Between the Lines

Page 1

BETWEEN THE LINES

GRAPHIKFOLGEN VON LOUISE BOURGEOIS

UG_ETH_Louise_Bourgeois_UG_ETH_Murer.qxp 01.11.12 13:33 Seite 3

I S B N 978-3-7965-2892-7

Graphische Sammlung der ETH Zürich Schwabe Verlag Basel

9

783796 528927

BETWEEN THE LINES GRAPHIKFOLGEN VON LOUISE BOURGEOIS





BETWEEN THE LINES GRAPHIKFOLGEN VON LOUISE BOURGEOIS


Beiträge aus der Graphischen Sammlung der ETH Zßrich

9


BETWEEN THE LINES GRAPHIKFOLGEN VON LOUISE BOURGEOIS

Alexandra Barcal

Schwabe Verlag Basel · 2012



B etween the L ines Graphikfolgen von Louise Bourgeois «Der Name spielt kaum eine Rolle, denn, von der grösseren Realität anderswoher kommend, sucht man nur eine Stadt, einen Platz, sich zu verstecken, sich zu finden oder zu entdecken, einen Traum zu bauen, darin man beweisen kann, dass man vielleicht am Ende doch kein hässliches Entlein ist, sondern wundervoll und wert, geliebt zu werden.» Truman Capote1

S elbstportr ä t als weisse K at z e Die abgelichtete Szene

stimmt den Betrachter sogleich andächtig (Abb. S. 6). Wir blicken in einen geheimnisvoll abgedunkelten Raum. Es scheint sich angesichts der erkennbaren Gegenstände um einen Wohnraum zu handeln. Im Hintergrund zeichnet sich ein alter Kühlschrank ab, ein Rundbogen gibt weiter hinten den Blick frei auf ein weiteres möbliertes Zimmer. Die spärliche Beleuchtung zweier Lampen verleiht dem Ort einen behaglichen, ja beschützenden Charakter. Eine Art Schlupfwinkel, ein Versteck gar. In dieser intimen Atmosphäre sitzt eine hochbetagte Frau am Tisch, der bedeckt ist mit zahlreichen Werkzeugen und Utensilien, wohlgeordnet vor ihr ausgebreitet. Adrett ist ebenso ihre Haltung: Sie ist in einen Morgenmantel gehüllt, beide Unterarme an der Tischkante angelehnt. Etwas irritierend nimmt man das Objekt ihrer konzentrierten, gleichsam liebevollen Aufmerksamkeit wahr. Sie gilt einem Metronom, das seitlich vor ihr auf dem Tisch steht. Die Assoziationen beginnen sich zu jagen: Das Gerät zur mechanischen Vorgabe von Tempo symbolisiert einerseits die wohltuende, vielleicht auch inspirierende Wirkung von Rhythmus, andererseits aber weist es auf die Unbarmherzigkeit der Zeit hin, auf die unausweichliche Unterwerfung

7


unter ihr Diktat – wie dieser zer- und verstörende Aspekt etwa in Object of Destruction (1932) von Man Ray, einer der Ikonen des Surrealismus, zum Ausdruck kommt. Mit seinem Pendeln steht das Metronom also auch für Ambi­ valenz: Setzt die Frau das Gerät in Bewegung, hält sie den Schwenkarm an, greift sie in dessen regelmässiges Klacken ein – der Sachverhalt bleibt unklar. Kaum ein Künstler verfügt über eine derart unmittelbare, singuläre Ausstrahlung, wie Louise Bourgeois (1911–2010) das zeitlebens getan hatte. Ihre zahlreichen Porträts sprechen Bände. Die hier beschriebene Schwarzweissaufnahme der Künstlerin ist 1995 in ihrem Haus in New York entstanden – dies ist anhand der legendären Tür, deren Flügel auf diesem Photo beiseitegeschoben sind, dennoch klar zu erkennen. Vor dieser in Wirklichkeit schmutziggelben Türe mit den ornamental verzierten, sandgestrahlten Glasscheiben ist sie in ungezählten Interviews zu sehen – das bis zum Dach mit Kunst vollgestellte Haus in Chelsea diente der Künstlerin beinahe fünfzig Jahre lang als Wohn- und Arbeitsort, den sie vor ihrem Tod jahrelang gar nicht mehr verlassen sollte –, vor dieser Kulisse pflegte sie wie von einer Tribüne herab ihre unvergleichliche Sicht zu verkünden. Denn Bourgeois zeigte ihr Leben lang ein ausgeprägtes, fast zwanghaftes Bedürfnis, sich mitzuteilen. Einmal nach Grundtendenzen oder aber auch nach einem ganz bestimmten Detail in ihrem Werk befragt, konnte sie ad hoc lange, ausführliche Erläuterungen abgeben. Beredt, bestimmt, nie in Verlegenheit geratend war sie es offensichtlich gewöhnt, ihren Gedanken, Ideen und Ängsten, die sie immer wieder heimsuchten, äusserst überzeugend Ausdruck zu verleihen.Von kleiner, feiner Statur enthüllte sie in ihrer vertrauten Keimzelle Wahrheiten von umso imposanterer Tragweite: Messerscharf sezierend, mit oft erschütternder Nüchternheit benannte sie menschliche Schwächen, legte emotionale Abgründe frei und entlarvte Scheinwelten, dies allerdings stets auf ihre ureigene Art und Weise. Die knapp formulierten, auf den ersten Blick überaus folgerichtigen Interpretationen der eigenen Werke folgen einer inhärenten Logik, die den eigentlichen Zusammenhang zuerst im Dunkeln lässt: «There is a matter of ransom here. The ransom of being so happy is that you look ridiculous … the saving grace is that you don’t know it!»2

8


Diese zwei Zeilen sind einem Kommentar entnommen, den Bourgeois spontan abgegeben hat, befragt zu Champfleurette, the White Cat (Abb. S. 9), einem ihrer graphischen Blätter. Das Blatt zeigt tatsächlich eine weisse Katze, die sich in einer allerdings etwas eigenartigen Pose den Blicken darbietet. Mit einem überdimensionierten Hinterteil, das sie dem Betrachter fast schon unanständig entgegenstreckt, scheint sie den Boden unter ihren mit allzu menschlichen Stöckelschuhen bestückten Pfoten-Füssen verloren zu haben – das konstatierte Missgeschick erhält hier eine wortwörtliche Umsetzung. Aber wie hängt die angedeutete Thematik von Sein und Schein mit dieser evident weiblichen Figur in Katzengestalt zusammen? Eine mögliche Erklärung ergibt sich auf der sprachlichen Ebene: Das französische Wort fleurette (Blümchen) kommt in der Muttersprache der Künstlerin in der Redewendung conter fleurette vor, was so viel wie «Süssholz raspeln, schmeicheln, jemandem schön tun» bedeutet,Verhaltensweisen also, die gerne dem domestizierten Raubtier zuge-

9


schrieben werden. In Bourgeois’ Graphik spiegelt sich nicht nur – wie etwa in einer Fabel La Fontaines – exemplarisch und belehrend ein Grundzug der Condition humaine, dieser wird vielmehr mit eigenen Defiziten in Beziehung gebracht. Sozusagen durch bannendes Erzählen (conter) soll er in Bild und Text blossgelegt und überwunden werden. So wie sich Bourgeois auf der semantischen Ebene gewandt zu bewegen weiss, so vermag sie gekonnt Grenzen in technischer Hinsicht auszuloten.Vor der Dame auf dem zu Beginn beschriebenen Photo liegt – einem Spiegel gleich – eine hochpolierte Platte auf dem Tisch. Es handelt sich um die Druckplatte zum beschriebenen «Selbstporträt» als weisse Katze – dies erklärt auch die Beschaffenheit der erwähnten, vor ihr wie Waffen ausgelegten Instrumente, allesamt Radierwerkzeuge oder eher alles, was sich zum Kratzen, Ritzen und Schaben der präparierten Oberfläche eignen könnte. Bourgeois war bekanntlich mit den unterschiedlichsten Drucktechniken vertraut, diese verliehen ihrem Schaffen gar immer wieder wesentliche Impulse.3 Dass die Druckgraphik einen besonderen Stellenwert in ihrem Werk einnimmt, zeigt Bourgeois’ ausnehmend unkonventioneller Umgang damit. Für sie bedeutete die Arbeit in diesem Medium in erster Linie ein ausserordentlich kreatives Abenteuer: «Instead of being a reproductive medium, it was for me a creative one.» 4 Dementsprechend gibt es von der hier besprochenen Radierung gleich mehrere Versionen, Zustände und Varianten – ein für Bourgeois überaus übliches Vorgehen. Die erste Version, auch unter dem alternativen Titel Happiness figurierend, ist bereits 1993 im Ausspreng- oder «sugar lift»-Verfahren ausgeführt worden. Mit zaghaften, kurzen Strichen versuchte sich Bourgeois zum ersten Mal in dieser Technik und deutete in sattem Rotton eine Silhouette auf zartrosa Hintergrund an. Noch ohne Schuhwerk und nach links gerichtet, steht auf diesem Blatt gleichsam die erste Idee, das Volumen des dominanten Katzenhinterteils, im Zentrum. Noch im selben Jahr kehrte die Künstlerin jedoch zu ihrer bevorzugten druckgraphischen Technik zurück. Die zweite Version des Katzen-Motivs, nun in Kaltnadeltechnik realisiert, wird als eines der letzten Werke im Werkverzeichnis der Druckgraphik bis 1993 aufgeführt – mit dem Vermerk «in progress». Der fundierte und detaillierte Katalog ist Deborah

10


Wye, der langjährigen Leiterin der Abteilung «Prints and Illustrated Books» am ­Museum of Modern Art in New York (MoMA), zu verdanken. Anlässlich der ersten umfassenden Übersicht über Bourgeois’ druckgraphisches Schaffen 1994 im MoMA erschienen, entstand er in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin, die bereits 1990 eine Schenkung von je einem Exemplar all ihrer bisherigen – und wohlgemerkt ebenso aller zukünftigen! – gedruckten Auflagen an die Institution verfügt hat.5 Bourgeois liess es sich auch nicht nehmen, für dieses Verzeichnis die beträchtliche Anzahl an bestehenden Drucken mit bestechenden Kommentaren zu versehen. Die lauernde, gleichzeitig aber auch belauerte «Goody-goody»-Kätzin ist in der zweiten Fassung bereits klar und schwarz umrissen, rot sind nur noch einzelne, mit Tinte jeweils von Hand akzentuierte vielsagende Stellen. Im nächsten, hier abgebildeten Zustand von 1994 wirkt das anthropomorphe Tier dann wie eingezäunt: Gefangen zwischen strengen, abweisenden Mauern wirkt es zwar selbstzufrieden, ist aber ohne einen Ausweg der Lächerlichkeit preisgegeben. Wie das 1995 entstandene Photoporträt der Künstlerin zeigt, hat sich Bourgeois die Platte ein Jahr später allerdings – wie so oft – nochmals zur Bearbeitung vorgenommen. Auf diese Weise entstanden teilweise über Jahre hinweg immer wieder neue Re-Interpretationen ein und desselben Motivs, die Bourgeois’ eigenwilliges, nicht zuletzt auf Fortsetzung angelegtes, narratives Verständnis von Druckgraphik verdeutlichen.

F atale M issverst ä n d nisse un d ungl ü c kli c he L iaisons Als allererste Suite im herkömmlichen Sinne einer Abfolge von

thematisch mehr oder weniger lose zusammenhängenden Teilen im Dienste einer übergeordneten Einheit wird im Werkverzeichnis He Disappeared into Complete Silence (1947) geführt. Es handelt sich hierbei um ein AusnahmeUnterfangen der Künstlerin in mehrerer Hinsicht. Als Bourgeois 1938 ihrem Ehemann folgend, dem amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater, nach New York übersiedelt, hat sie mehr als ihre Familie in Paris verlassen. Sie lässt auch ihre geistige Heimat zurück. Auf das Drängen ihrer fortschrittlich denkenden Mutter hin hat sie an der Sorbonne studiert, als «Tochter aus

11


gutem Hause» danach diverse private Kunstschulen besucht und schliesslich in Kreisen der Surrealisten verkehrt – ihre erste eigene Wohnung befindet sich im selben Haus wie André Bretons Galerie Gradiva. Bourgeois beschränkt sich in diesem Umfeld zuerst aufs Malen, obschon ihr Fernand Léger bereits den Weg zur Skulptur weist. In der amerikanischen Metropole angekommen, versucht sie ihrer plötzlichen Isolation aktiv entgegenzuwirken und beginnt sich für Druckgraphik zu interessieren; noch 1938/39 nimmt sie erste Kurse in der Art Student’s League. Es entstehen erste druckgraphische Versuche in diversen Techniken, die in den 1940er Jahren zu einer Reihe von Einzelblättern führen – von der Künstlerin erst 1990 zu einem Ensemble mit dem sinnfälligen Titel Quarantania (von französisch quarante für «vierzig») zusammengefasst und publiziert. Bourgeois kann bald an einigen Graphikausstellungen teilnehmen und schafft sich gar eine eigene Handpresse an. Stets bestrebt, ihre Technik zu perfektionieren, versucht sie den hohen Ansprüchen ihres Lehrmeisters zu genügen: Stanley William Hayter (1901–1988), den sie noch von früher kennt, hat sein berühmtes Pariser Atelier 17 nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach New York verlegt. Hier findet sich Bourgeois plötzlich unter ihren alten, wie sie emigrierten Freunden André Masson, Joan Miró oder Yves Tanguy wieder. Neben einfacher Gelegenheitsgraphik schafft Bourgeois in Hayters Tiefdruck-Atelier in erster Linie naive Interieurs und Szenen aus dem Alltag. Nach dem Krieg, während die Emigrantenfreunde allmählich in die Heimat zurückkehren, erfolgt mit der Publikation des Portfolios He Disappeared into Complete Silence jedoch ein Bruch in der Motivik. Ähnlich wie bei der späteren Fassung von The White Cat mit der verunsichernden räumlichen Situierung erwarten den Betrachter nun bizarre Bauwerke im Nirgendwo: hohe, wie gezimmerte Warten (Abb. S. 31) wachen sinnlos über menschenleere Ebenen; leere ­Gehäuse und rätselhafte Gestelle harren ihrer Funktion – einige erinnern in ihrer stolzen Monstrosität an das Denkmal der III. Internationalen von Tatlin6 (Abb. S. 32 oben), einige an die wirbelnde Maschinerie in Marcel Duchamps Grosses Glas (Abb. S. 32 unten). Offensichtlich konstruiert und dennoch figurenähnlich, lassen die Gebilde die zeitgleich von Bourgeois erschaffenen, noch surrealis-

12


tisch beeinflussten Gemälde wie Femme maison anklingen, nehmen aber auch – vereinzelt oder in Gruppen platziert – die ab Ende der 1940er Jahre entstehenden Skulpturen Personnages vorweg. Mit jenen primitivistischen Stelen, die als «lost presences» für in Frankreich zurückgelassene Personen stehen, soll die Künstlerin ihr Heimweh verarbeitet haben. Bewältigt haben mag Bourgeois hier neben der sie belastenden Einsamkeit und Überforderung angesichts ihrer Situation als Mutter von drei kleinen Kindern eine akute Depression oder ganz generell «ein Drama des Selbst»: «It is about the fear of going overboard and hurting others. Controlling oneself is always the goal … so one will not project one’s own violence on others.»7 Kunst gilt ihr immer als «Garantie für geistige Gesundheit» (Abb. S. 52). Bezeichnend ist deshalb, dass sie in einem enormen, quasi reinigenden Effort nicht nur die Platten selbst gedruckt, sondern die neun Gravuren auch gleich mit eigenen Texten versehen hat. Denn mit dem Schreiben verfolgt Bourgeois eine Art Befreiungsstrategie: Bei noch so erschwerten Bedingungen bietet ihr ein simpler Bleistift und ein Stück Papier stets die sichere Zuflucht. So handeln ihre neun Parabeln von existentiellen Dramen – bereits Marius Bewley spricht im begleitenden Vorwort zur ersten Ausgabe von der Abwandlung eines einzigen Themas, nämlich der «Tragödie menschlicher Frustration».8 Wie in den Texten von Daniil Charms (1905–1942), in denen das Alogische und Groteske der Situationen als Mittel zur Entlarvung der realen sowjetischen Absurdität benutzt wird, treffen wir hier auf absurd anmutende, prekäre familiäre Konstellationen, unglückliche Beziehungen und fatale Missverständnisse. Die abstrakte Bildsprache der d­ rastisch reduzierten Räume erhält ihren Gegenpart in den Texten: So wie Bourgeois mit einigen präzisen Strichen ihre menschenfeindliche Umwelt skizziert, so verfasst sie Kleinstgeschichten voller schroffer, beinahe brutaler Metaphern und fehlender Pointen. Die ernüchternde Erkenntnis wird durch analogen Vergleich gewonnen. Ihre Verzweiflung über die stets von neuem misslingenden Kommunikation findet ihren Ausdruck in bedrückenden Bildern wie den von der Decke hängenden Leitern, die keinen Ausweg bieten können (Abb. S. 33). Die Stiche stellen somit selbständige Formeln für die thematisierte (un-)menschliche Isolation dar, sind also niemals nur illustrierend.

13


Eine unglückliche Liaison liegt auch einer anderen Geschichte zugrunde, die Bourgeois zur gleichen Zeit verfasst hat, die aber erst viel später publiziert wird: The Puritan erscheint 1990 bei Osiris Editions. Die Idee zur Herausgabe eines illustrierten Buches trägt der New Yorker Verleger Benjamin Shiff bereits 1988 an Bourgeois heran, nachdem er ihr erstes Portfolio – als einzige druckgraphische Arbeit – 1982 in der grossen ersten Retrospektive im MoMA gesehen hat. Endlich erfreut sich das Werk der Künstlerin nach jahrelanger Arbeit in unbeachteter Abgeschiedenheit verdienter, breiter Anerkennung. Das, was sie mit ihrem ersten Vorhaben in eigener Regie intendiert hat – nämlich die grössere Bekanntmachung ihres Werkes –, scheint schliesslich einzutreffen: Der Markt verlangt nach mehr und nach erschwinglichen Werken. Nachdem Bourgeois die Graphik zugunsten ihrer vorwiegend skulpturalen Arbeit zwischenzeitlich aufgegeben hat, beginnt sich ihr Interesse für dieses Medium nun wieder einzustellen. Sie lässt sich Zeit, experimentiert viel. Shiff versorgt sie mit präparierten Druckplatten, die sie bei sich zu Hause bearbeiten kann, und ihr wird mit Christian Guérin ein Assistent zur Seite gestellt, denn bei der Umsetzung ihrer zeitgleich entstandenen Serie von Zeichnungen entscheidet sie sich für die hohe und überaus kräfteraubende Kunst des Kupferstichs.9 Trotz ihrer beinahe achtzig Jahre ist Bourgeois immer noch überaus ambitioniert und hält sich ganz an Hayters Maxime, wonach ein Künstler nur so viel wert wie ein Kupferspan lang sei, den es beim Stechen herauszulösen gelänge. Es entstehen Arbeiten von atemberaubender Schönheit, die acht mit Chine collé unterlegten Stiche scheinen auch dank dem teilweise gewischten Plattenton geheimnisvoll zu leuchten.10 Die filigranen Strukturen und Raster bestechen durch ihre klassische Form und ausserordentliche Klarheit, vertikal aufgeschichtete Reihungen wechseln sich mit zentrisch aufgebauten Mustern ab (Abb. S. 35–37).Wenngleich die äusserst strenge Bildsprache zunächst technische Pläne suggeriert, trägt die Arbeit doch zutiefst menschliche Züge.Trotz ihrer mathematisch-exakten Wirkung sind die Linien allesamt von Hand gezogen, die rigiden Abstände bei genauer Betrachtung unregelmässig und die rechtwinklig-eckigen Konturen oft von ovalen Formen dominiert. Die Inklination zu konstruierten Figuren einerseits und die spontan-emotionale Kom-

14


ponente andererseits hängen damit zusammen, dass Geometrie für Bourgeois, die sich anfänglich für dieses Fach an der Sorbonne eingeschrieben hat, eine zutiefst symbolische Bedeutung hat: «Once I was beset by anxiety. I couldn’t tell right from left or orient myself. I could have cried out with terror at being lost. But I pushed the fear away – by studying the sky, determining where the moon would come out, where the sun would appear in the morning. I saw myself in relation to the stars. I began weeping and knew I was alright. That is the way I make use of geometry. The miracle is that I am able to do it by geometry.»11 Während ein rettender Fixstern in der argen Ödnis bereits eine der Platten der früheren Folge ziert, lässt Bourgeois die Erzählung, die diese Graphikfolge begleitet, mit dem Himmel beginnen, dem hoffnungsvollen, da «ernsthaften» Firmament über New York. In der formalen Gestaltung genauso strikt den Rhythmus zwischen Bild- und Textseite einhaltend, wird hier wiederum eine Parabel über das Scheitern einer Liebe erzählt, nur diesmal durchgehend. Über acht Seiten analysiert Bourgeois eine Episode aus ihrem Leben, die vierzig Jahre zurückliegt: Es soll um eine Verarbeitung der unglücklichen Liebe zu Alfred Barr, dem langjährigen Freund und Gründungsdirektor des MoMA, gehen. Die Hauptprotagonisten des emotionalen Dramas sind jedoch entpersonalisiert: Ein Er und eine Sie verlieben sich ineinander und kommen doch nicht zusammen – eine platonische Liebe eben, «pur» wie der Himmel. Wiederum endet alles in einer definitiven «Stille», nur dass Bourgeois diesen aus zeitlichem Abstand betriebenen Exorzismus ihres einstigen Schmerzes auf der bildlichen Ebene sehr sachlich angehen kann. Evident ist ihr Interesse an bildhauerischen Fragestellungen.12 Berücksichtigt man etwa die sorgfältig angegebene perspektivische Darstellung der einzelnen aufgeschichteten Stockwerke, so erhält man einen «Puritaner» – der sukzessive von der Auf- zur Untersicht wechselnde Blickwinkel impliziert ungefähr eine Betrachtung in Augenhöhe und somit menschliche Grösse der Struktur: vor dem Betrachter erhebt sich eine Figur (Abb. S. 36 unten). Diesen minimalistischen Ansatz hat Bourgeois bereits mit ihren seriell konzipierten Statuen vorweggenommen. Die Stele mit dem Zusatztitel Wedges (Keile) von 1950 (Abb. S. 16) kann als Vorläufer dieser Bildidee angesehen werden.

15


16


Als seriell kann Bourgeois’ Arbeitsweise generell bezeichnet werden. Liegen den Gravuren zu The Puritan wie erwähnt farbige Gouachen zugrunde, stützt sich ihre Gedankenwelt ursprünglich aber auf eine skulpturale Lösung. Daher begnügt sich die Künstlerin auch nicht mit einem finalen Zustand der graphischen Blätter. Selbst als Einzelblätter konzipierte Graphiken durchlaufen in zahlreichen Abwandlungen der einzelnen Abzüge wesentliche Weiterentwicklung, ihre Gesamtheit muss denn als Serie, nämlich eine Serie von Unikaten, begriffen werden: ein Beispiel dafür ist etwa das friesartige Blatt The Song of the Blacks and the Blues, dessen Auflage von vierzig unterschiedlichen Exemplaren die Künstlerin von 1989 bis 1996 beschäftigte (Abb. S. 17). Bourgeois’ «instinktive Set-Theorie», wie Robert Storr dies genannt hat 13, basiert auf einem Urbedürfnis nach Anhäufung und Wiederholung, nach Einsetzen und Überprüfen, aber auch Zerstören und Neuzusammensetzen. Es ist ein ausgeprägt dynamisches Werkverständnis. Der prozessuale Charakter der Druckgraphik kommt dieser Einstellung entgegen: Beim Druckprozess hat man die Chance, verschiedene Stadien festzuhalten. Anders als bei der Zeichnung, bei der die ursprüngliche Idee verlorengehen kann, lassen sich Drucke herstellen, die die einzelnen Bearbeitungsphasen wiedergeben. Bourgeois hat von einem Vor- und Zurückbewegen gesprochen: Zuerst komme das Hinzufügen und Hinzufügen, dann das Überlegen, Warten, Blattwechseln und schliesslich das Weglassen – der letzte Abzug sei dann der reinste.14 Und das stets aufs Neue: Bei jedem Abzug scheint es um einen Gebärprozess zu gehen, bei dem die zugrunde liegende Idee immer wieder neue Gestalt annehmen muss. So gibt es von den einzelnen The Puritan-Tafeln Abzüge auf unterschiedlichsten Papierarten, Drucke mit wechselnden Flächen in Aquatinta

17


oder von Hand in diversen Farben akzentuiert und Blätter mit ergänzenden Kugelschreiber- oder Bleistiftzeichnungen. Die Angaben im Werkverzeichnis lassen diesen repetitiven und deshalb oft auch unabschliessbaren Vorgang bei der Entstehung von The Puritan erahnen: Von den geplanten 75 Exemplaren des Buches wurden schliesslich 63 realisiert, wobei 25 Bände handkoloriert sind, daneben gibt es aber auch 19 ungebundene Exemplare, bei denen die acht Stiche zu Diptychen oder Triptychen zusammengestellt wurden, 59 Studien, ein zusätzliches Blatt und ein ganzes Set an verworfenen Probedrucken.15

A uf d er S u c he na c h F ragen un d A ntworten

The Puritan bleibt bei weitem nicht das letzte Graphikprojekt der Künstlerin: Ende der 1980er Jahre macht Bourgeois die Bekanntschaft von Peter Blum, einem anderen New Yorker Verleger, der sich auf die Herausgabe exklusiver Editionen spezialisiert hat. Auf sein unermüdliches Betreiben hin entsteht eine ganze Reihe von aufwendig gestalteten und repräsentativen graphischen Werken, nebst Einzelblättern wie The White Cat die Folgen Anatomy (1989/90), Autobiographical Series (1994) oder The View from the Bottom of the Well (1996). ­Interessanterweise wendet sich Bourgeois nun einer gänzlich figu­rativen Bildsprache zu und gestaltet mit unvergleichlich eindringlichen Bildern beunruhi­gende Porträts von Riesenkörperteilen, verschlüsselte Szenen aus e­inem ein­samen Alltag und bedrückende Alptraumvisionen vom Ertrinken (Abb. S. 45–47). Auf Blums Veranlassung kommt es auch zu einer zweifellos fruchtbaren Kolla­ boration, wie er sie bevorzugt zwischen einem Autor und einem Künstler anzuregen pflegt. 1992 erscheint Homely Girl, a Life, eine Novelle von Arthur Miller (1915–2005), begleitet von zehn Tafeln der Künstlerin – die auch separat als Etchings for Homely Girl, a Life in einer leinenbezogenen Mappe veröffentlicht werden. Es ist eine höchst gefühlvolle Apostrophierung einer Beziehungsgeschichte. Gebrochene und neu erwachende Liebe wird hier auf die florale Welt übertragen: das Ich und Du sind zunächst symbolisch vereint als Blätter einer Blume (Abb. S. 39), später tritt Entfremdung ein – ein Spross bricht ab (Abb. S. 40), schliesslich kommt es zu einer neuen Vereinigung,

18


die wiederum in den Himmel führt: «After an accident or a difficult episode, faith comes again … the sky is the limit … no danger is perceived. This is the energy of the morning.»16 Ganz anders als etwa Ambroise Vollard, der seine Künstler mit bereits existierenden, von diesen selbst gewählten Texten arbeiten liess, ist Blum an der Auswahl der Autoren beteiligt, ja er zieht es vor, Texte eigens in Auftrag zu geben. Das geschriebene Wort ist ihm genauso wichtig wie das gedruckte Bild. Dieses Mal ist jedoch ein besonderes Mass an Feingefühl erforderlich: Mit Bourgeois und Miller sind zwei Schwergewichte der amerikanischen Kultur involviert. Blum lässt für einmal den Künstler auf den Text antworten; Bourgeois’ Einfälle werden in zwei eigenständigen Lösungen umgesetzt. So erscheint dieselbe Geschichte in zweifacher Gestaltung und Interpretation. Der erste Band enthält die ursprünglichen Kugelschreiberzeichnungen auf Briefumschlägen (Abb. S. 41 oben), in einer Vorzugsausgabe ist ihre Umsetzung als Kaltnadel-Arbeiten publiziert, im zweiten Band finden sich Cut-Outs aus medizinischen Büchern eingeklebt, zudem sind von Bourgeois ausgewählte Textstellen rot hervorgehoben (Abb. S. 41 unten).17 Blums Konzept einer «dislocation» – den Künstler aus seiner gewohnten ­Arbeitsumgebung herauszuholen – kommt bei Homely Girl, a Life nicht zum Tragen. Es scheitert daran, dass Bourgeois zuhause arbeiten will. Dafür gelingt es mit Blums Hilfe, die Künstlerin mit Felix Harlan und Carol Weaver zusammenzubringen. Die beiden Kunstdrucker weihen sie in neue Techniken wie das eingangs erwähnte Aussprengverfahren ein, besprechen die bearbeiteten Platten vor Ort, um sie danach in der eigenen Werkstatt zu drucken; später verantworten sie den Druck und die Herausgabe weiterer Mappenwerke der Künstlerin: La Reparation (2003) und The Laws of Nature (2003). In den 1990er Jahren beginnt für Louise Bourgeois eine überaus produktive Schaffensphase, die bis zu ihrem Tod 2010 anhalten wird. Zahlreiche Skulpturen und Installationen entstehen, darunter die berühmten Cells, aber sie bleibt auch der Druckgraphik treu. So werden über die Jahre hinweg mehrere erstklassige Portfolios produziert. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist Jean Frémon von der Galerie Maeght Lelong in Paris. Er kennt Bourbeois’ Werk bereits seit 1979 und richtet als einer der ersten Galeristen

19


in Europa 1985 eine Retrospektive in Paris ein, die später in der Zürcher Zweigstelle der Galerie zu sehen ist. Doch der erwartete Durchbruch auf dem alten Kontinent tritt nicht ein, wenig Presseecho, kein einziger Verkauf, überhaupt: «le succès fut très mitigé»18, wie Frémon später schreibt. Für die Rezeption von Bourgeois’ Werk – nicht nur in Europa – erweist sich diese Schau jedoch auf ganz ungeahnte Weise als folgenreich: Johannes Gachnang, damals Mitarbeiter der Zürcher Galerie, macht hier Christiane Meyer-Thoss mit dem Werk der amerikanischen Künstlerin bekannt, was zu dessen ersten wichtigen Exegese führt. Kurze Zeit später besucht Meyer-Thoss Bourgeois in New York und veröffentlicht die in zahlreichen Interviews gewonnenen legendären Statements – wie etwa «Self-expression is sacred and fatal.»19 – 1992 zusammen mit einem Essay in einer Publikation, die noch heute grundlegend für die Auseinandersetzung mit Bourgeois’ Schaffen ist. Den von der Künst­ lerin geprägten Ausdruck der «emotionalen Abstraktion» für die eigene künstlerische Suche interpretiert Meyer-Thoss als existentiellen und vor allem singulären Imperativ. Allmählich stellt sich nun auch der langersehnte Erfolg in Europa ein. Unter der Ägide der Galerie Lelong entstehen einige Editio­ nen. Bereits 1990 ist das erwähnte Portfolio Quarantania erschienen, das neue Abzüge früher graphischer Arbeiten enthält, es folgt das üppig gestaltete Buch Metamorfosis (1999) in Zusammenarbeit mit der spanischen Künstlerin ­Maria Fluxà – übrigens mit einer weiteren Variante von The White Cat, nun in eine gefügige Gespielin mit einer obszön klaffenden schwarzen Öffnung am Hinterteil «verwandelt» – sowie die mehrteilige Mappe What is the Shape of this Problem? (1999). «What is the Shape of this Problem?» ist gleichzeitig eine Frage, die zum Kern von Louise Bourgeois’ Werk führt. Alles scheint um ein emotionales, pulsierendes Zentrum zu kreisen: «The subject of pain is the business I am in. To give meaning and shape to frustration and suffering.»20 In einer losen Folge von neun Paaren, jeweils eine farbige Lithographie und eine kurze, ­typographisch gestaltete Sentenz (Abb. S. 49–52), dekliniert hier die Küns­t-­ lerin mögliche – gestalterische, aber durchaus auch philosophische – Antworten auf die sie so bedrängende Hauptfrage. Nur sind es keine Repliken

20


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.