I S B N 978-3-7965-2859-0
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Niklaus Stoecklin: Der Altphilologe, 1930/31 (Kunstsammlung der Universität Basel)
Henriette Harich-Schwarzbauer, Alexander Honold (Hg.)
Carmen perpetuum Ovids Metamorphosen in der Weltliteratur
Schwabe Verlag Basel
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel, und der Universität Basel
Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Nana Badenberg, Schwabe Umschlaggestaltung: Nina Stössinger, Basel Schrift: Times Ten Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2859-0 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
Inhalt
Henriette Harich-Schwarzbauer, Alexander Honold Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Bettine Menke Ovids Echo, die Ver-Antwortung und das Nachleben der Dichtung . . 21 Barbara Feichtinger Gewaltvolles Begehren Eros und Macht in Ovids Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Hélène Casanova-Robin Metamorphosen und intime Fabel Pontanos Ovidrezeption in den Eclogen, den Tumuli und in De hortis Hesperidum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Stephen Wheeler Von der Lüge zur Wahrheit Die Verwandlungen von Ovids Metamorphosen im Mittelalter . . . . . . 89 Seraina Plotke Verfahren der inventio im spätmittelalterlichen Märe Von Pyramo und Thisbe, den zwein lieben geschah vil wê . . . . . . . . . . . 111 Harm den Boer Ovid und die verspotteten Götter des spanischen Barock . . . . . . . . . . . 129 Ina Habermann Wann denkt Shakespeare an Ovid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Alexander Honold Ariadne und Orpheus Verwandlungen in Text und Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
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Volker Mertens Gesungene Verwandlungen Ovids Metamorphosen auf dem Musiktheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Laure Chappuis Sandoz «Fidèle, originale et élégante …» Ovid um 1800 – Polemik um Übersetzung und Autorschaft . . . . . . . . . 227 Henriette Harich-Schwarzbauer Die Metamorphosen in der deutschsprachigen Literaturgeschichts schreibung (1850–1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Monika Schmitz-Emans Variationen über Ovid Die Ovid-Romane von Vintila Horia, David Malouf, Christoph Ransmayr und Marin Mincu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Matthias Bauer Das A und O der Liebe Eros, Ironie und Elegie von Ovid bis Antonioni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Carmen perpetuum: Ovids Metamorphosen in der Weltliteratur Einleitung Henriette Harich-Schwarzbauer, Alexander Honold Ovids «Metamorphosen» in der Weltliteratur: Der Titel dieses Bandes und der ihm zugrundeliegenden Ringvorlesung, die im Herbst 2008 an der Universität Basel stattfand, birgt eine gewollte Zweideutigkeit. Einerseits bezeichnet er einen Autor und sein umfassendstes, wohl auch folgenreichstes literarisches Werk, andererseits fragt er nach den vielfältigen Resonanzen und produktiven Umgestaltungen, die dieses Werk selbst und das Bild seines Autors im Laufe einer zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte in den verschiedenen europäischen Sprachen und Kulturen erfahren haben. Es ist also die Dualität des Konzeptes der Metamorphose, um die es bei der Beschäftigung mit Ovid selbst und mit seiner weltliterarischen Wirkung letztlich geht. Unter dem Sammelbegriff der Metamorphosen schuf Ovid ein episches Großwerk, das in einer Fülle von Einzelgeschichten von den elementaren Vorgängen der Weltentstehung über die Entwicklung der geschichtlichen Kulturstufen bis in die dem Dichter zeitgenössische Sphäre des augusteischen Rom führt. Veränderung, Verwandlung, Gestaltwandel – dies ist das organisierende Prinzip seiner Darstellungsweise. Sowohl die großen Linien der Konstruktion wie auch die vielen, im Gang der Erzählung teils nur knapp skizzierten, teils breit entfalteten Handlungsepisoden bezeugen, gerade mit ihrer Unterschiedlichkeit, gemeinsam die in der Natur wie in der Geschichte wirksame Kraft der Verwandlung. Denn was ist es, das all die Stoffe, Wesen und Formen der organischen wie der dinglichen Welt umtreibt und in ihren Verhältnissen zueinander bestimmt? Nichts anderes als der an diversesten Phänomenen ablesbare Vorgang der Metamorphose. Die Vielzahl an mythischen Quellen und Stoffen, die in Ovids Kompendium Eingang fanden, stellen einen Überlieferungsschatz kollektiver erzählender ‹Langzeitbeobachtung› dar, einen bewegten Bilderbogen des kulturellen Weltwissens, das im Autor seinen Chronisten findet. Der Gestaltwandel, den Ovid als Quintessenz der verschiedensten mythischen Ereignisse extrahiert, umgreift sämtliche Ebenen der Weltordnung, die natürlichen Übergänge im Aggregatwechsel der Elemente, die physischen Mutationen von Pflanze und Tier, Gestein und
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estirn, schließlich die soziale Mobilität zwischen Göttern, Heroen und G Menschen. Der in dreimal fünf Bücher gegliederte Erzählbogen schreitet die Handlungsräume des Mythos, der Heldensagen und des geschichtlichen Lebens aus, er führt von der kosmischen Gestaltwerdung der Welt bis mitten hinein in die Konstitution der römischen Kaiserzeit. Doch gehen die Metamorphosen, anders als Vergils Aeneis, nicht in einer Entelechie des augusteischen Imperiums auf, dazu sind ihre Einzelgeschichten zu vielsträngig und zu verflochten, zu sehr vom Prinzip des variierenden Gestaltwechsels durchwirkt. Der Autor, der die einzelnen Episoden und Erzählfäden ordnet, vergegenwärtigt damit ein reichhaltiges mythologisch-genealogisches Wissen, in dessen zentralem Blickfeld die für das Verstehen der Welt ganz entscheidende Bedeutung von Transformationen, von Übergängen und vom Zusammenhang aller Dinge liegt. Dargestellt wird dieses Geflecht von Verwandlungsgeschichten wiederum in einer Weise, die ebenfalls auf Über lappungen, auf diegetische Einschachtelungen und auf die lückenlose Weitergabe eines immer vielsträngiger sich fortspinnenden Erzählfadens setzt. Durch das Fortweben von Geschichten im Akt ihrer poetischen Ausgestaltung wird in der Textur von Ovids Werk selbst jenes kosmische Prinzip des Gestaltwandels wirksam, dem seine Sammlung mit ihrem programmatischen Rahmen huldigt. Die Rezeption der Metamorphosen über die Zeiten hin und in die verschiedensten Sprachen, Kulturkreise und Medien hinein zeigt eindrucksvoll, dass dieses Hauptwerk Ovids als Schauplatz und Kompendium eines elementaren literarischen Phänomens erkannt und produktiv aufgenommen worden ist. «Verwandlungen» sind als das Lebenselixier der Poiesis recht eigentlich durch die schöpferische Auseinandersetzung mit Ovid fassbar geworden; bedeutende Stationen dieser produktiven MetamorphosenRezeption zeigen sich am Bildungsbestand des lateinischem Mittelalters und auch in der dramatisch-allegorischen Mythenrezeption der europäischen Neuzeit. Das Prinzip der Verwandlung ist denn als verbindendes Wesensmerkmal anzusehen all jener Kulturtechniken des Besingens, Erzählens und Inszenierens von Geschichten, die unter dem Sammelnamen der Literatur vorzufinden sind. Diese selbstreflexive Dimension der Metamorphosen-Thematik wird vor allem von der (nach Hochmittelalter und Renaissance) dritten aetas Ovidiana her deutlich, wie man die wieder anwachsende, epochale Beschäftigung mit Ovid in der Moderne und Post moderne bezeichnen kann. Eine vergleichbar ansteigende Konjunktur, vor allem im Bereich poetologischer und rezeptionsgeschichtlicher Forschungsbeiträge, hat in den vergangenen Dekaden nun auch die wissenschaftliche
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Auseinandersetzung mit Ovid und den Metamorphosen zu verzeichnen gehabt.1 Die Ausdeutung der Metamorphosen im Kontext gesellschaftlicher Diskurse der augusteischen Zeit wurde, nach langen Debatten über Ovids pro- oder antiaugusteische Parteinahme, in den letzten Dezennien vor allem durch die Genderforschung bereichert. Befasst mit der längst konstatierten Beobachtung, dass Ovid seinen Frauenfiguren erhöhte Aufmerksamkeit schenkt und wie kein zweiter ihre Psyche darzustellen vermag, wurden seine Verwandlungen zwischen den Polen von Pornographie und Frauenanwaltschaft eingeordnet. Barbara Feichtinger löst diese Dichotomie auf, indem sie den Text der Metamorphosen einer patriarchalen Literatur und Gesellschaft zuweist, in der die Vergewaltigung ihren festen Platz hat. Um eben diese, die Sanktionierung des Übergriffs als Kulturpraktik, geht es Feichtinger, wenn sie den Begriff amor im Spannungsfeld von Begehren, Gewalt und Liebe ausleuchtet. Die unverfügbare ‹Liebe› der Daphne erweist sich als besonders erzählproduktiv. In immer neuen Varianten wird der physische Übergriff des Apollo auf die junge Frau als Form männlicher Machtkommunikation durchgespielt – Daphne ist gleichsam der Aufschlag in diese Thematik, an ihr wird das erste Exempel in einer zusehends sich verdichtenden Beispielreihe statuiert. Die Machtfülle schlägt sich, und das ist der springende Punkt, in der Zahl der Gewaltakte nieder. Iuppiter lässt, gefolgt von Apollo, in dieser Hinsicht die übrigen Götter deutlich hinter sich. Die Iteration und das Ausreizen von Vergewaltigungsnarrativen in den Metamorphosen werden so ihrerseits legitimiert. Darüber hinaus lassen die Gewalterzählungen über die diversen Götter immer wieder durchscheinen, dass sich das Opfer mit dem Aggressor arrangiert und – anders als in der Moderne – gleichsam ein Happy End diese Erzählungen besiegelt. Die Analogie von Iuppiter und Apollo, die Ovid herstellt, wird von Feichtinger überzeugend als Fingerzeig auf den «Womanizer» Augustus gelesen. Sie empfiehlt eine Form widerständiger Lektüre, doch eine anderer Art als jene, welche offensichtlich die Perspektive des Opfers zugrunde legt. Nicht so sehr die Macht der Erotik, sondern Die literarische Produktivität der Auseinandersetzung mit Ovids Metamorphosen unterstreicht insbesondere die von Michael Hofmann und James Lasdun heraus gegebene Anthologie After Ovid: New Metamorphoses von 1994. Zur kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskussion vgl. Sabine Coelsch-Foisner, Michaela Schwarzbauer (Hg.): Metamorphosen. Heidelberg 2005; Monika Schmitz-Emans, Manfred Schmeling (Hg.): Fortgesetzte Metamorphosen / Continuing Metamorphoses. Ovid und die ästhetische Moderne / Ovid and Aesthetic Modernity. Würzburg 2010.
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die Mechanismen der Macht stiften, so schliesst Feichtinger, die Metamorphosen an. Der faszinierenden, wenngleich nur punktuell zu rekonstruierenden Rezeption der Verwandlungssagen im lateinischen Mittelalter spürt Stephen Wheeler nach. Sieht man davon ab, dass das Verdikt des Kirchenvaters Hieronymus, den Metamorphosen ermangele es an Wahrheit, realiter nur wenig beeindruckte, so stellt sich nichtsdestotrotz die Frage, wie man im Mittelalter Wahrheit in die Metamorphosen hineinlesen konnte, zumal damit ein zentrales Kriterium für die Aufnahme des paganen Poeten unter die mittelalterlichen Schulautoren zur Disposition stand. Wheeler zeigt in seinem Aufriss zur Integration der Metamorphosen in die Schullektüre, dass sich, wie nicht anders zu erwarten, bei all der verzögerten Rezeption die Allegorisierung als der praktikable Weg anbot, um die Verwandlungssagen vom Vorwurf der Lüge freizusprechen. Dass gerade die Bibel die Aufnahme Ovids in den Kanon förderte, ist das Unerwartete an dieser Entwicklung, zu der nicht zuletzt das Ovid-Zentrum Orléans und Arnulfs MetamorphosenKommentar massgeblich beitrugen. Die naturphilosophische Auslegung, die zur historischen und moralischen hinzutrat, verwandelte die Verwandlungen. Über die Ecloga Theoduli, die Ovids Mythen der christlichen Wahrheit gegenüberstellte, gelang die paradox anmutende Integration Ovids unter die Schulautoren. Bereits um 1100 erachtete man die Metamorphosen als komplementär zur Bibel, die ja nicht weniger den Anspruch erhob, ein carmen perpetuum zu sein, und ebenfalls im programmatischen Sinne über die Zeiten hin gelesen werden wollte. Eine Anverwandlung der Metamorphosen über die Allegorisierung lag nahe, wollte man eine christliche Leserschaft für Ovid gewinnen. Das Verfahren der Allegorisierung war seit langem, so bereits in der frühen Homerauslegung, ein bewährtes Vorgehen, um antike Autoren in neuen Kontexten zu funktionalisieren. Doch war man auf anderen Wegen nicht weniger findig, um Ovid den Eintritt in die mittelalterliche Literatur zu ebnen. Dabei ging es auch darum, in Ovid den Dichter der Liebe zum Sprechen zu bringen. Seraina Plotke erhellt anhand des Verfahrens der inventio im spät mittelalterlichen Märe, wie der ovidische amor mit rhetorischen Verfahren theologisch anstössiger Aspekte entkleidet wird. Sie entfaltet ihre Beobachtungen anhand der volkssprachigen Erzählungen zu den tragischen Liebenden Pyramus und Thisbe. Hier boten sich, wie Plotke darlegt, bewährte Kunstgriffe der antiken Rhetorik an, um das antike Liebesnarrativ entlang der Vorgaben der mittelalterlichen Poetik in der höfischen volkssprachigen Literatur passfähig zu machen. Für dieses Verfahren setzte Matthäus von
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Vendôme wichtige Akzente. Er gibt eine treffliche Anleitung, die in einer der sechs volkssprachigen Versionen des Pyramus-und-Thisbe-Stoffes näher verfolgt wird. Die inventio wird nunmehr in der descriptio umgesetzt, in der die Kategorien personae und negotia entfaltet werden. Dergestalt können die Klage- und Beteuerungsreden der beiden Liebenden, die vermeinen, mit dem Tod des/der Geliebten konfrontiert zu sein, Überzeugung schaffen und eine Evidenz herstellen, die selbst den in der christlichen Theologie sank tionierten Selbstmord überwindet. Dass Pyramus und Thisbe angesichts dieser religiösen Überhöhung mittels descriptio das Odium des Suizids abzulegen vermögen, darf als eine signifikante Transformation der Erzählung im spätmittelalterlichen Märe gelten. Wie nicht anders zu erwarten, findet der mittelalterliche Autor im Text der Metamorphosen just das, was er finden will, zumal Ovid selbst so reichliche Anknüpfungsangebote bereitstellt. Den Bruch im tragischen Setting, den Ovid auch bereithielte – Pyramus’ Blut spritzt Wasser vergleichbar aus einem geborstenen Bleirohr (Met. 4, 121–124) –, wiederholt das spätmittelalterliche Märe nicht. Dafür aber werden die Liebenden sakralisiert; so finden sie Eingang in die christ liche Ikonographie. Hélène Casanova-Robin stellt Giovanni Pontano und die Ovid-Rezeption im Quattrocento ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Mit ihrer Lektüre der Eclogen, Tumuli und De hortis Hesperidum gewährt sie Einblick in die Landschaft Kampaniens, die von Pontano in ihrem üppigen Pflanzenreichtum entworfen wird. Die Verwandlung der Vegetation, allem voran die des Lorbeers, aber auch von Haselsträuchern, von Blumen und selbst von Nutzpflanzen wie der Rübe ruft der Humanist auf, um über seine früh verstorbene Ehefrau Adriana zu singen. Die Verortung der Metamorphose in der bukolischen Welt der Gegend um Neapel gibt den Pflanzen die Potenz, den Prozess der ovidischen Metamorphose in ungekannter Weise und Fülle zu bereichern und zu vervollkommnen. Das Sinnliche der Frauengestalten tritt verstärkt in den Vordergrund, der Aspekt der Gewalt, der in Ovids Metamorphosen Pflanzenerzählungen dominiert, wie auch das Moment der Unsicherheit, das der Verwandlung per se innewohnt, fehlen bei Pontano. Die Verwandlungen werden rund um die geliebte verstorbene Adriana entfaltet, die Schritt für Schritt in die mythische Welt eintritt, bis sie sich zuletzt, in den Tumuli, in den Lorbeer verwandelt. Die Unsterblichkeit, die sich im Werden und Vergehen der Blumen und Bäume manifestiert, arbeitet der Unsterblichkeit der Dichtung zu. So schaffen die Mythen Ovids Pontano einen literarischen Raum, in dem er über Adriana erzählen und dem er zugleich seine Autobiographie einschreiben kann.
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Eine andere einschneidende Änderung in der Rezeption der Metamorphosen brachten die Übersetzungen, die den Anspruch literarischer Güte erhoben. Aus den Übersetzungen, die im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund des klassischen französischen Dramas im nachrevolutionären Frankreich entstanden, wählt Laure Chappuis Sandoz die nahezu zeitgleichen, kommentierten Übersetzungen von Matthieu Guillaume, Thérèse Villenave und Ange François Fariau de Saint-Ange, auch Desaintange genannt. Nach einer Periode, in der Ausgaben bereinigter Texte den Ton angaben, die noch dazu das Spezifikum des carmen continuum durch Episodenüberschriften negierten und anstössige Passagen eliminierten, werden in diesen Übersetzungen unanständige Erzählungen, insbesondere solche des zehnten Buches aus dem Munde des Orpheus, wieder integriert und durch Kommentare auffällig reich, aber unter Umgehung der wichtigsten Informationen erläutert. Wer sich aus diesen Kommentaren Belehrung über Sachverhalte erhoffte, wird enttäuscht. Die Verhüllung von moralisch ruchbaren Konstellationen, so des Inzests, über den Ovid beispielsweise in der Myrrha-Geschichte erzählt, wandelt die ovidische Metamorphose; es wird kaschiert, um das sexuelle Be gehren der Tochter für den Vater nicht in deutliche Worte fassen zu müssen. In den Schulausgaben sind feinsinnige und anspielungshafte Erklärungen in lateinischer Sprache das Mittel, um diese Metamorphosen zu verharmlosen, dann wieder treten Kommentare zum Dilemma der Übersetzung solch unanständiger Verse an die Stelle der Übersetzungen selbst, Kommentare, die sich verselbständigen und zu Debatten über den künstlerischen Anspruch des Übersetzens auswachsen. Bemäntelt werden moralisch verwerfliche Inhalte zudem mit Zitaten aus den französischen Tragikern, allen voran R acine. Illustrationen von Inszenierungen, die den Geschmack des zeitgenössischen Publikums treffen und dessen Kennerschaft ansprechen wollen, liefern, über das Wort und über Diskussionen zum Stil poetischer Übersetzungen hinaus, eine Kulisse für die ovidischen Mythen. Amüsant lesen sich die Nebenge räusche dieser Kommentare und Anmerkungen, die ein Fenster in die Gelehrtenwelt öffnen und deren Querelen, so die Vorwürfe des Plagiierens von Formulierungen, zum Besten geben. Selbstredend sind es die erotisch auf geladenen Kommentare zu besagten Episoden der Metamorphosen, durch welche die Kommentatoren erst recht enthüllen, was zu verhüllen sie sich bemühen. Henriette Harich-Schwarzbauer skizziert exemplarisch spannungsge ladene Momente des Gestaltwandels des Dichters Ovid und seiner Werke. In ihrem Aperçu, das zu der im 19. Jahrhundert noch jungen Gattung der Literaturgeschichtsschreibung hinführt, lenkt sie den Blick auf das Faktum,
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dass Ovid konstant eine positive Rezeption erfuhr und trotz der Tatsache, dass Vorbehalte ästhetischer und moralischer Natur bereits von Ovids Zeitgenossen geäussert und später periodisch immer wieder vorgebracht wurden, seinen Platz sicher behauptete. Den vielbeschworenen Einbruch der OvidRezeption im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert analysiert sie anhand von Beispielen der deutschsprachigen Literaturgeschichte, die mit ausgewählten Beispielen aus französischen Literaturgeschichten verglichen werden. Harich-Schwarzbauer legt dar, dass es keine homogene Ovid-Kritik gab und dass die immer wieder behauptete Herabminderung Ovids vor dem Hintergrund von Zuschreibungen an einen ‹nationalen Charakter› nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Ihre Lektüre der römischen Literaturgeschichte in dieser ersten Phasen ihrer Verwissenschaftlichung lässt erkennen, wie steril diese Kritik war, die Verdikte der frühen Kaiserzeit wiederaufnahm. Ihre Lektüre lässt zudem erkennen, dass Ovid ein zentraler Reibebaum für das Selbstverständnis der Fachdisziplin war. Es zeigt sich, dass in diesen Literaturgeschichten eine wissenschaftliche Modernisierung des Ovid-Bildes und der Verwandlungserzählungen vereinzelt sehr wohl angelegt war. Doch wird zugleich ersichtlich, dass sich die Ovid-Forscher durch althergebrachte Vorurteile Fesseln anlegten und teils sogar gegen ihre eigenen Beobachtungen zu argumentieren und letztlich den Wandel der Metamorphosen hintanzuhalten bereit waren. Im Spanien des 17. Jahrhunderts, so zeigt der Beitrag von Harm den Boer, stand die Rezeption antiker Gegenstände, und besonders die dichterische Adaption mythologischer Figuren und Geschichten, stark unter dem Verdikt klerikaler Einschränkungen, nach deren Vorgaben die paganen Themen und Motive des antiken Götterlebens lediglich als moralisierende Lehrbeispiele für die zeitgenössische Erbauungsliteratur zulässig waren. Durch Luis de Góngora y Argote, der mit seinem Gedicht Polyphem und Galatea (Polifemo y Galatea) die wohl ausgefeilteste mythologische Dichtung im Spanien seiner Zeit vorlegte, gewinnt die Aneignung der «fábula mitológica» künstlerische Eigenständigkeit und erlebt eine Befreiung von moralisierender Allegorese, die im Gegenzug sogar das Moment erotischer Sinnlichkeit betont. Die oft als dunkel und unverständlich bewertete Sprachbehandlung Góngoras (vor allem in den Soledades) steht dabei, wie diejenige mancher seiner Vorbilder und Zeitgenossen, durchaus in der Tradition antiker rhetorischer Verfahren und zieht alle Register des sprachlichen Virtuosentums. Die antike Mythe verwandelt sich durch die verspoetische und syntaktische Raffinesse des Dichters in eine artifizielle Sprachwelt der ästhetischen Selbstbezüge und demonstriert, so die Interpretation den Boers, gerade dadurch
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besonders sinnfällig das ovidische Poesieprinzip der Metamorphose. Neben dem hohen Stil finden sich in Góngoras Auseinandersetzung mit mytholo gischen Motiven auch die für das Spanien der Frühmoderne besonders charakteristischen burlesken, karnevalistischen Elemente in prägnanter Ausformung. Die Tonlage des mal heiteren, mal groben Götterspotts bildete das Kennzeichen einer humanistisch gebildeten Elite, die damit eine potentiell auch religionskritische Tonart anschlug; eine politisch subversive Dimension, die besonders in der iberojüdischen Adaption mythologischer Spottgedichte zum Ausdruck kam. Wie in der Renaissance allgemein üblich, gehörte Ovid auch für William Shakespeare bereits zur Schullektüre. Ina Habermann demonstriert in ihrem Beitrag, wie reichhaltig die frühe Saat der Verwandlungsgeschichten im Werk des Dichters aufging, so dass man bei Shakespeare geradezu von einer Omnipräsenz der Metamorphosen sprechen kann. Das Zeitalter war erfüllt vom Gedanken der mutabilitie, und Shakespeares Evokationen der «shadows», von welchen der Waldgeist Puck am Ende des Sommernachtstraums spricht, erwecken die Traumgestalten auf der Bühne zu wundersam verwandeltem Leben. An zwei herausragenden Motivkomplexen zeigt Habermann, dass Shakespeare seine Dramen in bewusster Nachfolge prägnanter Episoden Ovids anlegt und deren Drastik wirkungsästhetisch noch zu übertreffen versucht. So erweist sich das grauenhafte Geschick der Lavinia in dem frühen Römerdrama Titus Andronicus als Reprise und Steigerung jener Brutalität, die im Mythos der Philomela durch ihren Schwager Tereus angetan worden war, der sie vergewaltigt und ihr danach die Zunge heraus geschnitten hatte, um sie daran zu hindern, gegen ihn als den Täter auszu sagen. Bei Shakespeare müssen der römische Feldherr Titus Andronicus und seine Tochter Lavinia als Rache für die Gefangennahme der Gotenkönigin Tamora noch schlimmeres Leid erdulden. Denn die Söhne der Gotenkönigin «kennen ihren Ovid» und trachten danach, die überlieferte Untat an Philomela durch ihre eigene Bestialität gegenüber der Römertochter Lavinia markant zu übertreffen, indem sie diese ebenfalls vergewaltigen und ihr hernach auch noch die Hände abschneiden. In ihrem stummen, verstümmelten Leid zeugt die geschundene Lavinia aber desto bewegender von dem geschehenen Grauen und verkörpert somit eindringlich das theatrale Vermögen, dem Publikum ein Schicksal so intensiv vor Augen zu stellen, dass es den lebhaftesten Anteil daran nimmt. Auf die rhetorische Kraft der enargeia setzt Shakespeare auch in dem viel später entstandenen Wintermärchen, in dem der sizilianische König Leontes aus Eifersucht Frau und Tochter zu töten befiehlt, nach langen Jahren der Reue dann aber erlebt, wie sich die
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totgeglaubte Gemahlin Hermione aus einer schönen Statue wieder ins pulsierende Leben zurückverwandelt. Offensichtlich leben der reuige Witwer und seine vermeintlich aus dem Stein wiedergeborene Gattin der ovidischen Pygmalion-Geschichte nach; einmal mehr verdeutlichen sie die Macht des Gestaltwandels, mit der sich eine besondere Kompetenz der Künstler und Künste verbindet. Dabei bewegen sich die archetypischen Geschicke in Shakespeares neuzeitlicher Figurenwelt, die Habermanns Lektüre an diesen prominenten Beispielen eindringlich erkundet, immerzu auf dem litera rischen Fundament der von Ovid erzählten Verwandlungen. An der Gestalt der Echo und ihrer Funktion innerhalb des Narziss- Mythos zeigt Bettine Menke, dass und wie an dieser Stelle eine Art Selbstbeobachtung des gesamten Metamorphosen-Programms vorliegt. Wie in vielen anderen Fällen gewinnen auch hier die Figuren ihre spezifische Prägnanz aus einem «gender trouble». Da die Nymphe Echo sich schwatzend in die Eifersuchtsgeplänkel zwischen Iuppiter und Iuno mengte, muss sie die Strafe einer Verkürzung ihrer Sprachfähigkeit erdulden. Unfähig, selber einen Redeakt zu beginnen, ist sie zur bloßen Wiederholung des schon Gesagten verurteilt. Doch ihre Echorede ist nicht einfach Verdopplung ergangener Worte; hierbei vollzieht sich vielmehr eine eigentümliche poetische Transformation. Denn Echo vokalisiert das Gehörte in ihrer Wiedergabe, sie de-moduliert gesprochene Schriftsprache zum bloßen Klang. Umgekehrt aber begeht ihr kommunikatives Gegenüber den naheliegenden Fehler, das Klangereignis der Echorede als semantische Sprache zu verstehen; dadurch tritt Sinn wieder an jene Stelle, an der (bei Echo) Poesie war. Die Wiederholung als Schicksal der redseligen Nymphe, so Menke, leistet eine Verengung und Bereicherung sprachlicher Verständigung zugleich. Das Nachleben im zitierenden Widerklang macht die unglückliche Frauengestalt im selben Maße abhängig und frei. Mit ihrer Kunst der Anklänge und ihren De- und Remodulationen wird Echo zu einem Modell der Poetik Ovids, dessen Metamorphosen sich als die umgestaltende Resonanz eines immensen literarisch-mythischen Bestandes konstituieren. Mit den Themenkreisen der Figuren Ariadne und Orpheus liegen, so führt Alexander Honold aus, in den Metamorphosen zwei einander korrespondierende ästhetische Figurationen vor, die sich vor allem in der lyrischen und dramatischen Rezeption als enorm produktiv erweisen. Im mythischen Überlieferungsgeflecht sind Ariadne wie Orpheus eingebettet in Narrative der Rettung: die erfolgreiche Erfindung des Fluchtfadens für Theseus bei Ariadne, die misslingende Heimholung Eurydikes aus der Unterwelt durch den Sänger Orpheus. Schon Ovids Mythenbehandlung schält aus diesen
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ettungserzählungen dramatische Kernsituationen heraus, welche die EpisoR den nicht mehr von der Bilanz ihrer Handlungslogik her betrachten, s ondern sie als in einen prägnanten Moment gefasste Konstellationen ausleuchten: den trauernden Sänger vor dem Eingang zum Totenreich, die K lagende am einsamen Ufer. Beide, Ariadne wie Orpheus, sind als Schwellenfiguren aufeinander bezogen, da sie dem Zusammenspiel der Medien von Text und Stimme Ausdruck geben. Ist in der Orpheus-Gestalt und ihrer Geschichte die Grundfigur der Tongebung und der musikalischen Belebung der Welt durchgespielt, so lässt Ovid mit Ariadne jenes Prinzip der poetischen Textur thematisch werden, das an anderer Stelle der Metamorphosen auch in den gewebten Bildern der Arachne eine Modellfunktion für das Werk insgesamt erlangt. Die neue musikdramatische Gattung Oper bei Monteverdi und seinen Vorläufern hatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Unwahrscheinlichkeit singender Interaktion auf der Bühne mithilfe der Schwellensituation des Orpheus zu plausibilisieren versucht als den (nur) auf ästhetischem Wege möglichen Eintritt in eine andere Welt. Die Moderne sieht in Orpheus den postreligiösen Sänger der Transzendenz; Rilkes Sonette schöpfen hieraus ihre eigene Poetik der Totenklage. Hofmannsthal und Strauss wiederum konfrontieren die Melancholie der Ariadne mit der heiteren Kunstwelt der Commedia dell’Arte und transformieren ihre Motivwelt dadurch in einen Schauplatz musikalischer Belebung; abermals kreuzen sich Stimme und Text, Orpheus und Ariadne, nun verstanden als medienästhetische Prinzipien. Der grauenvolle Tod des Orpheus, sein von den Mänaden zerrissener Leib bildet den Einsatzpunkt der musikalischen Metamorphosen-Adaptionen, und auch für Volker Mertens steht er am Ausgangspunkt einer Tour d’Horizon durch die operngeschichtliche Ovid-Rezeption der letzten gut vierhundert Jahre. Ob nun, wie bei Jacopo Peri und Ottavio Rinuccini im Jahre 1600, ein glückliches Ende in den mythischen Stoff hineinkorrigiert wird – die Wiedervereinigung von Orpheus und Eurydike bildet das Grundmuster des später so genannten «lieto fine» –, oder ob wie bei Monteverdi die tragische Dimension des Geschehens zur Geltung gebracht wird (fine tragico), stets kreisen die musikdramatischen Bearbeitungen von Metamorphosen-Episoden bevorzugt um die Macht der Liebe einerseits und um Vollmacht und Wirkung des Gesangs andererseits. Erst in Glucks Bearbeitung des Orpheus-Sujets 1762 allerdings, einem ‹Schwellenwerk› der Gattung Oper, wird die dramatische Aktion in direkter Korrespondenz zur musikalischen Gestaltung der Szenen behandelt. Musik ist, so hält Mertens fest, ein Medium, das zur Nachbildung von Verwandlungen in besonderer Weise geeignet erscheint. Dies ermöglicht den musikalischen Ovid-Rezeptionen
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denn auch ihre entscheidende Entwicklung von der bloß thematischen Darstellung eines metamorphotischen Geschehens hin zur genuin ästhetischen Durchführung einer Metamorphose im musikalischen Prozess selbst, also den Schritt von der besungenen zur gesungenen Verwandlung, für deren performative Dimension so unterschiedliche Werke wie La Calisto von Francesco Cavalli, Händels Pastorale Acis and Galate oder in der Moderne Richard Straussens Daphne Pate stehen können. Im Beitrag von Matthias Bauer, der eine Engführung von Ovids Werk mit Filmen Michelangelo Antonionis unternimmt, tritt die schon mit dem Frühwerk des antiken Dichters etablierte Raffinesse der Liebesdichtung hervor. Ovid setzt sich zu Beginn der Amores bekanntlich als zum Epos entschlossener und dem Kriegerischen zugeneigter Poet in Szene, der nur aufgrund einer neckischen Laune Cupidos sich, ganz gegen den eigenen Sinn, zur L iebesdichtung habe drängen lassen. Dass die Liebeselegien gleichwohl mit dem Worte «arma», also mit einer Art Waffen-Anrufung beginnen, weist auf den ebenso polemischen wie ironischen Gehalt dieser Elegien und auch der weiteren erotischen Dichtungen Ovids hin. In der Terminologie der psychologischen Konfliktforschung unserer Tage lassen sich, so Bauer, die Verhaltensregeln der Ars Amatoria auf die polaren Begriffe von Kataklysma und Strategie bringen und damit als literarische Rollenspiele zwischen verschwenderischem Leiden und kühler Berechnung nachzeichnen. In den Schwarz-Weiß-Filmen Michelangelo Antonionis und ihrer statuarischen Ästhetik minimalisierter Handlungsmuster kann Bauer ein fernes Echo der oszillierenden Liebeskräfte bei Ovid freilegen. Die elementaren Beziehungskonstellationen von Mann und Frau, die Schwankungen zwischen Begehren, Verlustangst und Überdruss spielt Antonionis italienische Trilogie L’avven tura (1960), La notte (1961) und L’eclisse (1962) mit einer einfachen, existentiell aufgeladenen Bildersprache durch, die sich in Bauers Analyse fast wie eine mitlaufende Choreographie zu den Liebesgeschichten Ovids l esen lässt und die doch von ganz anderen historischen und ästhetischen V oraussetzungen ausgehen muss. Epochal vor und nach den idealisierenden Deutungskonzepten der romantischen Liebe angesiedelt, beschreiben Ovids wie Antonionis Erzählkünste die schreckliche und die ironische Seite eines rückhaltlosen Begehrens, das weder Kataklysma noch Strategem sein will, als Liebe demnach weder zu unterliegen noch zu obsiegen trachtet – das Modell einer Kräftebalance, die ohne den Impuls der Verwandlungsbereitschaft ebenfalls nicht zu denken wäre. Wie aber hat man sich eigentlich jenen Dichter vorzustellen, der als genialer oder besser kongenialer Nachschöpfer dieses universellen Imagina
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Henriette Harich-Schwarzbauer, Alexander Honold
riums mythischer Verwandlungen figurierte, jenen Publius Ovidius Naso? Dramatische Metamorphosen durchlief auch er – der Autor, der sich als Zeitzeuge und geachtete Persönlichkeit mitten im Zentrum der Weltmacht befunden hatte, als er dieses Unternehmen begann, und dann weitab am Schwarzen Meer sein Leben im Exil fristete und sein Großwerk beendete. Monika Schmitz-Emans lenkt, am Ende dieser Reise durch die Echos und Resonanzen der ovidischen Metamorphosen, den Blick zurück auf den Autor Ovid, der seinerseits längst zu einer literarischen Figur eigenen Rechts geworden ist. In der jüngsten Welle an poetischen und hermeneutischen Auseinandersetzungen mit dem Œuvre Ovids, die in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts einsetzte und in ihrem produktiven Schwunge noch fortdauert, formierte sich als eine kraftvolle Unterströmung auch ein neues Interesse an der Gestalt des Dichters selbst. Vor allem im Hinblick auf die Verwandlungen ist die politische und kulturelle Rolle Ovids und zumal die Geschichte seiner Verbannung intensiv erörtert und zum Gegenstand auch mancher fiktionaler Versionen gemacht worden. Schmitz-Emans bespricht aus der weitgespannten Reihe von literarischen Entwürfen der Figur Ovids so unterschiedliche Texte wie Vintila Horias Roman Dieu est né en exil, David Maloufs An imaginary life, Christoph Ransmayrs Die letzte Welt und Marin Mincus Roman Il Diario di Ovidio. Die beiden rumänischen Autoren Horia und Mincu bilden mit ihren 1960 und 1997 entstandenen Werken Anfang und Ende dieser Textreihe, und indem sie in ihren detailgenauen Erzählwerken den Ort des ovidischen Exils zur Sprache bringen, reflektieren ihre Darstellungen auch die Geschichte und Gegenwart ihres eigenen Heimatlandes. Bei dem Australier David Malouf und bei Christoph Ransmayr wirken die Landschaftsschilderungen wie ins Phantastische entrückt; ihre Werke nehmen sich größere Freiheiten im Umgang mit dem Schreibort und der Schreibzeit der Metamorphosen. Nicht allein (aber durchaus auch) als paradigmatischer Dichter einer Exilsituation ist der Ovid der Metamorphosen zu einer Identifikationsfigur der Gegenwartsliteratur geworden. An Schmitz-Emans’ konzisen Analysen dieser so divergenten Texte wird ersichtlich, dass der antike Dichter für die Poeten der Gegenwart gerade in seiner mythenbildenden und -umbildenden Fabulierkunst ein hochaktuelles Vorbild und Muster geblieben ist, ein Maßstab an Zeitgenossenschaft. Die singuläre Stellung der Metamorphosen, ihre Bedeutung als ein für die abendländische und die weltweite Literatur nach wie vor inspirierender Kosmos der Geschichten, wird durch die von SchmitzEmans vorgestellten Ovid-Romane farbenreich unterstrichen. An der Figur des Dichters zeigen die A utoren dieser Romane, was zahllose frühere Adap
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tionen ovidischer Motive an einzelnen Verwandlungsepisoden durchgespielt hatten: dass nämlich die Metamorphosen sich dem permanenten Spannungsfeld von flüchtigem Augenblick und dauerhaftem Schriftgedächtnis verdankten. Und mit jeder Fortschreibung dieses Erzählkosmos wird das Zusammenspiel von Prägnanz und Gestaltwandel aufs Neue eröffnet. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung danken die Herausgeber der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel, dem Seminar für Deutsche Philologie und dem Seminar für Klassische Philologie der Universität Basel. Die den Beiträgen zugrundeliegende Vortragsreihe wurde ge fördert von der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, Basel. Ein großer Dank für die umsichtige Mitarbeit bei der Einrichtung des Textes geht an Verena Stössinger, Karin Knobel und Isabelle Tanner-Egg, für die sorgsame Lektorierung der Satzvorlage an Nana Badenberg, sowie an den Schwabe Verlag, namentlich Dr. David Marc Hoffmann, für die Aufnahme des Bandes in sein Programm.