Christian Scholz Die Zeit der Kamera
Schwabe
Christian Scholz Die Zeit der Kamera
Schwabe Verlag Basel
© 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel © Photographien, Notate: Christian Scholz, Zürich Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Buchkonzept: Christian Scholz Scans und Interpretation: Ursula Heidelberger, Zürich (mit C.S.) Lektorat: Marianne Wackernagel, Schwabe Graphische Umsetzung: Bruno Kocher, Zürich, Thomas Lutz, Schwabe Schrift: ITC Esprit BQ Book Papier: Z-Offset W, 150 g/m 2 Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2895-8 www.christianscholz.ch rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
fĂźr Ursina
Die Zeit läuft – sie kommt immer ans Ziel. Schauen Menschen, wenn sie sich anblicken, in beide Augen oder in eines? Oder sind ihre je fünf Gramm leichten Augen so beschäftigt mit der Fülle an Sicht barem, dass sie nur ins Antlitz schauen, ohne Fokus auf Auge, Nase, Stirn, Wange, Kinn? Von Angesicht zu Angesicht – ein Rätsel. Wohin die Augen blicken – Wem ich mein Auge schenke – Wessen Auge mich traf – Die Augen verschliessen – Im Dialog mit dem gewonnenen Photo veräussert sich eine Sprache. Etwas flüstert. Das Flüstern wird lauter, zur Lautregung, zur freien Interpretation. Je länger dieser Ton im Bild anhält, desto feiner wird der Blick. So habe ich immer gearbeitet. Vorher kannten wir uns nicht, das Bild und ich. Ich spreche von einem Bild, das entsteht, ohne dass man sofort seinen «Wert» erahnt. Ich spreche von einem Bild, das Geduld hat und sich erst viel später als Lösung eines Rätsels zeigt. Das Photographieren öffnet nicht nur eine Tür, um dem Wort zu entkommen, es öffnet auch die Tür in einen Raum, von dem man nicht wusste, dass es ihn je gab.
Millionen Bildnisse? Geschwätz. Letztlich bleiben pro Kontinent nur wenige hundert Bildtafeln von Grösse und Gehalt, die einer Tradierung angemessen sind. Sie tragen Gegenwart aus, sind der Zukunft zugänglich, evozieren «stillen Jubel» (Roland Barthes). Alles andere schwirrt zwar umher, vergeht aber. Rhetorik auf dem Boulevard. Leichtigkeit ist nicht ohne Ernsthaftigkeit zu bekommen. Beides bedingt sich. Nachdem die Welle ihre Kraft gesammelt hat, strandet sie und schäumt auf. Das perfekte Bild entsteht im gleichen Sinn. Es geht einzig um diesen Punkt. Die Dinge werden hochgestemmt, heben an zu Bruch und Gischt, um dann wieder zu vergehen. Jetzt. Der Rest ist Handwerk. Welches Gewicht ein einziger Blick besitzt. Das volle biographische Gewicht.
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Der fragende Blick, der fordernde, willige, glückliche oder fliehende. Die Iris: Erzählungen aus der Mitte der Zeit. Tränen oder Trost? Müdes Auge oder doch Zuversicht? Dann der gestörte, geschockte, gebrochene Blick und gegen Abend ein schützendes oder irritierendes, vielleicht lustiges Auge. Momente der Zärtlichkeit, befeuert von List? Am kommenden Tag wieder das verlogene Gesicht, zumindest das verbogene. Unnahbarkeit, Undankbarkeit, Unfehlbarkeit. Ein verspannter oder versponnener Ausdruck. Welche Fülle! Ich laufe weiter. Das erregte Antlitz, das mildtätige, das distanzierte, sogar nachsichtige. Und dann in grösster Helligkeit: Brillenschleiche, Pokergesicht, Wuschelkopf, Nervensäge, Westernheld, Sportskanone, Miesling, Schlägertyp und Schöngeist. Das Gesicht voll Scham und Reue und Entschuldigung, auch das. Und gerötete Wangen, spitzes Kinn. Impertinenz im Gesicht. Oder der Kopf, dem falschen Körper aufgesetzt. Oder Augen, kurz vor dem Tod. Wer soll das alles ablichten? Vor allem: warum? Dass ein Portrait in der unmittelbaren Begegnung entsteht, ist nur Teil der Wahrheit. Es entsteht in mindestens fünf Momenten! Der erste ist jener, da ich das Antlitz erstmals sehe, mit ihm in Dialog trete, sich mir das Bild erschliesst, das die Person von sich selbst hat. Der zweite Moment jener, da ich mich von dieser Anschauung löse, mir ein eigenes Bild mache und das, was ich sehe, in Schwarzweiss ablichte. Der dritte steht für eine längere Erzählung, dieser Moment liegt in den Negativen verborgen. Soeben noch Jetzt-Zeit, schon abgetauchte Vergangenheit. Der vierte Moment folgt Wochen später: grossformatiges Ausbelichten des Portraits auf Papier. Das Gesicht sagt: «Das war ich – gestern.» Der Entscheid, welches Portrait dann tatsächlich bleibt und alle anderen überlebt, markiert den fünften Moment. Dauert lange. So war es schon bei August Sander (Antlitz der Zeit). Das Gesicht abbilden zu lassen, es der Darstellung zuzuführen, diese Haltung belebt nicht nur Malerei und Bildhauerei, sondern auch die noch immer so junge Photographie. Dort steht das Portrait als biographische Spur und berufliche Zeichnung an einem immer fortwährenden Beginn. Das Antlitz ist belichtet, es existiert ein Negativ, es beginnt seinen Weg durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte, die fortgesetzte Anschauung ist möglich. Daneben gibt es natürlich das andere: Angst, bei Ablichtungen das Gesicht zu verlieren.
Die Kamera stützt Zeit und Wege. Sie fängt ein, was mich umgibt. Sie ist Zentrum, ich oft nur ihr Begleiter.
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Das Spiegelbild
Die Highsmith! Begegnung in den frühen neunziger Jahren. Wichtiger Baustein, gesetzt an einem Augusttag im Tessin. Es ist heiss und still. Und es ist anstrengend, die Dichterin in dieser Stille zu portraitieren. Später fragt sie, ob ich schwitzen würde, und anfangs bot sie mir alle Räume an: Arbeitsraum, Wohnstube, Schlafzimmer. Wo anfangen? Beginn im Salon. Portrait neben dem Spiegel und der Kerze, danach: Patricia Highsmith am Schreibtisch. Dann legen wir eine Pause ein und gehen nach einem Gespräch in den Garten; ihr Körper gebückt beim R upfen von Unkraut. Bilder wie filmische Sequenzen, alles geht schnell, selbst am Marmortisch, wo sie kurzerhand zur Harald Tribune greift. Welche Texanerin! Europäisiert, aber immer unbändig, alert wie wild. Im Blick zurück erkenne ich: Portraitarbeiten wie «Das Spiegelbild» handeln von ihrem doch recht heftigen Leben – bis zum Tod 1993 in Locarno. Die Cadrage als wichtiger Kunstgriff. Eben noch mit dem Rahmen in der Luft herum gefuchtelt oder ihn hinter dem Rücken versteckt, holst du dir diesen (imaginären) Rahmen plötzlich direkt vors Auge und schneidest das Bild sekundenschnell aus dem Sichtfeld. Aber aufgepasst: Jede Realität hat hohe Oberf lächenspannung. Wie der klassische Schneider brauchst du in diesem Moment eine sichere und ruhige Hand.
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Zeit ohne Kamera. Ich sah einmal das zerfurchte Antlitz einer sehr alten Frau. Kliffs, Terrassen, abfallende Landschaften. Nirgendwo noch Harmonie. Z erstört das Wechselspiel von Auge und Mund, Stirn und Kinn, Nase und Wangen. Wasser reserven: der Haut entzogen. Verhärtung und Stein. Ein Menschenantlitz als Relief. Dabei war doch auch dieses Gesicht ehemals ein Kindergesicht. Aber das liegt hundert Jahre zurück. Kindergesicht und Altersgesicht – wie zwei völlig verschiedene Menschen. Ohne Verweis oder Balance. Ich vergesse es nie. Gibt es eine Phase im Leben, in der ein Gesicht seine biographisch höchste Steigerung an Kraft und Selbstgewissheit entfaltet, so dass darin alle vorherigen Stadien und alle folgenden aufgehoben sind? Ein Antlitz, so reich an Gegenwart, dass Vergangenheit und Zukunft wie zwei Rahmungen wirken? Und wäre es so, wo finde ich es? Zürich! See und Flussufer, Cafés und Plätze. Nach all den Jahren kenne ich die Stellen der Stadt: das Zackige, Geschmeidige, Dunkle, das Gerade, Laute, Teure und Runde. Schon bei ersten Erkundungen (1974) berührte mich dieser Ort, weil sichtlich ohne Ruinen, ohne Zeugnisse ehemaliger Feindberührung. Kein «Wiederauf bau», vielmehr uralte Brücken, angenehme Nischen, schöne Terrassen, Gärten und Parkanlagen. Bei meiner Ankunft anfangs weniger Stadt des Geldes oder der Kunst als vielmehr Stadt für Optiker, Flaneure, Wasserratten, auf jeden Fall eine Stadt zum Verweilen. Und eine Stadt, in der Kreativität möglich wird, weil mich nichts ablenkt, weil nicht ständig Geschichte und Aufregung den Alltag durchsieben. Die Entscheidung, die Grenze zu passieren und sich hier niederzulassen, bewährt sich mannigfach. Eine gute Zeitzone. Zum Ende des alten Jahrhunderts beginnt die Zusammenarbeit mit meiner Zürcher Printerin. Zum Beginn des neuen Jahrhunderts entfaltet sich mein Portraitwerk. Beispiele: Im Kreuzgang der Fraumünsterkirche portraitiere ich einen Verleger im Halbprofil. Jahre später die Frau mit dem dunklen Haar und die Frau mit dem hellen Haar sowie einen jungen Sänger und einen emsigen Rechtsprofessor. Dieser Kreuzgang so nah der Limmat als bevorzugter Ort der Sichtungen, als Ort der Erfindungsgabe und Vor-Erinnerungen. Und ich entdecke immer mehr vortreffliche Stellen. Zürich hat Kohärenz, genutzt als Aussenatelier: Farben, Punkte, Schatten, sogar Graffiti.
Frühneuhochdeutsch hiess es «eräugnen», mittelhochdeutsch «eräugen», althochdeutsch «irongen». Sich vor Augen stellen war das «eräugen». Sich zeigen entwickelte sich zu «eräugnen». Reflexiv gebraucht kam es zur heutigen Form: sich begeben, sich ereignen. Punktum: Eine Photographie ereignet sich. Portraitkunst als Tat.
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Körper im blauen Overall. Die Videokünstlerin Pipilotti Rist als quicklebendige Skulptur. Wir ziehen zunächst zum Zürcher Güterbahnhof. Mit den Händen stützt sie sich auf dem Geländer ab, mit den Füssen geht’s rückwärts die Wand hoch. Sie schwebt an dieser Rampe leicht in der Luft. Es geht hin und her, immerfort ist es heiter und spannend. Können wir jetzt das Portrait machen …? Nein? Nicht? Noch nicht? Ein Ruf, ein Schmerz, ein Reiz am Rande der Nacht. Oder sagte sie’s nicht, sagte ich es? Augen verdreht, aufgerissen, geschlossen, nachdenklich, hart, beherzt, verträumt. Und die Frage: Was ist Schönheit? Pipilotti ist glücklich, P i pilotti ist traurig. Rollenspiel. Als sie einmal sehr still wird, sehe ich: Den anderen anschauen können ist eines der grössten Ereignisse.
Schauen können
Vielfach ist es das natürliche Licht, das unvermutet eine Szene optimiert oder s ogar auslöst. So ist es nicht das heftig Erlernte, nicht das willentlich Angepeilte, sondern das Geschenkte, das dem Bild die bestimmende Ausdruckskraft verleiht. Ein Plus, ein Mehrwert. Ob Sonnenschein oder eine massive Wolkenfront, die kontinuierlichen Mengen an Tageslicht sind für mich immer wieder gewaltig und ständig einmalig. Und du erhältst sie kostenlos, ein Leben lang, jeden Morgen, überall auf der Welt. Grundierung und herrlicher Appell zum Auf bruch.
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Auf der Terrasse der Eidgenössischen Technischen Hochschule – hier stand er, hier sagte er, wie merkwürdig doch die Menschen daher liefen, hier zündete er sich eine Zigarette an, hier sprach er von der baldigen Augenoperation in London, hier erzählte er vom Los deutscher Juden in Kleinstädten des 18. Jahrhunderts, hier beschrieb er seine baldige Reise nach Prag. Im Zürcher Kunsthausrestaurant b ekundet er: Zum Lunch genügten Kartoffeln, alles andere mache müde vor dem erneuten Schreiben (Austerlitz). Plötzlich kommt das Jahr 2001, und dieser Mensch ist tot. W. G. Sebald sagte mir im Gespräch noch vier Jahre zuvor: «Ich glaube, dass die Schwarzweissphotographie bzw. die Grauzonen in der Schwarzweissphotographie dieses Territorium bedeuten, das zwischen dem Tod und dem L eben liegt. In der archaischen Phantasie war es ja in der Regel so, dass es nicht nur das Leben gab und dann den Tod, wie wir das heute vermuten, sondern dass es dazwischen dieses riesige Niemandsland gab, wo die Leute dauernd herumwanderten und wo man nicht genau wusste, wie lang man sich dort auf halten muss, ob das jetzt ein Purgatorium im christlichen Sinn war oder eben so eine Art Wüstenei, die man zu durchqueren hatte, bis man auf die andere Seite kam.»
Standfest bleiben und überdauern
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Menschendarstellungen, Tatspuren: Mein Projekt zielt auf dreihundert Portraits. Es fehlen noch fünfzig. Aber nie alle in einem Ausstellungsraum präsentieren. Menschliche Gesichter sind etwas sehr Lebendiges, sie brauchen kleinere Räume, verlangen den intimeren Zugang. Sie machen nur dann neugierig, wenn ihre Präsentation an der Wand in Menge und Format achtsam erfolgt. Endlose Reihungen ermüden. Bildermengen erschlagen. Schon nur hundert Augen schauen gnadenlos den Betrachter an – erst recht, wenn er wieder den Raum verlässt. Zürich als Ort von Wissenschaft und Forschung: Der Nobelpreisträger Rolf Martin Zinkernagel wünscht ein Portrait, das ihn mit einer Maus zeigt. Er verdankt ihr viel. Einverstanden. Der Immunologe setzt das Exemplar, das noch am Nachmittag sterben wird, auf seinen Oberarm und lässt es zum Unterarm laufen. Ich gewinne Portraits beider Leben: einmal vom selbstbewussten, schmunzelnden Forscher, einmal von der recht hilflosen, dem Tod geweihten Maus. Da ergreift mich grosse Unruhe – wissend, morgen, in einem anderen Zürcher Labor, habe ich einen Negativstreifen vor Augen, darauf eine Maus, die dann schon tot ist. Mensch Menschen! Wesen, die Mäuse züchten oder Raketen zünden. Wesen mit dicken Tüchern am Leib oder nahezu aus Glas. Dann jene, die Wasser und Brot lieben, Holz und Blattwerk mögen, auch Blütenzauber, oder jene, die mit Beeren, Beton, Blei, mit Datteln, Fellen, Fett, Fisch, Fleisch, Gold, Haaren, Kohle umgehen oder die mit Kirschen, Kupfer, Leder, Lehm, Leinen, Mehl, Metall, Milch zu tun haben, vielleicht Orangen, Öl, Papier, Pappe, Plastik, Stein, Tee oder Ton zur Hand nehmen. Was berühren Menschen nicht alles! Salz und Sellerie und Sand und Seide und Silber, morgens, abends, den langen Tag. Schnee und Stahl oder Zitrone und Zucker, wieder den ganzen langen Tag. Und das dünne Negativ? Ich begegne dort dem Stoff, aus dem wir alle sind: nackte Haut, biegbar und doch stark, dunkel und doch hell. Leuchtschriften. Innerhalb der Portraitkunst ist die photographische Darstellung des Kunstsammlers als Individuum kaum anzutreffen. Selbst bei August Sander erscheint dieser Typus nicht. Dabei fragt jede Generation neu: Was prägt passionierte Augenmenschen? Welche Dialoge ermöglichen Kunstsammler? Ich realisiere eine Werkreihe zu diesem Kreis von Menschen, beginne früh mit einem wichtigen Vertreter in Zürich. Bald zwei Jahrzehnte Arbeit. Aber diese Spanne muss durchschritten werden, damit sich etwas offenbart und Vertrauen wächst. Die Portraitierten haben eine «Notation» auf Celluloid zugelassen. Nun ist diese Notation nahezu fertig, und jeder Einzelne, Frau und Mann, schaut im Negativ wie im Positiv in seine ureigene Richtung. Schweizer Kunstsammlerinnen und Kunstsammler in unserer Zeit, ein Projekt über die Kraft eines kostbaren Landes inmitten von Europa.
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Aufsicht
Oerlikon im Oktobernebel. Ein Freitag. Kleine Produktionsästhetik. Während der Aufnahmen eines Firmeninhabers verstehe ich: Portraits besitzen untereinander einen beachtlichen Verwandtschaftsgrad. Das Abbild eines Menschen ist nicht selten «verwandt» mit bereits realisierten Abbildern anderer. Gleicher Gesichtsschnitt, ähnlicher Blick. Erinnerung auch an die eigene Kindheit und Jugend. Da der TV-Cowboy aus uralten Tagen. Da der ehemalige Klassenlehrer. Da ein Politiker der siebziger Jahre. Da auch Vaterfigur oder Jugendfreund. Das Bildgedächtnis verlebendigt sie alle. Doppelbelichtungen ebenfalls bei Frauenportraits: Mehrmals die eigene Mutter «mitportraitiert», die Tante, eigene Schwester und Grossmutter, dann zahlreiche Schauspielerinnen aus den sechziger Jahren oder die dralle Physiklehrerin – mit Sportwagen vor dem Gymnasium. Der Auslöseimpuls am Apparat ist nichts anderes als das nochmalige Auslösen subtil abgespeicherter «Bilder». Rückkehr an den See. Neues in der Tasche.
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Zum zweiten Mal gewagt, einen sehr alten Menschen mit der Kamera aufzusuchen. Erneut erlebe ich keine Ablichtung des Verfalls, sondern die der Biographie. Freudige Begegnung mit dem gut 95-jährigen Künstler Gottfried Honegger. Er fand weni ger in der Stadt Ulrich Zwinglis eine Heimat als in der Nähe Arles’, in Südfrankreich. Später die Bildtafeln von ihm und vielen anderen auf dem Arbeitstisch. So viele Gesichter in einem Gesicht. Da ist Picasso, Godard und dort Gorbatschow. Ich finde auch Kokoschka und sogar Hitchcock. Ich sehe die Loren und John Lennon. Beleuchtung und Kopf haltung haben ihren Anteil und lenken durch Gesichter aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Mode, Wissenschaft, Sport. Und wo ist das Individuelle im Portrait? Es ist der Blick, die Gestik, das Porenkleid. Es sind immer die Linien, die natürlichen Falten bei Frau und Mann. Wenn sich vor mir die Dinge verwandeln und eine Körperlichkeit annehmen, die fast lebendig wird, wenn sich alles derart bezogen wissen will auf Raum und Zeit, ist schon die kleinste Störung brutal. Befund: Ob Lebewesen oder Landschaft, Architektur oder Apparat – nur in strenger Bindung ans Gegenüber, und sei es das Fremde, kann sich einstellen, was mir sonst verwehrt bleibt. Lichtschrift des Augenblicks.
Lichtschrift
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Uralte Idee, ein Haus des Auges zu gründen, eine Schule des Sehens und der Malerei, Letztere, weil sie ja nur eine besondere Frucht Ersterer darstellt. Studienangebote von früh bis spät, auch nachts, wenig Pausen, immerfort Lektionen. Solche über Grauzonen, über raue Flächen und Raumflächen, über Lichtglimmer noch im Schwarz. Vertiefend ein Bogen durch die Jahrhunderte, Wahrnehmung von Raum und Zeit. In einem Seitentrakt des Gebäudes, das ich mir am Zürichsee vorstelle: Die neuere Photokunst oder zumindest das, was dafür gehalten wird. Hier primär ein Lehrgang zur Entdeckung der Kontur im Bild, zum Silber auf dem Bild, zur Politik neben oder unter dem Bild, zur Vorbereitung für den Druck. Sekundär: Lehrgang über das starsinnige Wollen, über Kriegsphotographie und Rhetorik. Gastdozenten besuchen das Haus, benennen die digitale Buntwelt, sprechen informativ – oder kritisch – über das weltweite Museums- und Galerieprogramm. Sozialkunde und das kunstsoziale Abseits nicht vergessen – sowie Erkenntnisse über die Optik im Tierreich, etwa über eine Spinne mit sechs Augen, deren Erforschung wir Walter Gehring in Basel verdanken. Viele Depoträume und Ruhezimmer. Im Entrée: Detail aufnahmen des Sehnervs und grossformatig einige Zitate jener, die nicht laut, sondern nur klug sind, darunter Augenmenschen, gute Sammler mit einem Sinn fürs Schauen. Und Kinder.
Räumliches Sehen
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So hoch!
Photographische Arbeiten in Farbe schon seit Jahrzehnten. Plötzlich fällt die Mischung ins Auge. Es dominiert das Blau und Grün. Beides oft bildfüllend und üppig. Rot ist fast ausgeklammert. Erstmals die Frage nach Abwehr und Treue: Welche Farbe war eher Blendung, und welche steuerst du immer wieder an?
2011, ein heisser Zürcher Sommer. Den neuen Turm umrunden, höchster Körper im städtischen Raum, ein Schwergewicht, sanft und freudestrahlend, besonders im Abendlicht. Es ist ein Turm mit Weitsicht, nicht umstellt wie die Wolkenkratzer in New York. Sein Blaugrün pulsiert. Ihn lange begutachten. Irgendwo versteckt sich die adäquate Perspektive fürs Weitwinkelobjektiv. Gefunden! Flugs ein Klettern der Augen die Glasfassade hinauf, bis zur markanten Auskragung, die die Sicht abbremst. Aber nur kurz, dann geht’s weiter. Oben angekommen mit dem Blick, öffnet sich der grüne Bau ins Blau des Himmels. Er hat nicht nur starke Füsse, sondern auch einen versierten Kopf.
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Häuser sind Skulpturen auf städtischem Feld. Vernarbte oder schlicht von den Jahren gezeichnete Plastiken der Spezies Mensch zum Behausen oder Bewohnen. Nur wenige haben Verstand, nur wenige signalisieren Körpersinn. Hans Josephsohn hat mich diese exotisch anmutende Sichtweise gelehrt. Der Bildhauer lebte in Zürich. In meiner Vorstellung steht er bis heute vor seinem Zürcher Atelier und misst die Perspektiven, misst die Proportionen, misst die Welt plastisch aus. Er formt etwas tief Inneres in ein allseits sichtbares Äusseres. Ich schleppe die Kamera dorthin, um abzulichten, wie er es gemacht hat. Ich schleppe Vermutungen über Königsberg dorthin. Er spricht, trinkt Kaffee, raucht. Dann holt er wieder aus: «Ach, kommen Sie, nein». Oder: «Ach, hören Sie, so sieht man es heute, aber damals …» Oder: «Die Reliefs, da habe ich keine Vorstellung, woher die kommen, das weiss man nicht.» Seit August 2012 redet er nicht mehr. Er ist tot. Jetzt müssen seine Figuren benennen, was sie können. Sie müssen den Unermüdlichen wach und seine Stimme lebendig halten. Siebzig Jahre hatte er gearbeitet, gezweifelt und diskutiert. Siebzig Jahre sich Mut gemacht.
Was ich noch wollte – Nie mehr sah – Schon – Der gestrige Tag – Gestorben – Kein Bild, nichts – Verstecktes Glück. Bevor das Portrait chemisch seine Enthüllung erfährt, ruht es im Gehäuse; schon definiert, aber noch unsichtbar. Erst Wochen später sehe ich das Ergebnis. Dieses Versteck schützt beide vor der sofortigen Sichtung – den Portraitierten wie den Portraitierenden. Es bewahrt vor hektischer Kontrolle via Display. Ob gelungen oder, analog, misslungen: keiner weiss es. Dieser Modus entspannt und schöpft Leichtigkeit aus der gemeinsamen Konzentration. Neue Portraits. Punktgenau kommt bei diesem Zürcher Kunstsammler alles zusammen. Offenheit und Ruhe, Licht und Haltung. In seinem Garten an der Freudenbergstrasse: Die Hand von Hubert Looser stützt sich gegen einen jungen Baum. Seine Augen finden Halt im Blick zum Objektiv. Das Gespräch bricht nicht ab. Als wir die in der Sonne funkelnde Baumreihe verlassen und im Schattenbereich des Hauseingangs weiterarbeiten, verschwinden anfängliche Hemmnisse: Wie cadriere ich sein Portrait? Was binde ich ein? Die Fragen lösen sich in nichts auf. In der Tür, dort, wo ich den Sammler vor zwei Wochen erstmals traf, kommt Rahmung ins Spiel. Lockruf. Und schon ist das Portrait da. Beidseitiges Suchen und Finden.
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Proportionen
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Im Profil
Im nahen Zugerland: Erstmals allein mit Kühen, zwanzig Tiere am Hang, tags zuvor entdeckt. Schön geschwungene Hörner. Auge, Euter, Gestalt: prächtige Bildsprache. Viel Muskulatur und Beinkraft. Ich finde die gesuchte Cadrage – mit Berglinien. Die Tiere in konzentrierter Stellung vor der Kamera. Eines am Kopf des anderen. Ein zweites über den Rücken schauend. Himmel und Fell. Kühe, sich liebkosend, zärtlich abschleckend, dann innehaltend. In die Nähe sehen sie ausgezeichnet. Sie «beobachten» das Zurückspulen der Filmpatrone, das Einlegen eines frischen Films, mein Anpeilen ihrer Körper mit dem Teleobjektiv. Langsame Bewegungen sind geboten, vorsichtige kleine Schritte, keine Hektik. Ihre Aufmerksamkeit dauert allerdings auch keine Ewigkeit. Bald könnten sie sich abwenden, bald wieder die Neugierde verlieren, bald den Hügel hinauflaufen. Suche nach frischem Gras. Ich spreche ihnen gut zu, erbitte etwas Geduld an meinem ersten Tag bei ihnen. Jetzt. Hinter dem Zaun blickt ein Tier nach Osten, das andere nach Westen. Und Kühe in Parallelstellung wie Hirsche – als beschwörten sie in der Weite der Landschaft den baldigen Regen. Hohe Spannkraft. Animalischer Kontinent. Was ist Haut? Was Wärme, Körpervolumen, Kontur und Gestalt? Wie zeigt sich ein Leib aus Fleisch und Blut? Was entzieht sich dem Blick? Welches Gewicht hat der Kopf? Wohin zielt der Rumpf, wenn er satt und gestärkt ist? Sind die Beine kräftig genug für Tag und Nacht? Nord und Süd?
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