Martina Wohlthat arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für alte Drucke und Rara in der Bibliothek der Musik-Akademie Basel. Als Musikjournalistin und freie Mitarbeiterin gestaltete sie Beiträge für die Basler Zeitung, das S chweizer Radio und die Neue Zürcher Zeitung. Sie studierte Musikwissenschaft an der Universität Hamburg und bildete sich im Nachdiplom-Studiengang an der Universität Basel zur Papierkuratorin/University Professional in Rare Book Librarian ship weiter.
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Notenlese
Martina Wohlthat (Hrsg.)
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Was uns alte Musikdrucke erzählen … Auf der Grundlage seltener Ausgaben aus der Vera Oeri-Bibliothek der Musik-Akademie Basel greifen die hier versammelten Essays prägnante Themen zum Konzertbetrieb und zur musikalischen Aufführungspraxis der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts auf. Denn an der damaligen Musikschule und dem Konservatorium wirkten mit Hans Huber, Hermann Suter und Felix Weingartner Persönlichkeiten, die auch das Basler Konzertleben dieser Zeit prägten, die gefeierte Virtuosen wie F erruccio Busoni und Wanda Landowska zu Gastspielen in die Stadt holten und deren Notenbände auf verschiedenen Wegen in die Bibliothek gelangten. Durch private Initiative und ein begeisterungsfähiges Gemeinwesen nahm das Musikleben in Basel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Aufschwung. Hervorragende Musiker und innovative Programmgestalter standen an der Spitze des Konzertwesens. Den musikalischen Vorlieben und künstlerischen Interessen solcher Musiker anhand der Repertoireauswahl, der b enutzten Notenausgaben und der technischen Einzeichnungen nachzugehen, liefert interessante Indizien zum Musikleben und zur Aufführungspraxis im g ründerzeitlichen Basel. Denn für die ‘wiederentdeckten’ Werke Bachs und Händels mussten erst einmal Wege der Interpretation gefunden werden. Und die K ompositionen von Schumann, Berlioz, Brahms und Mahler stellten damals gleichsam noch ‘Neue Musik’ dar. Zur Einordnung solcher Indizien bedarf es der praktischen wie der geschichtlichen Sicht. Das ist denn auch das Besondere an diesem Forschungsprojekt der Hochschule für Musik Basel: dass es Interpretinnen und Interpreten aus der musikalischen Praxis mit Fachleuten aus dem Bereich der Musikwissenschaft vereint.
Notenlese Musikalische Aufführungspraxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Basel
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Notenlese Musikalische Aufführungspraxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Basel
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Eine Publikation der Abteilung Forschung & Entwicklung der Hochschule für Musik Basel www.musikforschungbasel.ch
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel An den Projektkosten haben sich dankenswerterweise folgende Institutionen beteiligt: Freiwillige Akademische Gesellschaft, Basel Maja Sacher-Stiftung, Basel Schweizerische Musikforschende Gesellschaft, Ortsgruppe Basel
Abbildung auf dem Umschlag: Hans Huber, «Nacht» (Der Westwind streichelt die Locken schauernder Bäume), Vertonung eines Gedichts von Heinrich Leuthold für Männerchor a cappella. Reproduktion der Handschrift des Komponisten in: Strassburger Sängerhaus. Sammlung bisher ungedruckter musikalischer und poe tischer Blätter in autographischer Darstellung, dem Strassburger Männergesangverein gewidmet, Strassburg 1886. Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Erika Regös, Schwabe Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2935-1 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
Hans Huber, Präludien und Fugen in allen Tonarten für Pianoforte zu vier Händen op. 100, Breslau ca. 1897, mit handschriftlichem Schenkungsvermerk. Bibliothek der Musik-Akademie Basel
Inhalt I. Einleitung Martina Wohlthat Bagges Bibliothek – die Anfänge der Musikaliensammlung der Musik-Akademie Basel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Musikpraxis und Ausbildungswege um 1900 Tobias Schabenberger «In den Fingerspitzen liegt die Seele des Pianisten» – Hans Huber als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Matthias Schmidt Öffentlichkeit im Privaten. Hans Huber und zwei Fundstücke der Basler Hausmusik-Tradition um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Anselm Hartinger Leipzig – Zofingen – Basel und zurück: Musikalische Geschmacksbildung und konkurrierende Ausbildungskonzepte im Umfeld der Musikerfamilien Petzold und Huber 1828 bis 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Chris Walton Um den Saum von des Meisters Gewand zu berühren: Der Meisterkurs von Ferruccio Busoni 1910 am Konservatorium Basel .. . . . . . . . . 75 Martin Kirnbauer «Aufs eindrücklichste für das Cembalo werben» – Wanda Landowska in Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Die Zeichensprache der Interpreten Martina Wohlthat «Tonschöpfungen, in die wir wie in eine fremde Welt traten» Die Basler Bach- und Händel-Renaissance im 19. Jahrhundert .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Dominik Sackmann «Als Ausfüll-Instrument» – Quellen zur Basler Generalbasspraxis um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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Jean-Jacques Dünki Spuren der Aneignung. Frühe Aufführungen in Basel von Robert Schumanns Scenen aus Göthe’s Faust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Georges Starobinski Vom pädagogischen Nutzen des schlechten Geschmacks: Schumanns Kinderscenen in einer illustrierten Ausgabe von 1886 .. . . . . . . . . . . . . . 153 Martina Wohlthat «Die Basler müssen ja aber schon in Verlegenheit sein …» – Anmerkungen zur Uraufführung von Brahms’ Gesang der Parzen, Basel 1882 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Lena-Lisa Wüstendörfer Im Kampf um Werktreue. Die Zauberflöte und Fidelio aus dem Nachlass von Felix Weingartner .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Alfred Zimmerlin Ausblick ins 20. Jahrhundert: Die Meisterkurse für Komposition von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Henri Pousseur in Basel .. . . . . . 191 Anhang Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Personenregister .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
I. Einleitung
Bagges Bibliothek – die Anfänge der Musikaliensammlung der Musik-Akademie Basel Martina Wohlthat Im Januar 2008 stand ich zum ersten Mal auf einem hölzernen Schemel im Kellergeschoss der Bibliothek und suchte nach wertvollen Notendrucken. Während die schief stehenden Stapel neben mir zur Seite zu rutschen drohten, zog ich einen Band nach dem anderen hervor und versuchte mir ein Bild vom Wachstum der Bibliothek zu machen. Die Aufstellung, hatte man mir gesagt, folge dem Prinzip des «Numerus currens» – die Noten ständen in jener zufälligen Reihenfolge in den Regalen, wie sie durch Kauf oder Schenkung eingegangen seien. Während ich mich im oberen Regal durch die grauen Einheitseinbände mit Klaviermusik hindurcharbeitete, wurde deutlich, dass die Aufstellung der ersten Bände keineswegs zufällig war, sondern der Ordnung des Komponistenalphabets folgte. War dieses Namensalphabet einmal durchbuchstabiert, verlor es sich nach genau 1773 Bänden in den Weiten des Numerus-currens-Prinzips. Vor mir standen die Überreste der alten Konservatoriums-Bibliothek. Bei den Noten mit Namenseinträgen früherer Besitzer gab es auffällig viele Bände mit Musik von Bach – wenig Musik von den Söhnen, viel vom Vater. Als mir die Namenszüge und Handschriften mit der Zeit bekannter wurden, wurde dies in meinem Kopf zu einer vertrauten Denkbewegung, zu einem freudigen Wiedererkennen. Sobald ein Notenband mit Namenseintrag und alten Fingersätzen aus der Anonymität der Regale auftauchte, dachte ich: Aha, Hans Huber spielt Bach. Die Noten fingen an zu sprechen. Der Pianist und Komponist Hans Huber, um 1900 die prägende Gestalt im Basler Musikleben, spielt Bachs Toccaten und Partiten, er dirigiert dessen Magnificat und die h-Moll-Messe und veröffentlicht ein Notenheft für Klavierschüler mit dem Titel Der erste Bach. In jungen Jahren spielt Huber Bachs Inventionen aus einem mit dem Besitzeintrag «Joh. Huber in Schönenwerth» versehenen Band der von Friedrich Chrysander im Verlag Holle in Wolfenbüttel herausgegeben wurde. Dabei benutzt Huber individuelle Fingersätze, die ihm ein flüssiges Spiel und r asche Passagen ermöglichen. Hubers Schwiegervater, Karl Eugen Petzold, selbst ein Leipziger Thomaner, spielt Bachs Orgel-Passacaglia in c-Moll in der Bearbeitung für Klavier zu vier Händen von Alexander Wilhelm Gottschalg, dem bevorzugten Organisten und Freund von Franz Liszt. Hubers Vorgänger im Amt des Direktors der Musikschule, Selmar Bagge, spielt Sätze aus Bachs Englischen Suiten und Kunst der Fuge in der Ausgabe von Carl Czerny. Bagge äussert zwar Vorbehalte gegenüber
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Czerny als dem «vielschreibenden Salonkomponisten, merkwürdigerweise quasiSchüler Beethovens und praktischen Interpreten Bachs», zugleich ist er überzeugt, dass «Bach die beste Grundlage allen Klavierspiels und somit auch des Klavierunterrichts ist und bleibt».1 1865 veröffentlicht Bagge eine eigene Bearbeitung der Matthäus-Passion für Pianoforte allein als Fassung für den Hausgebrauch. Jahrelang, so steht es im Vorwort, hatte er sich durch das Spiel der Partitur Genuss und eine Ahnung von der Wirkung dieses Werkes verschafft, bevor sich ihm die Möglichkeit bot, das Werk im Ganzen zu hören. Sicher nicht zufällig erscheint der Band in zeitlicher Nähe zu jener vielbeachteten Aufführung, bei der der Basler Gesangverein die Matthäus-Passion zum ersten Mal im Münster komplett zu Gehör bringt. Durch seine Bearbeitung möchte Bagge sein Erlebnis mit Bach anderen mitteilen, es mit ihnen teilen. Wie haben sie alle diese Musik gespielt, unter welchen künstlerischen Prämissen haben sie sie sich angeeignet? Davon erzählt unter anderem dieses Buch. Wenn Dinge weitergegeben werden, sind damit auch Geschichten verbunden. Ich wollte herausfinden, von wem die Notenbände einst benutzt wurden und wie sie in die Bibliothek gelangten. Die Sammlungsgeschichte, so zeigte sich, ging Hand in Hand mit der Geschichte der Musikschule, als deren Notenfundus sie zu dienen hatte. Als erster Direktor der Schule baute Selmar Bagge mit Fachwissen eine eigene Bibliothek auf, die noch ganz im Geist der Klassik und der musikalischen Romantik wurzelte. Seine gedruckten und handschriftlichen Kompositionen vermachte Bagge in seinem Testament der Universität Basel, was «aber zum praktischen Gebrauch dient», erhielt die Musikschule. Im Nachruf von Gotthold Eglinger im Jahresbericht der Musikschule von 1896/97 heisst es: «Bagge hat seine sämtlichen gedruckten und geschriebenen eigenen größeren Werke, Partitur und Stimmen testamentarisch der Universität, seine wertvolle Bücherbibliothek und sehr umfangreiche Sammlung von Musikalien der Musikschule hinterlassen».2 Angesichts des heutigen Platzmangels in Archiven und Bibliotheken zeugt ein Satz in Bagges Testament von weiser Voraussicht: «Ich bitte die genannten Institute höflich, der Erhaltung dieser Gegenstände einen angemessenen Raum zur Aufbewahrung widmen zu wollen.»3 Selmar Bagge (1823–1896) war, wie man in dem ihm gewidmeten Artikel in der Neuen Deutschen Biographie lesen kann, der Sohn des Rektors der Coburger Lateinschule Johann Ehregott Bagge. Zu Beginn seiner Karriere wirkte er als Violon-
1 Selmar Bagge, Wie soll Seb. Bach’sche Musik, speziell Klaviermusik, gespielt werden? In: Allgemeine Musikschule Basel, Jahresbericht über den 28. Kurs 1894/95, Basel 1895, S. 16–25. 2 Allgemeine Musikschule Basel, Jahresbericht über den 30. Kurs 1896/97, Basel 1897, S. 25. 3 Auszug aus den letztwilligen Verfügungen von Prof. Selmar Bagge-Wendelstadt sel., publiziert den 18ten August 1896, Archiv der Musik-Akademie Basel.
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cellist am Theater in Lemberg, danach studierte er Theorie und Komposition bei Simon Sechter in Wien und wurde neben Sechter als zweiter Theorielehrer am Wiener Konservatorium angestellt. 1854 heiratete er die um zwei Jahre jüngere Justine Wendelstadt, eine musikalisch gebildete Frankfurterin, die er bei Verwandten kennengelernt hatte. Bagge schrieb über das Musikleben seiner Zeit, als Redakteur der 1859 begründeten Deutschen Musikzeitung trat er in Wien für Schumann und Brahms ein. 1862 zog er in das damals bedeutendste Musikzentrum in Deutschland, nach Leipzig, und übernahm dort ab 1863 die Redaktion der vom Verlag Breitkopf & Härtel wiederbelebten Allgemeinen musikalischen Zeitung, die er 1868 wieder aufgab, als er zum Direktor der Basler Musikschule berufen wurde. Neben Selmar Bagge hatten auch seine Nachfolger im Direktorenamt, Hans Huber und Hermann Suter, durch ihre Studienzeit enge Beziehungen nach Leipzig geknüpft. Man darf also davon ausgehen, dass das Leipziger Konservatorium und seine musikpädagogischen Leitlinien auch in Basel Vorbildfunktion hatten. Die Musikschule war von der Basler Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige 1867 ins Leben gerufen worden, nun suchte man für die Leitung der Anstalt einen erfahrenen Fachmann. Einige Bewerber, darunter Hans von Bülow, hattenwegen anderweitiger Karriereschritte von der Bewerbung Abstand genommen. Für dieses Amt vereinte Selmar Bagge umfassendes Wissen auf theoretischem und musikgeschichtlichem Gebiet mit pädagogischer Befähigung und musikalischem Können als Violoncellist, Klavierspieler, Komponist und Bearbeiter. In Basel versah Bagge ausserdem von 1876 bis 1896 das musikwissenschaftliche Lektorat an der Universität, die ihn 1880 zum Dr. phil. h.c. promovierte. Gotthold Eglinger bezeichnet Bagge in seinem Nachruf im Jahresbericht der Musikschule 1896/97 als einen Mann von festem, lauterem Charakter. Als konservativ gesonnener Musiker stand Bagge dem Fortschrittsglauben seiner Zeit skeptisch gegenüber. Er verfasste ein Lehrbuch der Tonkunst oder allgemeine Musiklehre, das 1873 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschien und dem Geiger Joseph Joachim gewidmet ist. Das Ehepaar Bagge blieb kinderlos und wohnte im früheren Domizil der Musikschule am Nadelberg. Ein menschlich anrührendes Zeugnis von der Liebe des Ehepaares zu seiner Bibliothek gibt Justine Bagge, als sie nach dem Tod ihres Ehemannes an den Präsidenten der Kommission zur Musikschule, Gotthold Eglinger, schreibt: Ich muss bei Ihnen um Entschuldigung bitten, dass ich die Musikalien noch nicht in das Direktionszimmer räumte […] Ich fürchte die einzeln[en] Parthien der Musikalien kommen in Unordnung; diese Bibliothek war unsere Freude und galt als unsere Kinder – daran hängt das Herz und die Fürsorge!4
4 Brief von Justine Bagge an Gotthold Eglinger vom 25. Januar 1897, Archiv der Musik-Akademie Basel.
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Der für Bagges Bibliothek vorgesehene Schrank ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig, und Justine Bagge, die wie ihr Mann an der Musikschule unterrichtet hatte, fällt es schwer, sich von den Noten zu trennen. In seinem Testament hatte Bagge verfügt: «Meine Bibliothek (Musikalien und Bücher) vermache ich der Musikschule in Basel; jedoch darf meine Frau davon zurückbehalten, was ihr ursprünglich gehörte und was sie zu eigenem Gebrauch bis zu ihrem Ableben zu behalten wünscht.»5 Als Justine Bagge nach dem Tod ihres Mannes die Direktionswohnung am Nadelberg verlässt und in die Klybeckstrasse zieht, kann sie mit Billigung des Kommissionspräsidenten Gotthold Eglinger eine Anzahl von Notenbänden zum Privatgebrauch mitnehmen. 1906, als der erste gedruckte Katalog der Bibliothek der Musikschule erschienen ist, bemerkt die nun 81-jährige Justine Bagge, dass die bei ihr gebliebenen Bände in diesem Katalog fehlen und schreibt an den Bibliothekar Rudolf Alioth: Denn ich habe eine ziemliche Anzahl von Musikbänden zu meinem Privatgebrauch zurückbehalten, als ich die Bibliothek beim Umzug vom Nadelberg der Musikschule einhändigte […] Ich habe lebenslang Musik getrieben, auch damals (1897) es nicht unterlassen, Klavier zu spielen trotz meiner 72 Jahre, die jetzt auf 81½ Jahre angewachsen sind. Jetzt spiele ich nur Sachen von Bach, Beethoven und von den Compositionen meines Mannes – zu meiner Zerstreuung.6
Der Bibliothekar Rudolf Alioth ist damit einverstanden, dass die betreffenden Musikalien «vorderhand zu Ihrer Verfügung bei Ihnen bleiben». Bei einem Neudruck des Katalogs sollen die noch ausstehenden Noten jedoch berücksichtigt werden. «Das Cello des sel. Herrn Directors, das Sie mir seiner Zeit abgetreten haben, macht mir viel Freude und wird ordentlich fleißig gespielt», schreibt der Bibliothekar an die alte Dame.7 Nach Justine Bagges Tod im Jahr 1908 gehen weitere vierundvierzig Musikalien in den Besitz der Musikschule über. Wie haben wir uns Bagges Bibliothek vorzustellen? Die heutige Rara-Sammlung der Bibliothek der Musik-Akademie verdankt ihm einige Kostbarkeiten. Offenbar beabsichtigte Bagge nichts weniger, als mit seiner privaten Sammlung den Kanon der klassischen und romantischen Musikliteratur abzubilden. Es ist nicht bekannt, wie viele Musikalien und Bücher er besass, es dürfte jedoch eine stolze Anzahl gewesen sein. Die Notenbände, die er auf der Titelseite meist unten rechts mit seinem Namenszug versah, enthalten Klavier- und Kammermusik von 5 Siehe Anm. 3. 6 Brief von Justine Bagge an Rudolf Alioth vom 15. November 1906, Archiv der Musik-Akademie Basel. 7 Brief von Rudolf Alioth an Justine Bagge vom 19. November 1906, Archiv der Musik-Akademie Basel.
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Bach, Beethoven, Schubert und Schumann, aber auch Frühausgaben der Opern von Mozart und Gluck, Studienwerke zur Vollendung bereits ausgebildeter Pianisten, eigene Kompositionen und Bearbeitungen klassischer Sinfonien für vierhändiges Klavierspiel, von denen Bagge einige selbst verfertigt hat. Den Kernbestand seiner Bibliothek bilden wertvolle alte Lexika und musiktheoretische Werke, Kompositionslehren sowie Bücher zu musikgeschichtlichen Themen, die ihren früheren Besitzer als theoretisch beschlagenen, vielseitig gebildeten Leser zeigen. Ihm wichtige Stellen sind mit Bleistift angestrichen oder mit Fragezeichen versehen. Als Lektürespur fand ich in Bagges Exemplar von Otto Gumprechts Musikalischen Lebens- und Charakterbildern ein Ausrufezeichen neben der Formulierung «dort boten Gelehrte den Champagnerschaum der Wissenschaft dar» – Bagge, dem Anhänger verlässlicher Wissensquellen, dürfte dieser Champagnerschaum eher suspekt gewesen sein. Nach Bagges Tod übernimmt 1896 der Schweizer Pianist und Komponist Hans Huber (1852–1921) die Leitung der Musikschule. Huber, in Eppenberg bei Schönenwerd im Kanton Solothurn geboren, hatte am Leipziger Konservatorium Klavier und Komposition bei Carl Reinecke studiert und wirkte ab Herbst 1889 als Lehrer für besonders begabte Klavierschüler in den Fortbildungsklassen der Basler Musikschule, was sich im Bestand der Bibliothek noch heute an einem gewichtigen Schwerpunkt von anspruchsvollen Klaviernoten ablesen lässt. 1880 heiratete er die Sängerin Ida Petzold, die wie er selbst in Leipzig studiert hatte und häufig in Basler Konzerten auftrat. Als Künstler, Lehrer und Direktor der Anstalt muss Huber eine charismatische, bei seinen Schülern und Kollegen äusserst beliebte Persönlichkeit gewesen sein. In seiner Direktionszeit wurde der grosszügige Neubau an der Leonhardsstrasse realisiert und ein Konservatorium als erstes Institut seiner Art in der deutschsprachigen Schweiz gegründet. Der Umzug aus den beengten Räumen am Nadelberg ins neue Musikschulgebäude an der Leonhardsstrasse im Jahr 1903 hatte auch für die Bibliothek Veränderungen zur Folge. 1906 wurde die Bibliothek, die «nach und nach, besonders durch das Vermächtnis Bagges, einen beträchtlichen Umfang angenommen hatte, durch den Administrator Oberst Rudolf Alioth neu geordnet und katalogisiert und erfuhr im Anschluss daran manche Erweiterung».8 Im Bericht der Kommission von Musikschule und Konservatorium an die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige über das Schuljahr 1905/06 heisst es dazu:
8 Wilhelm Merian, Gedenkschrift zum 50jährigen Bestehen der Allgemeinen Musikschule in Basel, gegründet 1867, zu Musikschule und Konservatorium erweitert 1905, Basel 1917, S. 98.
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Eine grosse, aber notwendige und wertvolle Arbeit, der sich unser Mitglied, Herr R. Alioth, ganz besonders eifrig widmete, war die Neuordnung unserer musikalischen Bibliothek, deren Grundstock von früher her die bedeutenden Schenkungen des ersten Anstaltsdirektors, Herrn S. Bagge sel., bilden; wir benützten die Neuordnung, um die Bibliothek in wesentlichem Mass zu erweitern, und es machen die bezüglichen Erwerbungskosten keinen unbedeutenden Posten der diesjährigen Rechnung aus; wir hatten uns aber auch der Unterstützung von Freunden durch namhafte Schenkungen älterer und, was besonders erwünscht war, moderner Musikwerke zu erfreuen. Es wurde sodann der Katalog gedruckt und ein Bibliotheksreglement erlassen, das die Verwaltung und Benützung ordnet. Die Bibliothek enthält nahezu 2000 Musikhefte und 400 Bücher.9
Zur Ergänzung des Notenbestands, der nach der Erweiterung der Basler Musikschule zum Konservatorium nun auch den Anforderungen einer Konserva toriums-Bibliothek zu genügen hatte, werden bei Breitkopf & Härtel, Peters, Simrock und bei der Universal Edition mit der Bitte um Rabatt gegenüber den geltenden Katalogpreisen Noten bestellt. Werke des klassischen und romantischen Repertoires von Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann und Brahms sind darunter, aber auch damals «moderne» Musikwerke von Max Reger und Richard Strauss. In der Jahresrechnung sind als Kosten für Musikalien und Bibliothek 970 Franken und 40 Rappen ausgewiesen.10 Für das folgende Schuljahr 1906/07 betragen die Ausgaben für Musikalien, Bücher, Zeitschriften und Buchbinderei 401 Franken, allerdings überwiegt die Zahl der Geschenke gegenüber den Anschaffungen. Die Druckkosten für den Katalog belaufen sich auf 452 Franken, während für einen Bibliotheksschrank 341 Franken ausgegeben werden.11 Der Katalog erscheint Anfang 1906 in fünfhundert Exemplaren, bereits im ersten Jahr verdreifacht sich die Zahl der Ausleihen, da die Materialien nun besser erschlossen sind. Das Reglement für die Bibliothek ist auf den 21. Februar 1906 datiert und enthält einige bemerkenswerte Punkte. Dort heisst es: «Für die Verwaltung der Anstaltsbibliothek besteht ein Bibliothekar, der von der Kommission ernannt wird; er hat die unmittelbare Leitung und besitzt die Schlüssel.» Doppel der Schlüssel befinden sich in der Hand des Direktors und des administrativen Delegierten. Der Kreis der Benutzer erscheint aus heutiger Sicht recht eingeschränkt, wenn das Reglement festhält: «Die Benützung der Bibliothek steht den Kommissionsmitgliedern, den Lehrern und den Fortbildungsschülern zu. Für die 9 Bericht der Kommission von Musikschule und Konservatorium an die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige über das Schuljahr 1905/06 vom 3. Oktober 1906, Archiv der MusikAkademie Basel. 10 Ebd. 11 Vgl. die ausführlichen Angaben zur Bibliothek und ihren Beständen in: Musikschule und Konservatorium Basel, Jahresbericht über den 46. Kurs 1912/13, Basel 1913, S. 11–14.
D i e A n fä n g e d e r M u s i k a l i e n s a m m lu n g d e r M u s i k- A k a d e m i e B a s e l
übrigen Schüler können Bezüge auf Namen und Verantwortung ihrer Lehrer gemacht werden.» Daraus geht hervor, dass die Bibliothek in erster Linie den Lehrern, Kommissionsmitgliedern und fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stand, die anderen Schüler dagegen nur über ihre Lehrer ausleihen konnten. Auch die Öffnungszeiten erscheinen heute ziemlich restriktiv. Laut Reglement ist die Bibliothek nur «an bestimmten Tagen und Stunden geöffnet, welche durch Anschlag bekannt zu geben sind», ausserhalb dieser Zeit können nur «ausnahmsweise und nach besonderer Ermächtigung Bibliotheksstücke von den Lehrern erhoben werden». Bibliothekar Alioth ist Dienstag und Donnerstag nachmittags «von 2 bis 5 ½» in der Bibliothek zugegen. Zur alljährlichen Revision in den Frühjahrsferien haben die Benutzer die «in ihrer Hand befindlichen Stücke» vorzuweisen. In der ersten Ausgabe des Katalogs von 1906 sind 1817 Musikalien und 297 Bücher aufgeführt. Eine Verbreiterung des Angebots vor allem bei den Musikalien dokumentiert die zweite Auflage des Katalogs von 1913.12 Sieben Jahre später umfasst die Bibliothek bereits 2760 Musikalien und 388 Bücher. Im Supplement von 1923 kommen noch einmal 600 Notenbände hinzu. Eine gewaltige Bereicherung erfuhr die Bibliothek laut Jahresbericht von Musikschule und Konservatorium für das Schuljahr 1924/25 durch die damals zur Ausführung gelangte Bestimmung unseres unvergeßlichen Direktors Hans Huber, der seine ganze Musik-Bibliothek dem Konservatorium vermacht hat. Zu den uns von Hans Huber hinterlassenen Musikalien kamen nach dem im April 1925 erfolgten Tode der Gattin des Meisters noch eine Reihe von Werken aus dem Besitz der Verstorbenen.13
Nach dem Tod von Ida Huber-Petzold im April 1925 gingen gemäss testamentarischer Verfügung die von Hans Huber hinterlassenen Bücher und Musikalien in den Besitz der Schule über, wo sie zunächst nicht in die bereits vorhandenen Bestände eingearbeitet, sondern getrennt als «Hans Huber Bibliothek» aufgestellt und in einem eigenen Katalog verzeichnet wurden.14 Der Katalog der Hans Huber-Bibliothek erschliesst uns die Vorlieben des Pia nisten und Komponisten. Einiges mag als Geschenk von Musikerkollegen und Autoren hierher gelangt sein und blieb vermutlich unbenutzt, doch die Notenausgaben tragen häufig Spuren des Gebrauchs, die Rückschlüsse auf die Entschei dungen des Interpreten Huber erlauben. Als Pianist ging Huber mit Eintragungen 12 Musikschule und Konservatorium Basel, Katalog der Bücher und Musikalien, Basel 21913. 13 Musikschule und Konservatorium Basel, Jahresbericht über den 58. Kurs 1924/25, Basel 1925, S. 12. 14 Musikschule und Konservatorium Basel, Katalog der Bücher und Musikalien der Hans Huber Bibliothek, Basel 1926.
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wesentlich sparsamer zu Werke, als wenn er ein Stück zu dirigieren hatte und die Partitur dafür ausführlich bezeichnete. In den Klaviernoten finden sich dagegen nur einige knappe Fingersätze und Dynamikbezeichnungen, sowie in Hubers zierlicher Notenschrift notierte Übergänge, um dem Spieler das Umblättern zu erleichtern. Die Eintragungen vermitteln das Bild eines erfahrenen Klavierspielers, der für sich nur das Nötigste notierte und über ein gutes Gedächtnis und eine hervorragende Spieltechnik verfügt haben muss. Der Schwerpunkt seiner Bibliothek liegt bei der anspruchsvollen zweihändigen Klavierliteratur von Bach, Beethoven, Chopin, Schumann und Liszt und bei konzertanten Werken. Ein ausgedehnter Bereich besteht aus heute seltenen Studienwerken und Etüden, die Hubers Interesse an pädagogischen Fragestellungen spiegeln. Daneben zeigt sich Huber als Interpret, der für die Musik seiner Zeit offen war und Stücke von Komponisten wie Rheinberger, Brahms, Bruch, Mahler und Strauss im Notenschrank hatte. Noch zwei Mal erhält die Musikschulbibliothek auf ähnliche Weise Zuwachs. Musikalien aus dem Nachlass des 1926 verstorbenen Dirigenten und Konservatoriumsleiters Hermann Suter kommen in die Bibliothek und werden mit einem eigens hergestellten Nachlass-Stempel versehen. Mitte der sechziger Jahre gelangt eine beträchtliche Anzahl von Büchern und Musikalien aus der Bibliothek des ehemaligen Direktors Felix Weingartner in den Besitz der Musik-Akademie. Diesmal werden die Druckwerke wohl auch als Unterstützung für Weingartners Witwe Carmen Weingartner-Studer angekauft. Im Jahresbericht von 1965/66 heisst es dazu: Ein wertvoller Teil der reichhaltigen Privatbibliothek unseres früheren Direktors, des Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner, konnte für unsere Bibliothek erworben werden. Werke mit bedeutsamen Eintragungen des Meisters sowie seine im Druck erschienenen Kompositionen wurden uns von Frau Carmen Weingartner-Studer als Depositum anvertraut.15
Damals war Paul Sacher (der einst selbst Weingartners Dirigentenkurs besucht hatte) bereits alleiniger Direktor der Musik-Akademie, doch die ersten Sondierungen hinsichtlich der Weingartner-Bibliothek fallen noch in die gemeinsame Direktionszeit von Walter Müller von Kulm und Paul Sacher (1954–1964). Die Übernahme wurde offenbar gründlich vorbereitet, denn schon in einem Brief vom 5. September 1962 wendet sich Carmen Weingartner an Direktor Walter Müller von Kulm: «Wie ich Ihnen neulich sagte, werde ich zu gegebener Zeit mich bei Ihnenmelden, um über all das, was aus dem Nachlass meines Mannes für die Musik-Akademie bestimmt ist, zu sprechen und auch praktische Dinge diesbezüg-
15 Musik-Akademie der Stadt Basel, 99. Jahresbericht 1965/66, Basel 1966, S. 15.
D i e A n fä n g e d e r M u s i k a l i e n s a m m lu n g d e r M u s i k- A k a d e m i e B a s e l
lich zu erörtern.»16 Die Partituren und Bücher aus Weingartners Bibliothek werden ebenfalls mit einem entsprechenden Stempel gekennzeichnet und in den Bi bliotheksbestand aufgenommen. Bereits zu Lebzeiten hatte Felix Weingartner immer wieder Exemplare seiner Werke an die Musikschule geschickt, wie eine Postkarte vom August 1941 belegt: Sehr geehrtes Fräulein! Im Lauf der Jahre habe ich schon einige Male der Bibliothek der Musikschule Werke übersandt. Ich möchte heute die gleichzeitig abgesandte Partitur hinzufügen und bin mit besten Grüßen, auch bitte an Herrn Dr. Münch, Ihr ergebener F. Weingartner.17
Die Vorgänge ähneln sich. Die ehemaligen Direktoren Selmar Bagge, Hans Huber, Hermann Suter und Felix Weingartner vermachen jeweils einen grossen Teil ihrer Musikalien und Bücher der Musikschule, wobei handschriftliche Kompositionen, Korrespondenz, Wertvolles und für die Nachwelt Bestimmtes der Universitäts bibliothek Basel übergeben werden, was aber zum praktischen Gebrauch dient, in die Bibliothek der Musik-Akademie gelangt. Dabei spielen die Witwen Justine Bagge, Ida Huber und Carmen Weingartner, alle drei musikalisch gebildet, als Bewahrerinnen des Nachlasses jeweils eine wichtige Rolle. Justine Bagge etwa macht geltend, sie habe lange Jahre zusammen mit ihrem Mann für die Vergrösserung der Bibliothek gesorgt. Wie Ida Huber behält sie bis zu ihrem Tod einige Musikalien zum eigenen Gebrauch bei sich. Liest man die damit verbundenen Briefe und Dokumente, wird spürbar, dass es damals nicht nur um die Übernahme von Druckerzeugnissen ging, sondern dass persönliche Erinnerungen an die Noten geknüpft waren. Dies wird umso greifbarer, wenn sich bis heute handschriftliche Eintragungen und Fingersätze der einstigen Besitzer in den Bänden erhalten haben. Solche Zeichen sollen in dem vorliegenden Buch zum Sprechen gebracht werden. Dies erwies sich mitunter als ein im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtiger Prozess. Mit den der Bibliothek überlassenen Musikalien wollte man in erster Linie den Schülern und Lehrern Studien material an die Hand geben. In dieser Hinsicht ist es gewiss im Sinne der Vorbesitzer, wenn sich heute in ihren Notenbänden in bunter Vielfalt die Spuren all derjenigen finden, die sie seither zum Musizieren benutzt haben. Für die Forschung birgt dies jedoch nicht geringe Schwierigkeiten. Anhand der sich überlagernden Schichten von Einzeichnungen aus verschiedener Zeit bleibt oft schwer zu erkennen, von welcher Hand die Eintragungen stammen. Von einer Vorläufig 16 Brief von Carmen Weingartner-Studer an Walter Müller von Kulm vom 5. September 1962, Archiv der Musik-Akademie Basel. 17 Postkarte von Felix Weingartner an Rosalie Sarasin (Sekretariat der Musikschule) vom 15. August 1941, Archiv der Musik-Akademie Basel.
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keit der Ergebnisse ist deshalb auszugehen, die Zuordnung der handschriftlichen Eintragungen und die Erforschung der Provenienz stehen noch am Beginn und bieten Material für weitere Forschung. Erschwerend kommt hinzu, dass in den fünfziger und sechziger Jahren unter dem Bibliothekar Franz Grosser eine Bibliotheksangestellte die Aufgabe hatte, handschriftliche Eintragungen aus den Noten möglichst gründlich auszuradieren. Einiges an Interpretationshinweisen, die wir heute als wertvoll erachten würden, dürfte so dem Radiergummi zum Opfer gefallen sein. Aber auch Besitzeinträge auf den Titelblättern wurden aus Gründen der Anonymisierung zum Teil getilgt, ausgeschabt, überklebt oder herausgeschnitten. Für die Nachlässe von Hans Huber,Hermann Suter und Felix Weingartner gilt dies allerdings nicht, denn hier wurden Stempel benutzt, um den Nachlass zu kennzeichnen. Ein Teil der Huberund Weingartner-Noten dürfte aber durch häufige Benutzung während Jahrzehnten strapaziert und inzwischen durch neuere Ausgaben ersetzt worden sein. In der folgenden Zeit kommt es immer wieder zu bedeutenden Schenkungen, sie erreichen aber nicht mehr den Umfang der Hans Huber-Bibliothek oder der Wein gartner-Bibliothek. Im Jahr 2004 gelangte das historische Notenarchiv des Basler Gesangvereins als Überlassung in die Bibliothek der Musik-Akademie. Das Notenmaterial des 1824 gegründeten, bedeutenden Basler Konzertchores, der im 19. Jahrhundert mit Aufführungen der Werke von Bach, Schumann und Brahms Massstäbe setzte, erwies sich – oft noch nah an der Entstehungszeit der Werke – als wahre Fundgrube für Hinweise zur Aufführungspraxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Partituren, in denen sich zahlreiche Einzeichnungen der Dirigenten Ernst Reiter, Alfred Volkland, Hans Huber und Hermann Suter erhalten haben, wurden für dieses Buch gesichtet, einige Materialien wurden im Hinblick auf datierbare Aufführungen ausgewertet. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Meisterkursen, welche Anfang des 20. Jahrhunderts von Ferruccio Busoni und Wanda Landowska und Jahrzehnte später in den sechziger Jahren von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Henri Pousseur an der Musik-Akademie Basel abgehalten wurden. Auf jeweils eigene Weise haben diese herausragenden Interpreten und Lehrer damit die Interpretationsgeschichte geprägt. In den dreis siger Jahren gründete Paul Sacher die Schola Cantorum Basiliensis, das Lehr- und Forschungsinstitut für Alte Musik. Es bestand zunächst als eigenständige Institution und verband sich 1954 mit Musikschule und Konservatorium zur MusikAkademie Basel. Die Bedeutung dieser Gründung für die Interpretation der Alten Musik ist bereits an anderer Stelle ausführlich gewürdigt worden und bleibt hier weitgehend ausgespart.18 18 Siehe dazu Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 32 (2008).