Wegschauen geht nicht

Page 1

Nora Eckert

Wegschauen geht nicht Georg Büchner auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts




Für die Bühnenwerke Georg Büchners – Danton’s Tod, Leonce und Lena und Woyzeck – hob sich der Vorhang erst mehrere Jahrzehnte nach dem frühen Tod des Dichters im Jahr 1837. Doch als das Theater um 1900 die Stücke entdeckte, galten sie als Offenbarung. All das, was die Moderne an Themen, Ausdruck und Stil für sich reklamierte, fand sie hier in überraschender Frische und Klarheit vor. Seither haben die drei Werke den Rang von Klassikern, sind zu guten Bekannten geworden. Aber wie gut kennen wir sie wirklich? Betrachten wir ihre rege Rezeptionsgeschichte auf den deutschsprachigen Bühnen des 20. Jahrhunderts, fällt auf, dass sehr Unterschiedliches aus den Stücken herausgelesen wurde. Das Theater – gleich einem Selbstbedienungsladen – präsentierte sie stets so, wie sie gefielen, zeitgemäß dekoriert, textlich variiert, nach je unterschiedlicher Intention. Die sieben Beiträge des vorliegenden Bandes bilden ein aufschlussreiches Panorama der wechselhaften und vielgestaltigen Aneignung von Büchners Bühnenwerken durch das Theater des vergangenen Jahrhunderts. Ausgehend von konkreter Inszenierungspraxis ergeben sich Einblicke in die Kultur-, Politik- und Mentalitätsgeschichte der jeweiligen Zeit. Die intellektuelle und ästhetische Stimmungsfrequenz der drei Werke korrespondierte stets erstaunlich passgenau mit damals aktuellen Diskursen. Jede Epoche scheint sich in den alterslos wirkenden Stücken wiederzufinden. Wie steht es um Büchners Resonanz auf heutigen Bühnen? Überlegungen zu dieser Frage schließen den Rundgang des Buches ab und führen zurück zu den Werken selbst, von denen alle Interpretationen ihren Ausgang nehmen.

Nora Eckert wurde 1954 in Nürnberg geboren und lebt seit 1974 in Berlin. Sie war journalistisch tätig für Zeitungen (tageszeitung, Tagesspiegel) und Zeitschriften (Theater der Zeit, Opernwelt) und ist Autorin mehrerer Buchpublikationen, darunter Der Ring des Nibelungen und seine Inszenierungen von 1876 bis 2001 (Europäische Verlagsanstalt 2001), Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert (Henschel 1998), Von der Oper zum Musiktheater. Wegbereiter und Regisseure (Henschel 1995).


Nora Eckert

Wegschauen geht nicht Georg Büchner auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts

Schwabe Verlag Basel


Schwabe reflexe 26 Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Iris Becher, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN Printausgabe 978-3-7965-2897-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-2927-6 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch


Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Büchners Ankunft im Theater. Eine Rekonstruktion .. . . . . . . . . . . . . . . 15

Woyzeck und Wozzeck. Versuch über die moralischen Gründe eines Theatererfolgs, oder: Wer hat Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Robespierre oder die Sehnsucht nach dem starken Mann. Ein rezeptionsgeschichtlicher Beitrag zu Danton’s Tod in der Weimarer Zeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 «aber wir haben den Krieg und die Guillotine». Gründgens spielt 1939 St. Just . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Leonce und Lena oder: Wie inszeniert man Langeweile? . . . . . . . . . . . . 81 Robert Wilson inszeniert Büchner, oder: Was ist unter der Oberfläche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Über Büchners Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115



Vorwort «Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll.» Georg Büchner «Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehen? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrtum? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung?» Friedrich Nietzsche Die hier versammelten Beiträge sind, mit Ausnahme von «Woyzeck und Wozzeck» und «Über Büchners Aktualität», als Vorträge ent­ standen und wurden für die vorliegende Veröffentlichung überarbeitet. Meine Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte Georg Büchners im deutschsprachigen Theater hat über die Jahre hinweg, ohne dass dies ursprünglich beabsichtigt gewesen wäre, so etwas wie eine Chronologie entstehen lassen, die in großen Schritten die verschiedenen Büchner-Bilder Revue passieren lässt, um an markanten Wegbiegungen der Werkinterpretation haltzumachen und paradigmatische Spurwechsel in der Wahrnehmung und Wertung der Stücke zu beschreiben. Um Vollständigkeit konnte es dabei nicht gehen. Wollte man diese erreichen, so entstünde für jedes der seit der Zeit um 1900 mit nahezu konstant hoher Frequenz auf unseren Bühnen gespielten Werke Danton’s Tod, Leonce und Lena und Woyzeck eine eigene voluminöse Studie, vergleichbar etwa Wolfram Viehwegs allein auf Büchners Revolutionsdrama konzentrierter Untersuchung von 1964. Die allgemeinste daraus zu gewinnende Erkenntnis ist die Einsicht in einen steten Wandel der Interpretationen. Jede Epoche sieht und hört in den Stücken etwas anderes. Handelt es sich dabei auch oft nur um Akzentverschiebungen, so ist doch diese Offenheit für fluktuierende Wahrnehmungen ein genreunabhängiges Merkmal großer Literatur. Zudem steckt in jeder neuen Aneignung wohl immer auch ein Stück Selbstsuche. Auf 7


diese Weise entstand eine sich ausdehnende, immer wieder neue An- und Einsichten gewährende theatrale Landschaft. Dem modernen Theater wohnt ein Wille zur Aktualisierung inne, in dem der eine ein kreatives Potential zu erkennen vermeint, während der andere ihn als Diktat der Willkür abtut. Im Grunde ist die Sache so alt wie das Theater selbst und eines seiner elementaren Lebensgesetze (zumindest was das europäische Theater anbelangt), und die konservative Sicht, die im Regisseur eine Art Testamentsvollstrecker sieht, weil das Drama gewissermaßen der letzte Wille des Autors sei, kam ja auch erst mit der Moderne zum Zug, denn in früheren Zeiten wird man vergeblich ein Bewusstsein für sogenannte Werktreue suchen. Erst eine pluralistische Kunst hat die Regieinteressen breit aufgefächert und neben der Dekonstruktion auch die Rekonstruktion zugelassen. Die Aktualisierung prägt jedenfalls die Theaterästhetik nicht erst seit 1900, das als Datum einer kulturellen Epochenwende auch für die Entstehung des sogenannten Regietheaters angenommen wird. Es mag wohl sein, dass Regisseure früherer Zeiten eher die Rolle eines Bühnenlogistikers erfüllten, der sich hauptsächlich um die Verkehrsregelung der Auftritte und Abgänge zu kümmern hatte, doch die Bühnenausstattung bis hin zu den Kostümen war und ist immer eine Entscheidung à la mode, und interpretiert hat man die Texte zu allen Zeiten durch das Spiel, auch wenn uns die genaue Kenntnis darüber oft verlorengegangen ist. Als etwa das Theater der Renaissance antike Tragödien und Komödien aufzuführen begann, lieferte der Zeitgeschmack den ästhetischen wie intellektuellen Rahmen.1 Immer schon las und verstand man die Stücke so, wie es die Erwartung vorgab und wofür der Zeitgeschmack die ästhetische Horizontlinie mit durchaus fließenden Grenzmarkierungen zeichnete. Was hat das mit Büchner zu tun? Sehr viel, denn seine Stücke bilden hinsichtlich der Frage der Aktualisierung keine Ausnahme, auch wenn er als dezidiert moderner Dramatiker erst vor gut einhundert Jahren entdeckt worden ist. Seither jedoch ist Büchner das Etikett «aktuell» nicht mehr abhandengekommen; er ist ein Dichter, bei dem 1 Wie radikal frühere Zeiten mit antiken Stücken umgegangen sind, lässt sich ebenso eindrucksvoll wie anschaulich nachlesen bei Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1990.

8


sich Aktualität sozusagen a priori ergibt. Wir haben ihn als unseren «Zeitgenossen» abonniert, und die in den folgenden Beiträgen angesprochenen rezeptionsgeschichtlichen Aspekte bezeugen unsere Ichbezogenheit in dieser Wahrnehmung. Wir befinden uns dabei unentwegt auf der Suche nach Wahrheit (freilich nicht nur in Büchners Stücken) und finden doch nie die eine, alles erklärende Wahrheit. Nicht zuletzt das Theater führt uns die Vergeblichkeit dieser Suche vor Augen. Der zwischen Sein und Schein angesiedelte Konjunktiv der Bühne zeigt an, es könne so oder auch anders sein. Zu betonen ist jedoch, dass die steten Perspektivenwechsel den auf der Bühne verhandelten Dingen keineswegs beliebigen Sinn bescheren, als könnten diese je nach Standpunkt mal wahr und mal falsch erscheinen – wo alles erlaubt ist, wie in der Kunst des «anything goes», lässt der Vorwurf der Beliebigkeit verständlicherweise nicht lange auf sich warten. Beliebig sind die immer wieder neu geknüpften Relationen aber allenfalls im Sinne von unerschöpflich, wofür Theaterinszenierungen Anschauungsmaterial in Fülle bieten. Ob wir eine dramatische Handlung durch eine gesellschaftlich-soziale Brille von oben oder unten betrachten, ist letztlich nicht das Entscheidende, weil die Essenz des Textes unter dem Strich immer zum selben Resultat führt. Dennoch, Bedeutung erlangen die Relationen, in die eine Inszenierung die Personen versetzt. Wie solche Korrespondenzen in Aufführungen angelegt sein können, davon soll hier die Rede sein. Die nicht unberechtigte Frage lautet: Wo finden wir in all unserer ungebändigten, nicht ermüdenden Lust am Entwerfen von immer neuen Relationen am Ende den Dichter, an dessen zweihundertsten Geburtstag das Jahr 2013 erinnert? Das Theater kennt naturgemäß nur Stücke als Textmaterial und interessiert sich eher am Rande für den Autor. Was wiederum nicht ausschließt, dass Dramaturgen gelegentlich der Frage nachgehen, wie viel Büchner eigentlich in seinen Stücken enthalten sei. Aber biographische Lesarten bleiben eher die Ausnahme und sind am Ende nicht weniger spekulativ als andere Interpretationen. Büchners Themen sind uns ganz offensichtlich geblieben. Genau genommen hatte dieses frühverstorbene Dichtergenie ein zentrales Thema: den Tod. Er ist im Titel seines ersten Stückes enthalten; ein Mord und ein Selbstmord geschehen im letzten, Fragment gebliebenen Trauerspiel; und selbst das zwischen beiden Werken entstandene 9


Lustspiel schrammt haarscharf am Thema vorbei, um schließlich mit der nächtlichen Begegnung der Königskinder Leonce und Lena und ihren rabenschwarzen Ahnungen doch noch tiefe Kratzer in dieser Hinsicht zu hinterlassen. Von thematischer Vielfalt also kann nicht die Rede sein, was jedoch der Reichtum an sprachlicher Ausdruckskraft mehr als ausgleicht. Büchner lässt seine Figuren metaphernsatt und dennoch unverblümt reden, in apodiktischen Sätzen, die brutal und unausweichlich klingen, aber umgeben und eingehüllt sind von poetischer Zartheit wie von philosophischer Tiefgründigkeit. Paradox erscheint bei ihm im Grunde alles – verzweifelt und gelöst, gehetzt und unruhig, aber nie verschwitzt; starr, aber immer auch hochexplosiv, berstend. Für mich war und ist es diese Sprache, die den Riss bezeichnet entlang der Paradoxien unserer Welt. Jene messerscharf sezierte Zerrissenheit war von Anfang an ein wesentlicher Aspekt in meiner Faszination für Büchner, zugleich aber auch der bei ihm spürbare Widerstand, den das Leben gegen eine paradoxe Welt leistet. Büchners Geburtsjahr 1813 war ein historisches Wendejahr. Europa ergriff die Chance, sich von der napoleonischen Herrschaft zu befreien; die Völkerschlacht bei Leipzig war ihr Fanal. Aber dass für die Völker damit alles eine glückliche Wendung genommen hätte, lässt sich, mit Blick auf den Wiener Kongress von 1815, der die alten Verhältnisse des Ancien Régime wiederherzustellen versuchte, nun gewiss nicht behaupten. Verpasste Chancen blieben eine Konstante der europäischen Geschichte, und die verordnete Friedhofsruhe grub sich nicht nur mental tief in das Bewusstsein der Menschen ein; auch sozial sollte sich lange nichts zum Besseren wenden. Im Gegenteil, die Armut großer Teile der Bevölkerung kennzeichnet das neunzehnte Jahrhundert. Auch ließe sich das Jahr 1813 durchaus als Geburtsjahr des Nationalismus deuten. Unter den Prominenten des Jahrganges finden wir indes einige, die – auf sehr unterschiedliche Weise – die Defizite der Zeit zum Gegenstand ihres kritischen Denkens gemacht und dabei in Kunst und Philosophie immer auch einen gesellschaftsanalytischen Blick eingebracht haben. Georg Büchner ist hier mit Friedrich Hebbel, Richard Wagner, Giuseppe Verdi und Søren Kierkegaard ohne Zweifel in bester Gesellschaft; eine interessante Nachbarschaft bedeutet das allemal, obschon sie alle sich, mit Ausnahme von Hebbel und Wagner, auf ihren weit auseinanderliegenden Wegen nie begegnet sind. 10


Büchner war in seinem kurzen Leben vieles: Er war Wissenschaftler und wusste Profundes über das Nervensystem der Barben herauszufinden; er war Politiker und als solcher Mitverfasser der Flugschrift Der Hessische Landbote, die der Historiker Thomas Nipperdey «das erste große Manifest einer sozialen Revolution» nannte.2 Die darin verwendeten Bibelzitate verweisen zugleich auf die Entstehung eines neuen Glaubens, dessen säkulare Ziele nicht weniger an Heilsbotschaft enthalten als die traditionellen Religionen: «Neben die Kulturreligion tritt die politische Religion.»3 Büchner war Schriftsteller im hohen Grad, was zuerst der Hessische Landbote und zuletzt die nicht beendete Erzählung Lenz offenbarten. Und schließlich war er Dramatiker, als der er in unserem Bewusstsein besonders wach geblieben ist. Bestechend sind seine Instinktsicherheit und die im literarischen Stil sich ausbildende hochkonzentrierte Individualität. So wie er schrieb kein anderer, und doch stand er nicht voraussetzungslos in der literarischen Landschaft zwischen Romantik und Biedermeier. Zuweilen schimmert in seinen Stücken das große Vorbild Shakespeare durch. Arnold Zweig hat betont, wie förderlich die Ausgangssituation für den Dramatiker Büchner gewesen ist, der in den 1830er Jahren unbelastet von aller verführerischen Übermacht der Tradition habe loslegen können: «So günstig hatte dem Drama noch keine Stunde geschlagen. Alle Mächte der Zeit verwiesen diesen jungen Menschen auf sich selbst.»4 Wer wollte dem widersprechen? Es ist nicht zu übersehen, wie wichtig Büchner das Theater war. Schon die Tatsache, dass er innerhalb von gut zwei Jahren drei Stücke schrieb, signalisiert den unbändigen Drang, sich in theatralen Formen auszusprechen, in Formen freilich, für deren Revuehaftigkeit erst noch der Blick entwickelt werden musste. Auch die expressive Sprache seiner Stücke verlangte den Zeitgenossen ein noch nicht vorhandenes Hörvermögen ab. Als ob die hohe sprachliche Dichte und die offene Dramaturgie der Stücke für ein zukünftiges Publikum kalkuliert gewesen wären. Wer Neues wagt, läuft immer 2 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 373. 3 Ebenda, S. 442. 4 Arnold Zweig, Lessing. Kleist. Büchner. Drei Versuche, Berlin 1925, S. 147.

11


Gefahr, unverstanden zu bleiben und abgelehnt zu werden. Eine neue dramatische Zeichengebung werde, so Julius Bab, in ihrer Zeit oft nicht angenommen, gerade weil sie «nicht den Geist der eben herrschenden Generation» ausdrücke, «sondern den einer neuen».5 Selbst Karl Gutzkow, Büchners Freund und Förderer, der die Qualität des Neuen in dessen Werken sofort erspürte, gingen die darin liegende Vitalität und Individualität gelegentlich über jungdeutsche Konventionen hinaus. Büchners früher Tod hat die Antwort auf die Frage, für welche Generation er denn geschrieben habe, gleich auf das nächste Jahrhundert vertagt. Dieses aber wurde durch seine Sprache dann mit unbestreitbarem Furor elektrisiert. Warum also ausgerechnet das Theater? Wer für die Bühne schreibt, will gehört werden. Gewiss, auch ein Schriftsteller und Dichter will gelesen werden. Doch über diesen banalen Umstand hin­aus ist das Theater ein kommunikativer Ort mit einer zeitlich limitierten Öffentlichkeit. Nirgendwo sonst lässt sich so unmittelbar das Leben zeigen, wenn auch als Spiel und als solches markiert durch die Parenthese des Bühnenportals, aber eben dennoch in physischer und psychischer Unmittelbarkeit. Diese Möglichkeit hat Büchner offensichtlich fasziniert und zum Stückeschreiben animiert. Als er sich wieder einmal mit philosophischen Schriften plagte, berichtete er einem Freund von dieser unersprießlichen Lektüre und äußert dabei den nachgerade programmatischen Satz: «ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden».6 Zwar ist auch das Theater eine Kunstform, aber seine Sprache bietet Platz für jene menschlichen Ausdrücke, die Büchner in der abstrakten Fachsprache der Philosophie vermisste. In den folgenden Beiträgen (mit Ausnahme des Robert-WilsonTextes) spielt die Theaterästhetik eine Nebenrolle. Wichtiger als die wechselnden Optiken in der Inszenierungsgeschichte von Danton’s Tod, Leonce und Lena und Woyzeck waren mir die Berührungspunkte zwischen Bühne und gesellschaftlicher Wirklichkeit beziehungsweise intellektuellen Diskursen – die Verortung der inszenierten 5 Julius Bab, Das Theater im Lichte der Soziologie, Leipzig 1931, S. 54. 6 Georg Büchner, Sämtliche Werke und Schriften. Marburger Ausgabe, Bd. 10.1: Briefwechsel, hrsg. von Burghard Dedner, Tilman Fischer und Gerald Funk, Darmstadt 2012, S. 29.

12


Stücke in den mentalen Befindlichkeiten einer bestimmten Zeit. Schon im Beitrag «Büchners Ankunft im Theater», der den Moment der Entdeckung des Dramatikers durch die Nachwelt behandelt, wird deutlich, wie eng die Interpretationen seiner Werke mit der sie umgebenden Umwelt und Mentalität zusammenhängen. Jedes von Büchners Stücken korrespondierte passgenau mit intellektuellen und ästhetischen Stimmungsfrequenzen der Zeit um 1900. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Leonce und Lena, das als sommerliches Freilufttheater 1895 uraufgeführt wurde und als exemplarischer Fall für ein auf Intimisierung und Lyrisierung eingestelltes Theater gelesen wurde. Im einen Fall führte das zur Form des Kammerspiels, im anderen zu einer theatralen Poesie des Stimmungshaften. Büchners Lustspiel stand dann lange Zeit im Banne dieser Wahrnehmung und galt als komödiantisches Leichtgewicht. Aufgrund eines Lesefehlers erschien das letzte der Büch­ ner’schen Stücke zunächst unter dem Titel Wozzeck und wurde unter diesem 1913 uraufgeführt. Danach etablierte sich die korrekte Schreibweise Woyzeck. Dem Werk wurde ein enormer Theatererfolg zuteil, noch potenziert durch Alban Bergs Oper. Die Wahrnehmung des Stückes, wie sie sich in den damals publizierten Kritiken niederschlug, korrespondierte dabei auffällig eng mit moralischen und ethischen Debatten: Woyzeck als Repräsentant einer ausgebeuteten und unterdrückten Klasse wurde nicht als Mörder wahrgenommen, sondern als Opfer der Verhältnisse, und so zum Ankläger der Gesellschaft umgedeutet. In der instabilen Weimarer Republik, einer von Inflation, Wirtschaftskrise und politischem Extremismus geprägten Zeit, konnte die «Sehnsucht nach dem starken Mann» eine anhaltende und folgenschwere Virulenz entwickeln. Ende der 1920er Jahre tauchten Inszenierungen von Danton’s Tod auf, die eine Tendenz zur Umkehrung der üblichen Sympathieverteilung auf die Hauptfiguren Danton (bis dahin favorisiert) und Robespierre beinhalteten. Plötzlich erschien Robespierre als starker Mann und als jener Ordnungspolitiker, den viele in der Weimarer Zeit ersehnten. Auf der Bühne trat eine Führernatur in Erscheinung, der man die Beendigung des politischen Chaos zutraute. Dass man mit Danton’s Tod aber auch Kritik an einer Führerdiktatur üben konnte, die noch wenige Jahre zuvor als «Politik der 13


Verheißung» Gegenstand kollektiver Sehnsucht gewesen war, das demonstrierte Gustaf Gründgens’ Inszenierung des Stückes aus dem Jahr 1939. Diese wurde und wird einhellig als mutig erinnert, weil sie eine Assoziation des NS-Regimes mit dem Terror des Jahres 1794 provozierte. Als wesentliche inszenatorische Elemente der untergründig entfalteten Regimekritik sind sowohl die spezifische Dramaturgie des Wortes als auch die Aufwertung der Figur des St. Just zum Typus des kaltblütigen Politikers mit einer ausgesprochen zeitgemäßen Physiognomie zu nennen. Zu einem markanten Einschnitt in der Wahrnehmung des Lustspiels Leonce und Lena wurde die in der Nachkriegszeit aufkommende Interpretation des Werkes als «Problemstück», das, pessimistisch grundiert, die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt und die im Stück thematisierte Langeweile zur existentiellen Kategorie aufwertet. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die damalige Parallelisierung des Lustspiels mit den Dramen von Samuel Beckett, in denen zwar das Wort «Langeweile» selbst selten vorkommt, deren Figuren aber nichts anderes tun, als vergeblich auf den Sinn des Lebens zu warten. Mit «Robert Wilson inszeniert Büchner» und «Über Büchners Aktualität» sind wir in unserer Theatergegenwart angelangt. Wilson hat Büchners omnipräsente Theatermetaphorik beim Wort genommen und ihr kongenial mit hochartifizieller Theaterästhetik geantwortet. Der letzte Beitrag will eine Bilanz versuchen: Wie sehen und hören wir heute Büchner? Wobei auch wieder an die Werke selbst zu erinnern ist, von denen aus alle Interpretationen ihren Weg nehmen. Regisseure unserer Tage haben jedenfalls nicht aufgehört, Büchner als Zeitgenossen zu betrachten, um nicht zu sagen, ihn als solchen zu vereinnahmen, wobei zu fragen bleibt, worin diese Zeitgenossenschaft denn heute genau besteht. Mein besonderer Dank gilt der ersten Leserin dieser Textsammlung, nämlich der Lektorin Iris Becher, die durch ihr aufmerksames und kritisches Lesen und durch die daraus resultierenden Nachfragen, Einwände und Anregungen wesentlich dazu beigetragen hat, aus dem Rohmaterial der Vorträge argumentativ schlüssigere Texte entstehen zu lassen. Berlin, im Dezember 2012 14

N.E.


Büchners Ankunft im Theater Eine Rekonstruktion1 Auch wenn ihn das eigene Jahrhundert so gut wie übersehen hatte, war Büchner doch nie völlig in Vergessenheit geraten. Persönlichkeiten mit literarischem Spürsinn hatten es nicht allzu schwer, die Spur aufzunehmen, um einen überschaubaren, gleichwohl bedeutungsvollen literarischen Schatz zu heben. Solche seismologisch begabten Entdeckernaturen sind die eine Seite, doch Entdeckungen brauchen auch ein Publikum, das staunt und applaudiert. Im Fall Büchners verging gut ein halbes Jahrhundert, bis der Kulturbetrieb des noch jungen deutschen Kaiserreichs über den fulminanten Fund berichtete. Noch einmal zwei Jahrzehnte dauerte es, bis Büchners Stücke endlich wahrgenommen wurden und dort angelangten, wo sie hingehörten, nämlich auf der Bühne. Es war in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Dass Büchners Ankunft im Theater zusammenfiel mit dem Ende seines eigenen Jahrhunderts, das zugleich den Untergang der bürgerlichen Epoche dämmern sah, stellt sich als eine verblüffende und keineswegs zufällige Pointe dar. Denn offenkundig tat sich mit der Moderne um 1900, die später gleichsam zum Synonym für die Epochenwende geworden ist, ein ästhetischer Horizont auf, für den Büchners Modernität wie bestellt schien. Die Zeit war reif für Büchner. Was meint das? Stellen wir zunächst fest: Seine Ankunft im Theater war kein plötzliches und vor allem kein episodisches Ereignis. Zwar spielen im Theater Moden von jeher eine wichtige Rolle, aber bei der Büchner-Rezeption wird man nicht von einer Modeerscheinung sprechen wollen, obschon ihre Akzente sehr wohl mit den Moden wechselten. Jede Zeit scheint sich in den alterslos wirkenden Stücken wiederzufinden. Wie immer die Interpretationen ausfielen, sie zielten auf eine Vereinnahmung, wobei nichtkompatible Elemente des Werkes natur1 Dieser Text erschien erstmals im Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012), hrsg. von Burghard Dedner, Matthias Gröbel und Eva-Maria Vering, Berlin/Boston 2012, S. 205–217, und wurde für die vorliegende Ausgabe überarbeitet.

15


gemäß ausgeblendet blieben. Man las, was man lesen wollte und sollte. In dieser Hinsicht bezeichnet das Theater den Extremfall, denn dort waren und sind Texte immer nur frei verfügbares Material. Was wiederum erklärt, dass der fragmentarische Charakter der Werke Büchners letzten Endes kein Hindernis für die Bühnenpräsenz darstellte. Die wichtigste Voraussetzung einer literarischen Erfolgsgeschichte ist zuallererst die Verfügbarkeit der Texte für den potentiellen Leser. Sie müssen, so banal das klingt, gedruckt werden. Einen ersten editorischen Versuch, der nahezu wirkungslos blieb, unternahm 1850 Georg Büchners jüngerer Bruder Ludwig. In Gang kam die Rezeption erst dreißig Jahre später, wenngleich immer noch mühsam, nämlich mit der von Karl Emil Franzos verantworteten Ausgabe der Sämmtlichen Werke. Von dieser wurden bis 1892 gerade einmal 268 Exemplare verkauft. Büchner war zu diesem Zeitpunkt immer noch ein Geheimtipp. Doch unter den Lesern befanden sich offenbar die entscheidenden Multiplikatoren, nämlich Schriftsteller, die naturgemäß mitteilungsfreudig sind – auch im Fall ihrer Lektüreerfahrungen. So kam es, dass Büchner eine Zeitlang eine nicht unbedeutende Rolle in der Korrespondenz von Schriftstellern spielte – beispielsweise bei Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Otto Flake, Hans Henny Jahnn und anderen. Man begann, Vorträge über ihn zu halten, schrieb Artikel, und gelegentlich hinterließ die Büchner-Lektüre auch mehr oder weniger deutliche Spuren im eigenen literarischen Werk. Zweierlei Wahrnehmungen dominierten diese frühe Rezeption: Da wäre einerseits der politische Büchner, der Verfasser des Hessischen Landboten. Er wurde – kaum überraschend – zur Herzensangelegenheit eines sozialdemokratisch orientierten Publikums. Danton’s Tod war dabei das favorisierte Stück. Auf der anderen Seite wurde Büchner als Vertreter einer avancierten literarischen Moderne präsentiert. Hier tendierte man eher zu Leonce und Lena und später auch zu Woyzeck. Galt Büchner im einen Fall als Vorläufer, so im anderen als Zeitgenosse. Dort die Historisierung mit aufscheinenden aktuellen Bezügen, hier die Aktualisierung mit Büchners historisch bruchloser Präsenz in der Kunst um 1900. Bruchlos vollzog sich auch die Aktualisierung von der naturalistisch geprägten Rezeption hin zur expressionistischen. Als symptomatisch für 16


all dies mag man die Ausführungen Max Krells nehmen. Sie münden 1913 in das Resümee, es sei höchste Zeit für Büchners Entdeckung gewesen: «Denn unfraglich schöpft unsere literarische Gegenwart aus denselben Quellen wie Georg Büchner, was etwa ebenso viel heißt wie: Büchner griff seiner Zeit voraus, schuf eine Kunst für die, aus inneren Gründen, Verständnis und Wirkung erst jetzt möglich sind.»2 Büchners hundertster Geburtstag im Jahre 1913 ließ die Zahl der Artikel und Aufsätze beachtlich anschwellen. Es ist dies auch die Zeit, in der seine Stücke in rascher Folge auf den Bühnen erscheinen. Kaum einer der damals bedeutenden Regisseure ließ sich die Neuentdeckung entgehen. Den Gedenkrednern von 1913 gelang, so Burghard Dedner, «was zehn Jahre zuvor noch kaum vorstellbar gewesen wäre: Büchner war zu einem bürgerlich deutschen Gegenstand avanciert.»3 Mit folgender Einschränkung freilich: Je konservativer der Gedenkredner, desto stärker wogen Einwände und Bedenken. Erinnert sei nur an den Kulturhistoriker Arthur ­Moeller van den Bruck, der Büchner bereits 1904 ein Kapitel in seinem Buch Verirrte Deutsche widmete. Doch solches blieb die Ausnahme; der Enthusiasmus überwog. Indes, Büchners Ankunft im Theater vollzog sich keineswegs so plötzlich, wie dies die Euphorie des Jahres 1913 suggeriert. Schließlich lagen die Uraufführungen zweier Büchner-Stücke damals schon viele Jahre zurück. Insofern lässt sich von Etappen sprechen, die mit den bereits erwähnten frühen Büchner-Lesern und Büchner-Multiplikatoren eng verknüpft sind. In ihren Motiven wird die spezifische Attraktivität des jeweiligen Büchner’schen Werks ablesbar. Einer dieser frühen Büchner-Leser war Max Halbe, der als naturalistischer Dramatiker begann und eine Zeitlang Beachtung fand, aber bereits zu Lebzeiten eine nur noch marginale literaturgeschichtliche Existenz führte. Wenn heute sein Name fällt, dann vor allem im Zusammenhang mit der Uraufführung von Leonce und 2 Max Krell, Georg Büchner. Zum Hundertjahrtag seiner Geburt, 17. Oktober 1813, in: Xenien, 6. Jg. (1913), Oktoberheft, S. 217. 3 Burghard Dedner, Büchner-Bilder im Jahrzehnt zwischen Wagner-Gedenkjahr und Inflation, in: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), hrsg. von Herbert Gersch, Thomas Michael Meyer und Günter Oesterle, Frankfurt a.M. 1984, S. 281.

17


Lena. Unumstritten ist das Datum dieser ersten Aufführung – nicht jedoch ihre theatergeschichtliche Bedeutung. Was ereignete sich an jenem 31. Mai 1895 im frühsommerlichen Schwabing? Wie haben wir uns die Veranstaltung im von Max Halbe gegründeten «Intimen Theater für dramatische Experimente» vorzustellen? Vielleicht so: Wir befinden uns in einem Park mit großen alten Alleebäumen. Inmitten des Grüns ein kleiner See. In die Idylle eingepflanzt eine Bretterbühne. Sie steht vor dem See, der samt dem gegenüberliegenden Ufer Kulisse spielt, wobei der zu erwartende Vollmond die Beleuchtung übernimmt. Ausgedacht hat sich das ein junger Mann, der das Theater neu erfinden will. Das arrivierte Theater «aus nichts als Routine und Vorurteilen» muss weg: «Wir brauchen neue Formen.» Die nervös-revolutionäre Unerbittlichkeit des jungen Mannes erhält eine gewisse Pikanterie dadurch, dass seine Mutter, eine große Schauspielerin, gleichsam das verachtete Theater repräsentiert. Welches Theater er will, weiß er selbst nicht so genau. Lebendige Menschen soll es zeigen. «Man muß das Leben nicht so darstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es sein müßte, sondern so, wie es uns in unseren Träumen erscheint.» Träumen wir also, ruft die Theaterrevolution. Was leichter gesagt ist als getan. Denn wer im Traumtheater träumt, hat den Auftritt womöglich schon verpasst. So könnte es gewesen sein. Aber den Park und das improvisierte Freilufttheater finden wir bei Tschechow und nicht am Münchner Stadtrand. Der junge Theaterrevolutionär heißt Trepljow und nicht Halbe. Die Szene stammt aus der Komödie Die Möwe von 1896.4 Die zeitliche Nähe zum Münchner Uraufführungsereignis frappiert. Gewiss, der Schwabinger Garten sah anders aus, besaß keinen See. Auch war vor Büchners Komödie ein größeres Publikum versammelt, nämlich immerhin vierzig bis fünfzig Personen. Und es gab keine Bretterbühne; man spielte in der vorhandenen Gartenkulisse auf einer Wiese, eingerahmt vom Halb­ rund einer Hecke. Darüber mag wohl ebenso ein theaterrevolutionärer Geist geschwebt haben. Doch während Trepljows Stück kläglich scheitert, fand Leonce und Lena allgemeines Wohlwollen. 4 Anton Tschechow, Die Möwe. Komödie in vier Akten, Übersetzung und Nachwort von Kay Borowsky, Stuttgart 1975, Zitate oben: S. 9 und 12.

18


Natürlich wusste Tschechow nichts von jenem Münchner Ereignis. Aber die Theaterrevolution lag sozusagen in der Luft und wuchs sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Ereignis von europäischem Rang aus. Tschechow hatte mit dem Natur- und Traumtheater seines Stückes die Diskussion in dramatisierter Form wiedergegeben. Nicht zufällig wurde eine Möwe zum Emblem einer Theaterbewegung, die auf szenische Vereinfachung und Natürlichkeit im Spiel setzte. Nebenbei: Der spätere Theaterrevolutionär Wsewolod Meyerhold spielte im Moskauer Künstlertheater den Trepljow. Konstantin Stanislawski als Promotor dieses Künstlertheaters wollte ein «Theater der Einfühlung» – «Einfühlung» avancierte damals generell zum neuen Zauberwort. Als Max Halbe zusammen mit einer Handvoll Münchner Bohémiens 1895 das Intime Theater gründete, beabsichtigte er Ähnliches. Seine Idee war es, «Theatervorstellungen eines gewissen programmatischen Charakters zu veranstalten».5 Das Intime Theater verstand sich als Kritik an der Materialisierung der Theaterkunst, wie sie zuletzt der historische Realismus des Meininger Theaters bis zum Überdruss praktiziert hatte. Halbe sah die Phantasie im Kunstgenuss verdrängt durch die Behaglichkeit und wollte sie mit seiner Theateridee zurückgewinnen. Sein Intimes Theater war ein Künstlertheater im eigentlichen Wortsinn – eine Spezialbühne von Künstlern für Künstler, die Exklusivität gegen Institutionalisierung setzte. Halbe war der Auffassung, dass eine frei fluktuierende Kunst keine Kulissen und Vorhänge benötige. Der Naturalismus solle «vom Aeußeren der Scene lieber in das Innere der schauspielerischen Darstellung» verlegt werden».6 «Ursprüngliche Natur und Freiheit der Phantasie sei unsere Losung!»7 Und weiter: «Das seelische Bild sei über das scenische Bild gestellt!»8 Das hätte auch Trepljow verkünden können, der bei Tschechow ebenso von einer Seelenkunst träumt. Und klingt das nicht auch nach Büchner? 5 Max Halbe, Jahrhundertwende. Erinnerungen an eine Epoche, München/Wien 1976, S. 146. 6 Max Halbe, Intimes Theater, in: Pan, 1. Jg. (1895/96), H. 2, S. 108. Reprint: Nendeln/Liechtenstein 1978. 7 Ebenda, S. 108. 8 Ebenda, S. 108.

19


Einstudiert hatte Leonce und Lena Ernst von Wolzogen, ein Mann des Kabaretts; Halbe selbst trat als Leonce auf. Die übrige illustre Besetzung soll uns nicht weiter interessieren. Und auch von den vielen Anekdoten, die das Ereignis umranken, sei nur an diese erinnert: Man hatte nicht an die hereinbrechende Dunkelheit gedacht, weshalb Eduard Fuchs losradelte, um in aller Eile Kerzen und Lampions aufzutreiben. Das Ende sei fröhlich gewesen. Auf dem Nachhauseweg brach ein Gewitter los, das die Gesellschaft in einem leerstehenden Musikpavillon überstand. In die dort selbst produzierte Tanzmusik seien die wilden Donnerschläge des himmlischen Orchesters hineingekracht. «Es war eine dionysische Nacht», resümierte Halbe.9 War es nicht Leonce, der die Frage stellte: «Wollen wir ein Theater bauen?» Und gab er Lena nicht gleich die Antwort dazu: Nein, nur Natur und nur Sommer – «und das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer»10? Das Intime Theater als theatralisches Gartenfest mit dionysischem oder vielleicht doch eher sanguinischem Anklang hatte Leonce und Lena immerhin zwischen Hecken stattfinden lassen, und Sommer herrschte auch. Nur an das Licht hatte niemand gedacht. Bedeutsamer freilich war der Umstand, dass das Stück selbst zum Leuchten gebracht oder, genauer gesagt, der Stimmungszauber entzündet wurde. Denn davon ist in den Berichten allenthalben zu lesen. Büchners Lustspiel wurde in der Folgezeit tatsächlich lange als eine poetisch-stimmungsvolle Veranstaltung wahrgenommen. Man sah es als luftiges Gebilde, empfand es als ein wenig skurril, ein wenig überirdisch, ein wenig schwermütig. Für Alfred Polgar klang das Stück wie eine Mischung aus «Harfenspiel und Rüpelklängen».11 Die Idee des Intimen Theaters blieb nicht folgenlos. Aus ihr entstand die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem durch Max Reinhardt propagierte und virtuos verwirklichte Theaterform  9 Max Halbe, Jahrhundertwende, a.a.O., S. 152. 10 Georg Büchner, Sämtliche Werke und Schriften. Marburger Ausgabe, Bd. 6: Leonce und Lena, hrsg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise und Eva-Maria Vering, Darmstadt 2003, S. 124. 11 Zit. nach Axel Bornkessel, Georg Büchners «Leonce und Lena» auf der deutschsprachigen Bühne. Studien zur Rezeption des Lustspiels durch das Theater, Diss. phil. Köln 1970.

20


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.