Multikulturalismus revisited
Eduard Kaeser 24
Eduard Kaeser
Multikulturalismus revisited Ein philosophischer Essay
Multikulturalismus ist heute medial und politisch omnipräsent. Werte-Pluralisten stehen den Bewahrern ‹westlicher› Werte gegenüber, die diese vorzugsweise gegen islamische zu verteidigen suchen; Analysen von Konflikten zwischen Kulturen rangieren spätestens seit Huntingtons Clash of Civilisations hoch in der Ökonomie publizistischer Aufmerksamkeit. Doch was ist eigentlich Multikulturalismus? Eduard Kaeser nimmt in seinem Essay den Multikulturalismus noch einmal unter die Lupe und stellt Fragen: Was heißt überhaupt Kultur, wenn heute von Kultur in so unterschiedlichen Bedeutungen gesprochen wird wie der östlichen und westlichen Kultur, der Wissenskultur, der Kultur der Gewalt, aber auch der Kultur von Fanclubs und Gangs? Wo ist der Multikulturalismus zu verorten zwischen Realität und Ideologie? Welche Hindernisse stehen dem friedlichen Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund im Wege und wie können diese überwunden werden? Und ist es in einer Welt mit so unterschiedlichen Traditionen, Sitten und Gebräuchen überhaupt möglich, universelle Werte wie Menschenrechte zu begründen und zu verteidigen? Eduard Kaesers Essay ist ein Plädoyer für eine säkular-liberale Sicht des Menschen und des Staates, mit den Menschenrechten als universalistischem Kern. Kaeser vergisst indes weder die kulturelle Vielfalt der Welt und der modernen westlichen Gesellschaften, noch die kulturelle Verwurzelung der Menschen. Es ist anspruchsvoll, fremde und zum Teil auch befremdende Sitten, Bräuche und Traditionen wirklich zu verstehen und anzuerkennen. Das ändern auch die makellosesten rationalen Argumente nicht. Eduard Kaeser, geboren 1948 in Bern, ist Physiker und promovierter Philosoph. Zunächst Assistent am Philosophischen Seminar Bern, war er anschließend Mitarbeiter der interfakultären Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie in Bern. Danach war er bis Sommer 2012 Gymnasiallehrer für Physik und Mathematik. Eduard Kaeser ist als freier Publizist, unter anderem für den Tages-Anzeiger, die Neue Zürcher Zeitung, die Wochenzeitung und den Berner Bund tätig; er ist Autor mehrerer Buchpublikationen: Der Körper im Zeitalter seiner Entbehrlichkeit (Wien 2008), Pop Science (Basel 2009), Kopf und Hand (Leipzig 2011).
Eduard Kaeser
Multikulturalismus revisited Ein philosophischer Essay
Schwabe Verlag Basel
Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Angela Zoller, Schwabe Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop, h.o.pinxit //editorial design, Basel Schrift: Quadrat Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN Printausgabe 978-3-7965-2873-6 ISBN E-Book (PDF) 978-3-7965-2885-9 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
Und deswegen kann ein Mensch nirgends auf Dauer allein sein. Selbst wenn er sich anschickt, eine unbewohnte Insel mitten im Ozean auswendig [sic] zu machen, ziehen spätestens in einer Woche andere Leute nach – Eine Familie mit Kleinkindern, eine Rentnerin mit einem dicken Dackel, ein arbeitsloser Klarinettist, der jeden Tag proben muss, eine mollige Alleinstehende, ein Mann mit rasiertem Kopf, der Selbstgespräche auf der Treppe führt, dieses ganze Pack eben – die üblichen Verdächtigen. […] Man muss sie nicht mögen. Man muss sie nicht verstehen. Man muss nicht mit ihnen gemeinsam Kuchen backen, aber es empfiehlt sich trotzdem, sie kennen zu lernen. In gewisser Weise tragen wir alle füreinander Verantwortung. Wir wohnen unter dem gleichen Dach. Wladimir Kaminer Lehrer: … und wie heißt die Mehrzahl von ‹fremd›? Elisa: Die Fremden. Lehrer: Jawohl, die Fremden – und aus was bestehen die Fremden? Mariam: Aus ‹frem› und aus ‹den›. Lehrer: Gut – und was ist ein Fremder? Alle durcheinander: Walfisch, Kakerlakenbrei, verschimmelte Entenbeine mit Spinnen … Lehrer: Nein, nein, nein, nicht was er isst, will ich wissen, sondern wie er ist. Max: Ja ein Fremder ist nicht immer ein Fremder. Lehrer: Wieso? Max: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Karl Valentin Usus tyrannus. Horaz
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Holzwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Kultur – ein gefährlicher Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Provinzen in unseren Köpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zwei Sackgassen des Multikulturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Idole des interkulturellen Verständnisses .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Trägheit der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Der latente Rassismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Das Kreuz mit der Religion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Reinheit als Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Horizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Im Xenotop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Koevolution statt Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Universalismus von unten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Vorwort Multikulturalismus ist Realität und Ideologie zugleich. Realität: Zunehmend leben wir in Europa unter Menschen verschiedener kultureller und ethnischer Herkunft, verschiedenen Glaubens, unter Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen und Vorstellungen eines guten Lebens. Daraus ist die Idee gewachsen, dieses Kulturgemisch sei möglichst sich selbst zu überlassen und Diversität sei ein Zweck an sich. Zur Ideologie wird die Idee der kulturellen Verschiedenheit im Postulat, dass letztlich die jeweilige Gemeinschaft bestimmt, was für sie Wert und Bedeutung hat. Ins Extrem gewendet: Es gibt so viele Werte wie es Gemeinschaften gibt, seien diese noch so klein und marginal. Das Paradox des Multikulturalismus ist, dass er selbst ein Teil des Problems ist, für dessen Lösung er sich hält. Er beruht auf einer ‹romantischen› Philosophie der Kultur, die auf Johann Gottfried Herder zurückgeht: «Ohne Kultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.»1 – dieser Satz Herders ist sozusagen das Axiom des Multikulturalismus; er wird gerne so gedeutet: Kultur ‹macht› den Menschen, nicht der Mensch die Kultur. Der vorliegende Essay ist ein philosophischer, weil er sich in erster Linie mit den ideellen Blockaden auseinandersetzt, die verhindern, dass wir uns aus den Partikularitäten einer Kultur zu lösen vermögen und uns auf einen universalistischen Standpunkt zu bewegen können. Unter Universalismus verstehe ich das Streben nach einem Wir, das die ethnischen und kulturellen Grenzen überwindet. Diesem Streben steht der Provinzialismus entgegen, eine Art von Atavismus des Denkens, der uns immer wieder heimsucht und das Projekt eines interkulturellen Wir hintertreibt (ich selbst bin von solchen Heimsuchungen keineswegs verschont). Bereits der Begriff der Kultur führt uns zu Problemen. Er ist heute durch inflationären und vieldeutigen Gebrauch derart verwässert, dass man eigentlich allem, was der Mensch tut, das Etikett ‹Kultur› anheften kann. Das Spektrum reicht von der Grobeinteilung in westliche und östliche Kultur bis zur Feinrasterung in Kul9
Vorwort
turen von Fanclubs oder Gangs. Letztlich ist es gerade der proteische Charakter dieses Begriffs, der ihn so praktikabel als Identitätswerkzeug macht. Eine Gruppe muss ihre Eigenarten – oder Unarten – nur als Kultur deklarieren, und schon hat sie sich in den heutigen ‹Anerkennungskämpfen› positioniert. Der Schriftsteller Eckhard Henscheid identifizierte 2001 in einem Anfall von nicht ganz ernstgemeinter Klassifikationswut allein in Deutschland 756 Kulturen.2 Ich halte es für ratsam, im Kontext der Debatte um den Multikulturalismus nicht von Kultur oder Zivilisation zu sprechen, sondern von Kultiviertheit oder Zivilisiertheit, als einem Habitus, der nach der berühmten Formel von Pierre Bourdieu überhaupt erst das Habitat des interkulturellen Zusammenlebens schafft.3 Menschen spulen nicht einfach kulturelle ‹Programme› ab, die sie internalisiert haben, sie können diese Programme ändern. Kulturen bieten nie alternativlose Lebensformen. Selbstverständlich leugne ich weder die kulturelle Vielfalt noch die kulturelle Verwurzelung des Menschen. Nur allzu häufig werden aber Konflikte im Namen von Kultur oder Ethnie geschürt und ich glaube, man kann diese Konflikte entschärfen, indem man sie ‹entkulturalisiert›. Das eigent liche Kernanliegen besteht meines Erachtens darin, die kulturelle Vielfalt zu achten und zu bewahren und sie gleichzeitig vor ideo logisierendem oder demagogischem Missbrauch zu schützen. In ihrer medial und politisch zugespitzten Form wird die Debatte um den Multikulturalismus eine Debatte um Werte. An vorderster Front bekämpfen sich die Bewahrer westlicher Werte (vorzugsweise gegen islamische) und die Werte-Pluralisten. Großanalysen von Kultur – lies: Wertekollisionen – rangieren hoch in der Ökonomie der publizistischen Aufmerksamkeit. Ohne die Errungenschaften westlicher Zivilisation – insbesondere der Aufklärung – schmälern zu wollen, die uns (relativ gesehen) Freiheit, Frieden, Wohlstand, Sicherheit und Gerechtigkeit gebracht haben, möchte ich an die Wertefrage im interkulturellen Zusammenleben ‹niederstufig› herangehen, indem ich sie in den Kontext heutiger Lebensformen stelle. In kulturell heterogenen Gesellschaften bleiben wir uns oft trotz der örtlichen Nähe fremd. Deshalb ist Einübung in interkul turelle Nachbarschaft gefragt. Ich meine damit etwas zugleich Banales 10
Vorwort
und Schwieriges: Die Nachbarschaft im Kopf. Sie setzt voraus, dass wir – zumindest für ein paar Augenblicke – die eigenen kulturellen Identitäts-Futterale abstreifen, dass wir vergessen können, woher wir kommen, vergessen, dass wir Schweizer, Europäerinnen, Christen, Heterosexuelle oder Homosexuelle sind. Das bedeutet nicht, das Eigene aufzugeben oder zu verraten, sondern ver suchsweise vorübergehend selbst zum Fremden zu werden, in dem Sinn, dass man sich ein Leben außerhalb seiner Tradition und Erziehung, seines Glaubens, seiner Haut vorstellt. Man muss dieses Leben nicht wollen und nicht führen und auch nicht andere Werte übernehmen, um den Anderen anzuerkennen und zu achten. Der Andere hat ein Recht auf Fremdheit. Das Bewusstsein genügt: Es gibt nicht uns und Fremde, es gibt nur uns Fremde. Oft werden gesellschaftliche Moral und gemeinschaftliche Werte fälschlicherweise gleichgesetzt. Beispielsweise in der Behauptung: Moralisches Handeln ist identisch mit christlichem Handeln. So schreibt etwa Papst Benedikt XVI., dass die christlichen Werte nicht relativiert werden dürften, wenn die Menschen im Haus der Christenheit, in der Kirche, weiterhin eine Heimat finden wollten. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern diese Hausordnung ausschließlich ihre Hausbewohner meint. Die christliche Kirche ist aber heute nicht mehr das einzige Heimat stiftende Haus in der pluralistischen europäischen Gesellschaft. Mit dem gleichen Argument wie der Papst könnten auch Vertreter anderer Konfessionen ihre Hausordnungen verteidigen. Sobald man jedoch auf die Straße tritt, betritt man Gelände, in dem Regeln und Werte des Umgangs über die jeweiligen Hausordnungen hinaus gelten (sollten). Außer Haus sind wir nicht Mitglieder einer besonderen Wertegemeinschaft, sondern einer staatlich garantierten Rechtsgemeinschaft. Üblicher weise nennen wir das aushäusige Gelände Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten gründlich gewandelt und erscheint – sogar in der Rechtsprechung – zunehmend durch Wertedebatten vermint. Der öffentliche Raum ist immer mehr durch Symbole anderer Lebensformen geprägt: Muslima und Muslime tragen nicht einfach Schleier oder Bart, sie tragen damit auch ein religiöses Bekenntnis. Das irritiert und führt zu den 11
Vorwort
sattsam bekannten Formen der ethnisch-kulturellen Abschottung. Nähe spaltet. Wir müssten Öffentlichkeit heute daher auch als Grenzgelände – als kulturell unbesetztes terrain vague – begreifen lernen, auf dem weder die Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem nivelliert, noch das Fremde an das Eigene assimiliert werden muss. Georg Simmel hat dafür die Formel «jenseits der Scheidung» gebraucht. Jenseits von Scheidung und kultureller Abschottung zu leben, wird heute vor allem in verstädterten Gebieten zu einem alltagspolitischen Erfordernis ersten Ranges. Gerade hier bilden sich Nachbarschaften zwischen Ethnien und Kulturen, die riskant und konfliktanfällig sind und durch eine kulturalistische Aufladung in offenen Streit ausarten können. Oft entstehen in den Städten durch Einwanderung urbane Dörfer, die den ‹Fremden› ein Stück Heimat gewähren. Aber dabei kann es die urbane Entwicklung nicht belassen, will sie eine Segregation der Gesellschaft verhindern. Nachbarschaftliche Koexistenz müsste also vermehrt auch bedeuten, die Mischzonen von Eigenem und Fremdem auszuhalten. Dadurch wandelt sich die Frage der Integration zur Frage der Ko evolution. Werte bezeichnen das, was uns wichtig ist. Entscheidend dabei ist dieses uns. Es umfasst heute – wenn überhaupt jemals – nicht einfach eine homogene Wertegemeinschaft, sondern ein buntscheckiges Konglomerat von Wertehaltungen, die sich teilweise direkt widersprechen. Wir sollten uns daher von der Idee lösen, dass allein ein Wertekonsens ein harmonisches und fried liches Zusammenleben garantiert. Wenn wir in den modernen heterogenen Gesellschaften mehr oder weniger Fremde sind, dann entwickeln wir uns auch zusammen als solche. Zwischen uns mag ein Dissens über Grundwerte und -vorstellungen richtigen Lebens bestehen, aber der erste Schritt ist der, uns aneinander zu gewöhnen. Vielleicht entdecken wir dabei sogar gewisse Ähnlichkeiten in unserem Verhalten und unseren Haltungen, gerade weil unser Blick nicht werteverhangen ist. Ohnehin könnte – dies als Vermutung geäußert – ein Denken in Ähnlichkeiten die Kollisionsszenarien unterlaufen, die heute ein Denken in Großdifferenzen heraufbeschwört. Dadurch gewinnt eine Kompetenz an Gewicht, die ich Horizontbewusstsein nennen möchte: die Fähigkeit, sich seines 12
Vorwort
eigenen Horizontes bewusst zu werden und bereit zu sein, sich einen anderen Horizont vorzustellen. Was daraus im besten Fall entstehen kann, ist ein wechselseitiges Verständnis: eine Horizontverschmelzung im Sinne Gadamers. Noch einmal: Der vorliegende Essay ist ein philosophischer. Ich bin der Meinung, dass der Multikulturalismus nicht nur ein soziologisches, kulturwissenschaftliches oder politisches Problem darstellt, sondern auch alte philosophische Fragen aufwirft, die im Kontext des Multikulturalismus eine neue Bedeutung gewinnen. Ich richte mich aber nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie an Philosophen, sondern an Menschen aller Kulturen und Ethnien, die willens und fähig sind, allzu bequeme Denkmuster aufzugeben. Ich verhehle im Besonderen nicht, dass dieser Essay auch ein Plädoyer für eine säkular-liberale Sicht des Menschen und des Staates ist, mit den Menschenrechten als universalistischem Kern. Aber diese Menschenrechte sind nicht etwas Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes. Ihre Basis ist ein universelles Wir, das jeder Mensch auf seine eigene Weise, mit seinen Kräften und Motiven, anstreben kann, indem er den Provinzialismus in sich selbst überwindet. Ich wende mich also auch gegen eine kultura listische Relativierung der Menschenrechte. Was für ein Universa lismus aber soll hier vertreten werden? Die Moderne lässt sich durch zwei fundamentale Ansprüche auf Universalität charakterisieren: im Projekt der Naturwissenschaften mit seiner erkenntnistheoretischen Verbindlichkeit für alle, und im Projekt der Menschenrechte mit seiner moralischjuristischen Verbindlichkeit für alle. Das erste Projekt hat – wie kritisch man einzelnen Aspekten dieser Modernisierung auch gegen überstehen mag – zweifellos zur Verbesserung der Lebensbedin gungen der Menschen beigetragen. Der Anspruch des zweiten Projekts auf Universalität ist nicht ohne Widerspruch geblieben: in einer «Welt in Stücken», wie der Ethnologe Clifford Geertz unseren soziokulturellen Aggregatszustand genannt hat, kann er durchaus angezweifelt werden.4 Wer sich der Verbindlichkeit des wissenschaftlichen Objektivitätsgebots verschließt, anerkennt die wissenschaftlichen Spielregeln nicht und macht sich im Extremfall lächerlich. Was aber, wenn jemand den universellen Anspruch der Men13
Vorwort
schenrechte ablehnt? Gibt er sich dann als Anti-Humanist, als unbelehrbarer kultureller Provinzialist zu erkennen? Man muss sich hüten, Menschen, die sich diesem Anspruch verweigern, ohne genaueres Hinsehen als verstockt, stur oder rückständig abzuqualifizieren. Die universellen Menschenrechte sind keineswegs universell evident. Gegner – und nicht die dümmsten – lehnen sie als zu abstrakt ab. Wir sind alle mehr oder weniger lokale Wesen, geprägt von partikularen Sitten, Bräuchen und Traditionen; diese Prägung kennzeichnet uns nicht selten bis tief in die Psyche. Andere, fremde Sitten, Bräuche und Traditionen wirklich zu verstehen und anzuerkennen, ist anspruchsvoll. Das können die makellosesten rationalen Argumente nicht ändern. Der Universalismus ist aufgrund seiner Wurzeln in der europäischen Aufklärung gefährdet – die Ablehnung der Menschenrechte versteckt sich oft hinter einer anti-westlichen, anti-impe rialistischen Position. Hier stoßen wir auf eine Grenze des universalistischen Projekts. Es bedarf – ich meine: immer – der philosophischen Unterstützung. Die Zeit erscheint mir reif, den Versuch einer Neudefinition des Universalismus zu wagen, und zwar nicht von oben, aus der Sicht von allgemeinen, allen ein leuchtenden Prinzipien, sondern von unten, aus der alltäglichen Praxis von Menschen in heutigen heterogenen Gesellschaften, von Menschen, die immer schon interkulturell miteinander verkehren. Von hier aus müssen wir auch die Frage stellen: Wer ist eigentlich dieses Wir und wer wollen wir sein? Ich glaube nicht, dass es jemals ein Wir geben wird, das nicht auch ausschließt. Aber sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt zu einer interkul turellen Zivilisiertheit, wie ich sie hier vertrete.5
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Holzwege
Kultur – ein gefährlicher Begriff Der Assimilations-Kontrast-Effekt Kultur ist die Art und Weise, wie Menschen in einer Gruppe zusammenleben, wie sie ihre Erfahrungen ausdrücken, bewahren und weitergeben. Die jüdische, französische oder Asantekultur ist das, was Juden, Franzosen oder Asante zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten tun. Kultur ist eine Art von Etikett, das wir einem notorisch komplexen Gruppenverhalten anheften, um es auf diese Weise einfach und handlich zu beschreiben (wie Gas in der Physik ein zusammenfassender Begriff für das Verhalten einer riesigen Zahl von Teilchen ist). Der Begriff der Kultur, ließe sich sagen, ist ein Vehikel der Komplexitätsreduktion. Aus der Psychologie ist der sogenannte Assimilations-Kontrast-Effekt bekannt. Wenn wir beispielsweise ganz verschiedene Menschen zu einer Gruppe vereinen und dieser Gruppe einen Namen geben, dann tendieren wir dazu, die Gruppen zugehörigkeit vor den individuellen Unterschieden wahrzunehmen. Die Kollektivwahrnehmung moduliert sich sozusagen der Individualwahrnehmung auf. Sie assimiliert die Individuen und setzt sie gleichzeitig in Kontrast zu Individuen anderer Gruppen. Dieses Verfahren, Individuen aufgrund einer kleinen Zahl von Eigenschaften zu einem Kollektiv zusammenzufassen, hat zweifellos Vorzüge – wir kennen diese aus dem Bereich der Naturwissenschaften. So lässt sich z.B. ein Gas als Ganzes durch einfache Gesetze beschreiben, es macht keinen Sinn, jedes einzelne Gasteilchen verfolgen zu wollen. In der Physik ist ein solches Kollektivkonzept kaum kontrovers. In den Kulturwissenschaften – Anthropologie, Soziologie, Geschichte – verliert es allerdings sehr schnell seine erkenntnistheoretische Unschuld, weil es eine Homogenität vortäuscht, die bei genauerem Hinsehen gar nicht besteht. Klassifikation in der Natur mag neutral sein, eine kulturelle Klassifikation ist es nie. Sie führt systematisch Einschlüsse und Ausschlüsse von Menschen mit sich, und diese Menschen sind in der Regel – und glücklicherweise – nicht einfach gefügige, willfährige Naturdinge wie Pilze oder Käfer. Bereits Carl von Linnés pseudo-objektive, ‹farbenfrohe› Unterteilung der Menschenarten in weiße Europäer, rote 17
Holzwege
Amerikaner, gelbe Asiaten und schwarze Afrikaner zeigt die Brisanz einer solchen Klassifikation: Europaeus albus: einfallsreich, erfinderisch, weiss, sanguinisch. Er lässt sich durch Gesetze lenken. Americanus rubescus: mit seinem Los zufrieden, liebt die Freiheit, … gebräunt, jähzornig, … er lässt sich durch die Sitte lenken. Asiaticus luridus: habsüchtig, gelblich, melancholisch. Er lässt sich durch die allgemeine Meinung lenken. Afer niger: verschlagen, faul, nachlässig, …, schwarz, phlegmatisch, … er lässt sich durch die Willkür seines Herrschers lenken.6
Man möchte heute fast lachen über einen solchen naiven klassifika torischen Eifer, wüsste man nicht, dass die hellsten Köpfe der Aufklärung sich solcher Schemata ganz selbstverständlich bedienten, und machte man nicht auch heute noch fast alltäglich die Erfahrung, dass ‹farbige› Kollektivkonzepte nach wie vor in den Köpfen vieler Menschen herumspuken. Bekanntlich verwandelt sich die Differenz zwischen den Kulturen leicht in Diskriminierung, nicht selten rassistischer Art. Auch das ist nicht neu. Kant z.B. verfügte aus Reiseberichten über eine durchaus differenzierte Kenntnis der Völker Afrikas, im Kongo, in Angola, Benguela, Benin, Akron und Agoma etwa; dennoch waren sie für ihn die «Negers von Afrika», die «schwarze» Rasse, über die er allgemeine Sätze in Umlauf setzte wie «Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.»7 Der Assimilations-Kontrast-Effekt bestimmt den Diskurs über Völker, Sprachgemeinschaften, Blut- und Schicksalsverwandtschaften, Nationen, Rassen bis heute. Seit Jahrhunderten sehen wir ihn am Werk, wenn Menschen nicht nur als Angehörige besonderer Kulturen unterschieden, sondern zugleich subtile und weniger subtile Grenzen und Hierarchien zwischen ihnen errichtet werden. Man kann immer Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Menschen finden, anhand derer sie sich unter dem Rubrum Kultur vereinigen bzw. trennen lassen. Insofern haftet jedem Kultur begriff etwas Willkürliches – um nicht zu sagen: Aufnötigendes – an. Ironischerweise machen darauf heute Kulturwissenschaftler vermehrt aufmerksam, während die Politik sich nach wie vor stark an der Diversität der Kulturen orientiert. Dabei ist nicht die Will18
Kultur – ein gefährlicher Begriff
kürlichkeit das Problematische am Kulturbegriff, sondern sein Anspruch, Phänomene, Konflikte und Tendenzen unserer heutigen heterogenen Gesellschaften primär durch die Brille des Paradigmas der kulturellen Differenz oder Identität zu beschreiben und zu erklären. Man muss daraus nicht auf die Unvereinbarkeit dieses kulturalistischen Paradigmas mit dem universalistischen Projekt schließen. Aber genau in der Frage, wie beide in Einklang zu bringen sind, liegt meines Erachtens die entscheidende Aufgabe einer interkulturellen Zivilisiertheit.
Der kulturalistische Fehlschluss Für das kulturalistische Paradigma ist die Diversität der Kulturen ein Faktum, das bereits Herder in der eingangs zitierten Stelle klar zum Ausdruck brachte: «Ohne Kultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.»8 Der Mensch ist ein Lebewesen, das einer bestimmten Gruppe mit eigener Abstammung und Geschichte, eigenem Erbe, Erinnerungen, Mythen, Praktiken angehört. Die Bewahrung (und gegebenenfalls Verteidigung) dieses gemeinsamen Erbes verleiht das Siegel eigentlicher Identität. Kultur ist gewissermaßen das Grundpigment des Menschen. In diesem Sinn werden wir alle in eine partikulare kulturelle Umgebung hineingeboren, wachsen darin auf und werden davon mehr oder weniger nachhaltig geprägt. Soweit ist diese Position unproblematisch. Falsch ist jedoch der Schluss – ich möchte ihn kulturalistischen Fehlschluss nennen –, diese kulturelle Umgebung definiere zwingend und normativ, wer wir sind: Weil du dieser Kultur angehörst, sollst du ihr auch angehören. Kulturen sind die Provinzen unseres Menschseins. Und die Bewahrung kultureller Erbschaften erscheint durchaus wünschenswert, vor allem dann, wenn sie dem Erhalt der Vielfalt von Lebensformen dient. Nur ist Vielfalt kein Zweck an sich. Und aus dem Sein einer Kultur folgt nicht, dass sie auch immer weiter bestehen soll. Vielfalt lässt sich nicht erzwingen, indem man jeden Menschen ins Futteral ‹seiner› Kultur steckt und ihn da drinnen behält. John Stuart Mill, der große Theoretiker des Liberalismus, hat in seinem Essay Über Freiheit die individuellen Eigenarten der Menschen ins Recht gesetzt: 19
Holzwege
Es gibt keinen Grund dafür, dass alle menschlichen Existenzen nach einem einzigen Muster […] konstruiert sein sollten. Wenn ein Mensch ein erträgliches Maß an Common sense und Erfahrung besitzt, ist seine eigene Art, sein Leben einzurichten, die beste; nicht weil sie an sich die beste wäre, sondern weil es seine eigene Art ist.9
Nicht die Kultur also ist das Maß, sondern die eigene Art des indivi duellen Menschen, sich sein Leben einzurichten. Und zu diesem Zweck kann kulturelle Vielfalt hilfreich sein: Wäre es nur so, daß die Menschen verschiedene Geschmäcker haben, so wäre das Grund genug, nicht zu versuchen, sie alle nach einem Modell zu formen. Aber verschiedene Menschen bedürfen auch verschiedener Bedingungen für ihre geistige Entwicklung und können in ein und derselben moralischen Atmosphäre so wenig gesund leben wie die ganze Mannigfaltigkeit von Pflanzen in ein und demselben physischen Klima. Dieselben Dinge, die einem Menschen bei der Entwicklung seiner höheren Natur eine Hilfe sind, bedeuten für einen andern Hindernisse […] So groß sind die Verschiedenheiten unter menschlichen Wesen […], dass es, wenn es nicht eine entsprechende Vielfalt in ihren Lebensweisen gibt, niemals […] zu der geistigen, moralischen und ästhetischen Statur emporwachsen, deren ihre Natur fähig ist.10
Obwohl Mill hier für eine Vielfalt der «moralischen Atmosphären» plädiert, in denen die Menschen gedeihen können, ist nicht die Vielfalt selbst der Zweck, sondern die «moralische und ästhetische Statur», zu der der einzelne Mensch emporwächst. Kulturen sind Optionen, keine fixen Definitionen menschlicher Identität. Eine solche Ansicht widerspricht der heute vorherrschenden multikultu ralistischen Idee, die in Kulturen selbst gewissermaßen schützensund bewahrenswerte ‹Arten› sieht. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hielt in seinem vieldiskutierten Essay über Multikulturalismus dem Grundrechtsverständnis des Liberalismus vor, es sei «differenz-blind». Deshalb müsse eine differenz-sensible Politik der Anerkennung bereit sein, «die Wichtigkeit bestimmter Formen von Gleichbehandlung abzuwägen gegen die Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur und sie entscheide[t] dabei bisweilen zugunsten der letzteren.» Eine solche Politik gründe eher «auf Urteilen darüber, worin ein gutes Leben 20