet wurden,12 fehlten aber in Luzern bis zum Bau des neuen Saals des Grand Cinéma Moderne im Jahr 1920.13 Laut

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diese Arbeit übernommen. – Synonyme für die heute gängige Bezeichnung «Kino» waren u.a. «Kinema», «Kinematographentheater», «Lichtspiel» oder «Lichtbühne». Ausgestattet mit anderen Projektionsapparaten hies­sen sie «Bioskop». «Vitascope», «Biograph» sowie in Berlin «Ki[e]ntopp» sind weitere Begriffe für Filmprojektoren bzw. Projektionstechniken; zu «Kintopp» vgl. Diedrichs 1996, 36, zu «Fachausdrückliches» Güttinger 1984/2, 23ff. Vgl. Moreck 1926, 19f. Vgl. Bucher 1971.


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Einschätzungen der Behörden stellten Kinematographensäle wahre Goldgruben für die Betreiber dar, weshalb die Stadt trotz ständiger Proteste der Kinobetreiber beträchtliche monatliche Konzessionsgebühren erhob.14 Die Kinematographen waren nicht nur bei vielen Erwachsenen in ihrer kargen Freizeit beliebt, sondern speziell auch bei Kindern und Jugendlichen, trotz stereotyper Verunglimpfungen des Mediums seitens kirchlicher und bürgerlicher Sittlichkeitsvereine. Behörden schoben ihre Verantwortung für die Sicherheit des Kinopublikums vor – angeblich galt ihre Sorge der Jugend – und erliessen für «Lichtspieltheater», wie die Kinos damals auch genannt wurden, strenge gesundheits- und feuerpolizeiliche Vorschriften. In mehreren Kantonen verlangten Behörden Bedürfnisnachweise, bevor eine Bewilligung für eine dieser neuartigen Unterhaltungsstätten erteilt wurde. Stark abgedunkelte Vorführräume, ungewohnte optische und akustische Eindrücke – so argwöhnten sie – weckten bei einem Teil des Publikums sicher Ängste und liessen anderseits Vermutungen und Verdächtigungen über unerlaubte Handlungen auf der Leinwand wie auch im Zuschauersaal aufkommen. Als Erste setzten sich Pädagogen und Sozialreformer kritisch mit dem neuen Medium auseinander, dem sie enorme Wirkungsmacht zuschrieben. Sie sorgten sich um die Moral der Kinobesucher, denn sie vermuteten Unheil in den mechanisch reproduzierten, flüchtigen, doch realistischen Bildfolgen, welche eine fremdartige Wirklichkeit wiedergäben und in Jahrmarktbuden beinahe unkontrollierbar ihre Zuschauer «verzauberten». Behördenmitglieder und Geistliche nahmen Anstoss an bildlicher Darstellung von Nacktheit, roher Gewalt, Raub und Aufruhr ebenso wie an «religionsfeindlichen» Szenen und Gesprächen. Gleich religiösen Fanatikern eiferten die ersten Kinokritiker gegen die neue «Bilderflut», in der sie kulturelles Verderben vermuteten. Der evangelisch geprägten Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) waren verschiedene Sittlichkeitsvereine assoziiert, die für eine strenge Sexualmoral einstanden.15 In der Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit erörterten sie notwendige Massnahmen zur «Hebung der öffentlichen Sittlichkeit».16 Carl Ludwig, der spätere liberale Basler Regierungsrat und Ordinarius für Strafrecht, damals Gerichtspräsident, stellte Anfang der Zwanzigerjahre in der Zeitschrift der SGG fest, der Film reize die Sinnlichkeit, schwäche das Schamgefühl und übe einen suggestiven Einfluss aus.17 Der Berliner Jurist Albert Hellwig, eine viel zitierte Autorität in Sachen Zensur, fand keine schlüssige Antwort auf die Frage, ob Filme mit einer partiellen inhaltlichen Zensur, das heisst mit Ausschnitten, «unschädlich» gemacht werden könnten oder ob sich die Zensoren vielmehr mit deren weit schwieriger zu beurteilenden Gesamtwirkung befassen müssten.18 Bis heute ist nicht klar, wie und wie weit Bilder auf die Zuschauenden wirken. Wirkungspsychologische Erkenntnisse setzten sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch; heute gilt ein simples «Reiz-Reaktions-Schema» als überholt. Helmut Korte hat

14 15 16 17 18

StALU AKT 44/3673–3680, AKT 44/3689, AKT 44/3691 und AKT 44/3693 betr. die Konzessionsgebühren. Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 1921, 93ff.; vgl. Schumacher et al. 2010; Flüeler et al. 1994, 202; für das Deutsche Reich vgl. Storim 2002, 110ff. Vgl. z.B. Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 1919, Beyel 1919, 33–41. Die Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit heisst heute SGG Revue. Ludwig 1924, 410–420. Hellwig 1914, 15ff.


Einleitung

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ein Idealmodell geschaffen, das die Wirkungsrealität eines Films, seine Rezeption, in einen Systemzusammenhang stellt, worin sich Inhalt, Form und Handlung (Filmrealität), Entstehungshintergrund (Bedingungsrealität) sowie die filmische Darstellung des Problems in Bezug zur realen Bedeutung (Bezugsrealität) überschneiden und gegenseitig bedingen.19 Lothar Mikos wiederum reduziert den Wahrnehmungsprozess auf drei Faktoren: die Intention des oder der Produzenten, die Struktur des Films und die Funktion dieser Komponenten für das Publikum.20 Die Wahrnehmungstheorie wird hier nicht weiter vertieft, weil die vorliegende Arbeit nicht von der Wirkung der Filme auf ein unbekanntes Publikum ausgeht, sondern sich auf das dokumentierte Empfinden einzelner Zensoren stützt, welche diese Filme kürzten oder verboten. Konkret bestand die Filmzensur in den einzelnen Kantonen jeweils in der systematischen Kontrolle von Filmen entweder bevor sie öffentlich aufgeführt wurden oder während einer der ersten Vorführungen durch eine vom Staat bestellte Behörde mit dem Zweck, deren Aufführung partiell – durch Schneideverfügungen – oder durch Verbote ganz zu verhindern. Begründet wurde die Kontrolle mit der Notwendigkeit, dadurch die «öffentliche Ordnung und Sittlichkeit» zu gewährleisten. 1.3 Föderalismus und Zensur Die rechtlichen Grundlagen, nach denen sich Zensurgremien richteten, enthielten als zentrale Elemente auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe wie zum Beispiel «Sittlichkeit». In jedem Kanton beschnitten und verboten Zensoren als exekutive Behörde Filme gemäss ihrem individuellen Ermessen. Sie eliminierten, was ihrer Weltanschauung, ihren moralischen Vorstellungen sowie der von ihnen vorgezeichneten Ordnung zuwiderlief. Sie legten an Hunderten von Filmbeispielen ihre Auffassung von Moral und Sitte aus, indem sie verzeichneten und beschrieben, was anstössig war, was man zeigen durfte oder wo Tabubereiche begannen. Ihre Entscheide konnten mittels Rekurs beim Regierungsrat angefochten und vom Bundesgericht nur auf Willkür hin überprüft werden. Das neue Massenmedium Film zielte auf weltweite Verbreitung, denn in Stummfilmen und später auch in Tonfilmen liessen sich sowohl Zwischentitel wie Untertitel problemlos der jeweiligen Landessprache anpassen. Diesem universalen Anspruch der Kinematographie standen aber nicht nur unterschiedliche Lebensweisen von Land und Stadt, sondern auch kulturelle und politische Differenzen zu andern Ländern und Kontinenten gegenüber. Das Fremde war einerseits attraktiv, anderseits bedrohlich. Wohl nirgends sonst in Europa wurden aber Verschiedenheiten in so kleinen Gemeinschaften gepflegt wie in der klein gekammerten Schweiz. Am Ende des Ersten Weltkrieges schienen kulturkämpferische Verwerfungen zwischen reformierten freisinnigen beziehungsweise katholisch-konservativen Kantonen sowie der Graben zwischen Deutsch und Welsch kaum überbrückbar. Weil sich hierzulande in der Folge keine nationale Filmzensur wie in umliegenden zentralistisch organisierten Staaten eta­

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Korte 2004, 23f. Mikos 2003, 10.


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blieren konnte, entstanden föderalistische Kontrollstrukturen, die «kulturelle» Unterschiede auf engstem Raum zeigten. Die meisten Kantone – zum Teil nur einzelne Gemeinden – schufen rechtliche Grundlagen für die Einsetzung von Kommissionen, die im wachsenden Angebot gegen jene Filme vorgehen mussten, die gegen «das sittliche Empfinden» und «die öffentliche Ordnung» verstiessen, «Lüsternheit» weckten, zur «Verrohung» beitrugen, «Verbrechen» propagierten, das «religiöse Empfinden» sowie «patriotische Gefühle» oder die «nationale Ehre» verletzten. Rechtsbegriffe wie «Sittlichkeit» und «öffentliche Ordnung» liessen sich derart unterschiedlich interpretieren, dass in der Folge gewisse Filme in einigen Kantonen verboten waren, während dieselben andernorts, nur wenige Kilometer entfernt, uneingeschränkt gespielt wurden. Die je unterschiedlichen Zensurregime in Luzern, Zürich und Waadt werden im vierten Kapitel untersucht und geben Auskunft über politische, kulturelle und gesellschaftliche Profile in den drei ausgewählten Kantonen. Im fünften Kapitel wird die unterschiedliche Zensurpraxis einzelner Kantone zusätzlich aufgrund von Filmbeispielen analysiert. Weder in der Bundesverfassung noch in einer der Kantonsverfassungen war Zensur vorgesehen.21 Trotzdem bestanden bis 1966 in jedem Kanton Filmzensurnormen.22 Die Kantone hatten daran festgehalten, obwohl 1942 das landesweit vereinheitlichte Schweizerische Strafgesetzbuch eingeführt worden war und der Generalstab die Filmzensur nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgegeben hatte. Dieser Zeitabschnitt während des Zweiten Weltkrieges, als in der Schweiz eine Abteilung des Generalstabs die damaligen Medien gemäss Vorgaben der militärischen Sicherheit zensurierte, ist bereits gut untersucht und wird hier nur gestreift.23 1.4 Zensurdiskurse Zensoren wachten wie Erziehungsinstanzen über den moralischen Gehalt der Filme. Im liberalen Umfeld von 1968 wurde die Beschneidung bürgerlicher Freiheiten durch Zensur dann aber zunehmend hinterfragt und schliesslich in den Kantonen Luzern und Zürich aufgehoben. Die Auseinandersetzung zwischen Recht und Moral wird auch heute viru­lent, wenn beispielsweise fundamentalistische religiöse Gemeinschaften im Namen der Moral vom Staat verlangen, dass er über explizite rechtliche Grundlagen hinaus Sittlichkeit zu sichern habe. Die Umschreibung von sexuellen Verhaltensweisen ist für das Strafrecht insofern von Bedeutung, als der Begriff der «Pornografie» damit eingegrenzt wird.24 Soll der Staat darüber hinaus die Kommunikationsfreiheit einschränken

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23 24

Guggenbühl 1996. Nicht aufgeführt sind in einer zeitgenössischen Synopsis des Schweizerischen Verbandes zur Förderung der Filmkultur (SVFK) die Westschweizer Kantone Freiburg, Genf, Neuenburg, Waadt und Wallis, wo aber ebenfalls Zensurbestimmungen galten. Auch zu Schaffhausen fehlen Angaben. Als einziger Kanton hatte Bern 1966 in der Verfassung den Verzicht auf jede Zensur festgehalten, Schweizer-Film-Suisse, Vorabdruck aus Juninummer 1969. Haver 2003, Kreis 1973. Vgl. Heimgartner 2005, 1482–1490, Engi 2005, 565–572, Frey/Omlin 2003, 1378–1390, Maier 1999, 1397–1401.


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und Videospiele verbieten, welche angeblich Gewalt verherrlichen, um «Jugendkriminalität» zu bekämpfen?25 Es mag nahe liegen, im Kanton Luzern, wo der Schweizerische Katholische Volksverein (SKVV) die Filmzensur seit ihren Anfängen mitgestaltete, den Katholizismus für eine repressive Sexualmoral und damit für die besonders restriktive Filmpolitik verantwortlich zu machen. Bekanntlich hat die katholische Kirche mit dem Index Romanus26 eine lange Zensurtradition, die bis 1965 dauerte. Im dritten Kapitel wird untersucht, inwiefern der Verband der amerikanischen Filmproduzenten in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche Zensur ausübte, obwohl die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika keine Zensur vorsah. Papst Pius XI. sprach sich 1936 mit der Enzyklika Vigilanti cura für die moralische Hebung des Films im Sinne der amerikanischen «Legion of Decency» aus und rief die Bischöfe auf, «zu wachen und zu wirken, dass der Film nicht weiter eine Schule der Verführung» sei. In der Folge gründete der Schweizerische Katholische Volksverein mit Sitz in Luzern den Filmberater, eine Zeitschrift, die zwischen 1941 und 1972 erschien und die Gläubigen über den moralischen Gehalt der Filme belehrte.27 Die vorliegende Arbeit untersucht, wie Zensoren im Kampf gegen den «verderb­ lichen Film» Bilder wahrnahmen. Sie verfügten weder über psychologisches Grund­ wissen noch über gesicherte Kenntnisse ikonografischer Wirkungsweisen oder über ein entsprechendes Vokabular. Dass selbst ernannte Moralhüter aber der massenhaften Verbreitung von positiv aufgeladenen Bildern besondere Wirkungsmacht zuschrieben, zeigt die Aktion «Bilderschmuck im Schweizerhaus», welche die Schweizerische Gesellschaft für Gemeinnützigkeit in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts initiierte.28 Folgerichtig engagierten sich dieselben Leute mit derselben Verve im Kampf gegen Filme, denen sie eine gefährliche Wirkung beimassen. Filmkontrollkommissionen wie beispielsweise jene in Luzern bildeten gemäss einem Konzept von Ludwik Fleck ein «Denkkollektiv»29, das die Wahrnehmung seiner Mitglieder schärfte, sich einer gemeinsamen Sprache bediente und einen gemein­ samen Denkstil ausbildete. Sogar wenn zeitgleich in verschiedenen Kantonen Filme 25 26

27

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Vgl. dazu Hagenstein 2010. Die Autorin untersucht die juristischen Grundlagen zu Verboten sogenannter «Killerspiele», welche die eidgenössischen Räte in den Motionen Allemann und Hochreutener fordern. Vgl. Wolf 2006 sowie Sleumer 1956, unter dessen Namen 1956 das «Verzeichnis sämtlicher auf dem römischen Index stehenden deutschsprachlichen Bücher desgleichen aller wichtigen fremdsprachlichen Bücher seit dem Jahre 1750» zum letzten Mal veröffentlicht wurde. Der Filmberater erschien während 32 Jahren, anfänglich konkurrenzlos, und besprach den grössten Teil aller Filme, die in der Schweiz gezeigt wurden. Er fusionierte per Januar 1973 mit der reformierten Filmzeitschrift Zoom – vorher Filmdienst –, redigiert vom Luzerner Fritz Hochstrasser, zu ZOOM-Filmberater. Die fusionierte Redaktion arbeitete in Bern. Für die beiden Abonnenten- und Leserstämme änderte sich wenig, wie die Nullnummer vom September 1972 zeigt. Hans A. Metzger war der erste Redaktor des Filmberaters, der unter diesem Titel per 1. Januar 1941 monatlich erschien. Ab Juli 1941 folgten die Nummern des Filmberaters vierzehntäglich. Ab Juli 1942 war Charles Reinert neuer Redaktor, abgelöst im Jahr 1961 von Stefan Bamberger. Wie Reinert war er Jesuit und wurde nach 1966 in Rom Berater für Medienfragen im Jesuitenorden. Er leitete die Arbeitsstelle JESCOM (vgl. Filmberater Nr. 4, April 1971). Dessen Nachfolge übernahm Franz Ulrich – der erste Laie an dieser Stelle – im November 1966. Er arbeitete auch nach der Fusion in der Redaktion von ZOOM-Filmberater weiter, vgl. Gerber 2010; vgl. auch Kapitel 3.5.4. Vgl. Kapitel 2.3. Fleck 1980, 60.


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v­ erboten wurden und auch wenn sich ein Kanton in seinem Entscheid auf einen Dritten bezog, sind nicht die Beweggründe, sondern bloss das Faktum des Verbots eindeutig. «Die Geschichte von Diskursen ist […] erst dort wirklich interessant, wo diese an der Realität scheitern», resümiert Philipp Sarasin seine Diskurstheorie.30 Die generalisierenden kurzen Begründungen der Zensurkommissionen verweisen auf das Ringen der Zensoren um adäquate Begriffe im «Zensurdiskurs».31 Chiffren wie «Verletzung des sittlichen Empfindens», «verrohender und anstössiger Gesamtcharakter» oder «Film de gangsters» in den Zensurberichten zeigen, wie weit die Zensoren ihre Vorstellung von schützenswerten moralischen Gütern spannten und wie wenig sie anderseits ihre Befunde differenzierten. Filmzensoren setzten sich nach eigenem Bekunden nicht mit wertvollem Kulturgut auseinander, sondern befassten sich mit «Schmutz und Schund», mit Verwerflichem. Hin und wieder liessen sie ihren Unwillen und Ekel über die Bilder in ihren Entscheiden durchscheinen, was zeigt, dass sie sich sowohl von spontaner moralischer Entrüstung als auch von legalen Vorgaben leiten liessen.32 1.5 Fragestellung und Forschungsansatz Filmzensoren beriefen sich in ihrer Arbeit jeweils auf einen «durchschnittlichen Zuschauer» mit dem Anspruch, dessen Sittlichkeit zu verteidigen. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiger gesellschaftlicher Mittelwert weder zuverlässig erhoben noch definiert werden kann. Hier soll eine Wechselwirkung zwischen Film und gesellschaftlichem Wandel nachgezeichnet werden. Dazu werden Zensurberichte, welche die Wahrnehmung der Zensoren dokumentieren, in den historischen gesellschaftlichen Rahmen gestellt. Es wäre vermessen, aufgrund dieser Befunde einen gesamtgesellschaftlichen Wandel beschreiben zu wollen. Während Mikrountersuchungen beispielsweise auf die «50er Jahre»33 fokussieren und damalige gesellschaftliche Veränderungen aufzeigen, bezieht sich diese Arbeit auf den Zeitraum vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre. Darin werden Phasen krisenhafter Entwicklung in den 1910er Jahren, in der Zwischenkriegszeit und in den 1960er Jahren besonders beleuchtet. Generell interessiert, weshalb Filme als «gefährliches» Medium rezipiert wurden. Neben Darstellungen von Gewalt wird untersucht, ob und wie inszenierte Sexualität in Filmen gezeigt werden konnte und wie wirkungsvoll Zensur gegen derartige «unsittliche» Darstellungen ankämpfte. Einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten – von den Anfängen des Films bis zur Aufhebung der Zensur – und die angesammelte Fülle von Material zu untersuchen, verlangte von mir, mich auf wenige Filmtitel sowie auf ein paar wesentliche Zensur­motive zu konzentrieren, welche aus Gründen der Sittlichkeit oder wegen ihrer politischen Aktualität 30 31 32

33

Sarasin 2003, 55ff. Vgl. Sarasin 2003, 1–60. «Dem Film kann mit Ausschnitten nicht geholfen werden, denn die ganze Atmosphäre ist mondän, schwül, ungesund und unmoralisch», heisst es beispielsweise in einem Luzerner Zensurentscheid, ACV S 66/401; Kantonale Filmkontrolle Luzern, 3. Januar 1945, Bulletin 5071, November 1944, «Accroche cœur». Siegenthaler 1994, Leimgruber 1999.


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Anstoss erregt hatten. Weil Filmkontrollen kantonal institutionalisiert waren und auf je­weils verschiedenen rechtlichen Grundlagen aufbauten, sind Vergleiche zwischen den Zensurregimen nur bedingt aussagekräftig, lassen aber auf besondere Empfindlichkeiten schliessen. Oder anders – negativ– formuliert: die isolierte Betrachtung eines Kantons wäre zu eng gewesen und hätte zu voreiligen Schlüssen führen können. Deshalb wurden Befunde aus Luzern in Beziehung zu Erkenntnissen in den Kantonen Zürich und Waadt gesetzt. Für die Auswahl von Zürich und Waadt sprach im Fall des Kantons Waadt die hohe Quellendichte im anvisierten Forschungsbereich, seine repräsentative Situation als welscher und reformierter Kanton sowie seine sowohl agrarisch wie auch touristisch geprägte Wirtschaft, die Ähnlichkeiten zu Luzern aufweist. Nimmt man die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen in der Waadt bereits im Jahr 1959 als Indiz für Fortschrittlichkeit, sind diesbezüglich zu Luzern, wo Frauen ihre Bürgerrechte erst elf Jahre später zugestanden wurden, dagegen wenig Gemeinsamkeiten anzunehmen. Zürich hat zwar keine gemeinsame Grenze mit Luzern, kann aber trotzdem als Nachbar betrachtet werden, wenn man die kurzen Verkehrswege betrachtet, um in Zürich Filme zu sehen, die in Luzern verboten waren. In Zürich sind die wichtigsten Filmverleihgesellschaften domiziliert und dort fanden wichtige Premieren statt. In Zürich hat die Schweizerische Gesellschaft für Gemeinnützigkeit ihren Sitz, die bei allen Unterschieden in Bezug auf die assoziierten Sittlichkeitsvereine als Pendant zum Schweizerischen Katholischen Volksverein gelten kann. Der Filmberater wurde in Zürich redigiert, und die Diskussion um die Abschaffung der Filmzensur wurde in Luzern und Zürich gleichzeitig geführt. Zudem ist zu beachten, dass Zürich dank massiver Zuwanderung vor allem aus der katholischen Innerschweiz sowie aus Italien die Schweizer Stadt mit der grössten katholischen Wohnbevölkerung war. Meistens entschieden Zensoren allein oder zu zweit, aber ihre Entscheide können nur ausnahmsweise einzelnen Mitgliedern der Zensurkommissionen zugeordnet werden. Zensurkollegien handelten als Denkkollektive, welche die Entscheide einzelner Mitglieder vertraten, sich aber in der Beurteilung einzelner Filme durchaus von Kommissionen anderer Kantone unterschieden. Die Sicht der jeweiligen kantonalen Kommissionen verdeutlicht nicht nur die «Polysemie» (Sarasin) des Zensurdiskurses – hier die verschiedene Auffassung von «Sittlichkeit» –, sondern relativiert die Arbeit der Zensur grundsätzlich. Waren sich die Zensoren dessen bewusst? Biografische Angaben zu einzelnen Luzerner Zensoren zeigen die personelle Struktur einer Kontrollbehörde, wer sich für dieses Gremium qualifizierte und wie es sich Autorität verschaffte. Bestand trotz ausgetauschter Zensurprotokolle eine Art Konkurrenz zwischen den kantonalen Behörden oder gab es zwischen ihnen vor allem unterstützende Verbindungen? Das erste luzernische Lichtspielgesetz war mit dem Gesetz gegen die Schund­ literatur kombiniert.34 Daraus lässt sich einerseits der marginale Stellenwert des Films in dieser Gesellschaft ablesen, anderseits dokumentiert es, dass der Gesetzgeber definitorisch und juristisch seine Hoheit über die Kultur ausübte. Das Gesetz begründete die während Jahrzehnten anhaltende Kontrolle über den Film, der sich innert Kürze zu einem Massenkommunikationsmittel entwickelte. Sollten Zensurmassnahmen eine fehlgeschlagene Erziehung mündiger Bürger korrigieren? Wie ertrug eine demokratisch

34

Gesetz betreffend das Lichtspielwesen und die Schundliteratur, 15. Mai 1917.


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o­ rganisierte Gesellschaft eine Zensur, die derart tief in die alltägliche Information und Unterhaltung einschnitt? Womit liess sich Zensur überhaupt rechtfertigen? Zwar verengt Filmzensur den Zugang zum Thema Zensur, ist aber mit Seitenblick auf die zunehmende Verbreitung von audiovisuellen Medien aktuell, wie das Kurt ­Tucholsky fast eifersüchtig prophezeite.35 Er zweifelte nicht grundsätzlich an der Wirkungsmacht des geschriebenen Wortes, das sich über Jahrhunderte seine Stärke erkämpft hatte, sich aber gegenüber den Massen nicht behaupten konnte. Tucholsky stellte jedoch fest, dass Rundfunk und Film im Vergleich zum gedruckten Text leichter zu monopolisieren und damit im Dienst der Herrschaft zu instrumentalisieren beziehungsweise zu zensurieren waren. In ähnlicher Weise begreift Amos Vogel modernes Kino als eine Kunst, die «subversiv» in unser Bewusstsein eindringt. Er knüpft damit aber nur scheinbar an den Zensurdiskurs der ersten Kinogegner an, sondern versucht im Gegenteil, in Filmen dargestellte Werte zu rationalisieren.36 1.6 Forschungsstand Bereits eingehend untersucht wurde die Presse-, Buch- und Filmzensur im Umfeld des Zweiten Weltkriegs.37 Ausserhalb dieser Periode scheint Zensur in der Schweiz kein beliebtes Forschungsthema zu sein. Systematische Arbeiten zur Filmzensur stammen aus dem Kanton Waadt von Gianni Haver und Roland Cosandey.38 Historische Lizentiatsarbeiten zum Thema liegen aus den Kantonen Wallis und Basel-Stadt vor.39 Zum Thema Film als Verbrecherschule hat Paul Meier-Kern eine grundlegende Arbeit verfasst.40 In einer ebenfalls historischen Lizenziatsarbeit zur Filmzensur hat der Schreibende die rechtlichen Grundlagen im Kanton Luzern zwischen 1942 und 1971 untersucht und die darauf gründenden institutionellen Mechanismen sowie ihre soziale Bedeutung dargestellt.41 Eine neuere Publikation zum Thema Zensurgeschichte ist beispielsweise der Aufsatz von Krystyna Kuczynski «Bewegte Bilder bewegen das Publikum».42 Zur Grundlageninformation und als Nachschlagewerk dient ein Standardwerk der Filmwissenschaft «Geschichte des internationalen Films» von Geoffrey Nowell-Smith.43 Grundlagenmaterial zur Zensur im Deutschen Kaiserreich, während der Weimarer Republik bis zum Dritten Reich inklusive Zensurakten einzelner Filme hat das Deutsche Filminstitut (DIF) allgemein zugänglich ins Netz gestellt.44 Stichworte wie Holly­wood und Zensur fördern eine grosse Menge an Literatur zutage und geben Auskunft über amerikanische Einflüsse in der Ausgestaltung der Filmzensur. Gregory D. Black hat die Zusammenarbeit von Hollywoods Produktionsgesellschaften und katholischen Or35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Titelzitat zu diesem Kapitel, Tucholsky 1990, 110f. Vogel 2000. Vgl. Artikel «Filmzensur» in HLS (mit weiteren Literaturhinweisen); vgl. auch Keller 2010. Haver 2003, Cosandey/Jaques 1996, Cosandey/Gaudreault/Gunning 1992. Für das Wallis vgl. Doumont 2002; für Basel vgl. Hilzinger 2000. Meier-Kern 1990. Eberli 2002. Kuczynski 2009. Novell-Smith 1998. Vgl. URL: http://www.deutsches-filminstitut.de.


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