Maria Becker (Hg.): Auf dem Weg zu einer Idee

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AUF DEM

Auf dem Weg zu einer Idee

Über das Experiment in der Kunst und andere Strategien des Kreativen

Schwabe Verlag

Projektförderer:

Eine Stiftung aus dem Kanton Basel-Stadt

Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung

Mary &Ewald E. Bertschmann Stiftung

Alexander Sarasin

Mit der Unterstützung der UBS Kulturstiftung

Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-CohnStiftung, Basel.

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche

Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Coverabbildung :Irene Kopelman, Map of Plants,2013, aus dem Projekt Chiral Garden (Liste der Pflanzen und Beratung:Dr. Barbara Gravendeel, Naturalis Biodiversity Center, Leiden, und Rogier van Vugt, Hortus botanicus, Leiden)

Covergestaltung:icona basel gmbh, Basel

Korrektorat:Anna Ertel, Göttingen

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4292-3

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4298-5

DOI 10.24894/978-3-7965-4298-5

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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Maria Becker: Vorwort

Maria Becker: I. Einleitung:Nachhaltigkeit in der Kunst oder die Ökonomie einer Idee. Ein Exkurs zum Quadrat von Josef Albers .. 15

Maria Becker: II. Einführung zu experimentellen Strategien der Moderne

Seraina Renz: III. «Eine wachsame Kontrolle des Bewusstseins»: Performancekunst, Experiment und Gefahr

Maria Becker: IV. Der dunkle Rest:Schöpferische Prozesse und «Befreiende Verfahren».

Maria Becker: V. Übergänge:Ein Blick ins Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft 77

Linda Schädler: VI. Irene Kopelman und die künstlerische Recherche. Oder:Wie Naturphänomene in Kunst überführt werden

Inhalt
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Becker: Résumé
Ausblick .. .... .... ... .... .... ... .... 111 Abbildungen und Nachweise .. .. .. ... ... .. ... ... .. .. .... ... .... 113 Die Autorinnen .. .... ... .... .... ... .... .... ... .... .... ... .... 117
Maria
und

«Die Dinge finden sich. MethodischesVorgehen ist viel weniger wichtig, als die Dinge passieren zu lassen – auf ganz verschiedene Weise:Projekte führen mich zu neuen Entdeckungen, und ich trage stets einen Rucksack halb ausgearbeiteter Ideen mit mir.»1 Der britische Künstler Simon Starling beruft sich in seiner Arbeit gern auf den gelenkten Zufall, das sogenannte Serendipity-Prinzip.Das kann bedeuten, dass er sich von den Gegebenheiten eines Ortes und ebenso von den unvorhersehbaren Ereignissen des Arbeitsprozesses inspirieren lässt. Nicht nur die Dinge finden sich auf diese Weise, auch der Vorgang der Herstellung geht als Spur in das Werk ein. So baute Starling 2005 am Basler Rheinufer einen alten Schuppen um in ein ortstypisches Ruderboot. Mit diesem fuhr er rheinabwärts zum Museum für Gegenwartskunst und transformierte dort das Boot wieder zurück in seine ursprüngliche Gestalt (Abb. 1a +b). Was von dem Werk letztlich blieb, war die Geschichte des Prozesses, die sich in das Material eingeschrieben hatte und eine Art ökonomischen Kreislauf sichtbar machte.2

Im Werk des 1967 geborenen Starling gehen konzeptuelle und performative Ansätze eine fruchtbare Synthese ein. Sein Statement wurde von mir an den Anfang gestellt, da es den Prozess betont und exemplarisch für einen repräsentativen Teil des heutigen Kunstschaffens ist. Denn in der Kunst der Gegenwart tritt mehr als in früheren Epochen der Prozess des Machens in den Vordergrund. Dies gilt nicht nur für die bildende Kunst, sondern ebenso für Schauspiel, Film und Literatur. Durch die prozessuale Betonung überschneiden sich heute Kunstformen, die früher getrennte Gattungen waren. Die performative Kunst, die viele junge Künstler zu ihrem Medium machen, ist dem Theater verwandt. Ihre Aktionen werden oft filmisch dokumentiert.

1 Zitiert in:Kristin Schmidt: Simon Starling – Chance of Serendipity, die Dinge finden sich. In:Kunstbulletin 7–8, 2016, S. 57.

2 Simon Starling: Cuttings. Kunstmuseum Basel, Museum für Gegenwartskunst 2005, S. A1–A15.

Vorwort
8 Maria Becker
Abb. 1a und 1b: Simon Starling, Shedboatshed (Mobile Architecture No 2),2005

Darüber hinaus sind der Film und die Präsentationsformen des Internets zu eigenständigen künstlerischen Medien geworden. Die konzeptuelle Kunst wiederum arbeitet mit grenzüberschreitenden Praktiken, zu denen experimentelle und interdisziplinäre Ansätze gehören. Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Literatur fliessenindas Kunstschaffen ein und ebenso die Strategien des kommerziellen Marketings. Nicht zuletzt geben Einflüsse aus anderen Kulturen wichtige Impulse und schaffen eine Durchlässigkeitkünstlerischer Praktiken.

Die Diversität heutiger Kunstformen ist Freiheit und Last. Das Ausgreifen in viele Richtungen spiegelt die mediale und ökonomische Vielfalt unserer Gesellschaft;esist Symptom einer allgemeinenBefindlichkeit und vielleicht einer der besten Indikatoren, um die Kunst unserer Zeit fassbar zu machen. Bewusst wird hier ein Begriff gewählt, der vor allem in der Biologie verwendet wird und für eine Vielfalt von Biosystemen steht. Wie diese schafft sich die Kunst ihre eigenen Biotope, in denen sie gedeihen kann. Es sind Nischen, die es vor allem jungen Künstlern möglich machen, sich abzugrenzen von der Vielfalt dessen, was auf sie einwirkt, und eigene Wege zu finden. Kreativität braucht Strategien,umihr Potenzial zu entfalten. So ist im Untertitel dieses Buchs bewusst eine Doppeldeutigkeit angelegt:Esist der Kreative, der Ideen produziert, und ebenso ist es das kreative Potenzial selbst, das sich seine Wege sucht.

Die Ideen zum Buch sind aus meiner Dozententätigkeit und der Arbeit mit Studenten an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel entstanden. Ich habe 2010 und 2011 Interviews mit Basler Künstlern,Kuratoren und Kunstvermittlern zum Thema «Was ist ein Experiment in der Kunst?» geführt. Dahinter stand zunächst einfach ein Klärungsbedürfnis mit dem Ziel, den Unterschied von naturwissenschaftlichem und künstlerischem Experiment herauszuarbeiten. Anstoss für die Idee war auch die Forschung zur kreativen Arbeit, die sich seit den 1990er-Jahren an den Kunsthochschulen in der Schweiz und in Deutschland etabliert hat.3 Aus den Interviews resultierte

3 Künstlerische Forschung (artistic research)ist eine zeitgenössische Wissenschaftstheorie, die künstlerische Verfahrensweisen als diskursive Prozesse analog zu den Methoden der etablierten Wissenschaften versteht. Sie wird bis heute teilweise kritisch betrachtet. Neuere Publikationen dazu sind:Jens Badura, Selma Dubach, Anke Haarmann, Dieter Mersch (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich 2015;Sibylle Peters

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eine Fülle von Anregungen, die vom Potenzial des Werkstoffesbis zum «dunklen Rest»des schöpferischen Unbewussten reichten. Manche Kapitel des Buchs sind unmittelbardavon inspiriert. Was sich letztlich herausdestillierte, war ein Experimentbegriff, der im Prinzip nicht so neu ist, wie ihn die Hochschulender Künste gerne darstellen. Er stimmt im Wesentlichen noch mit dem überein, was als Grundidee des Black Mountain College aus den 1940er-Jahren bekannt war. Die legendäre Hochschule in den Wäldern von North Carolina, aus der einige der wichtigsten Strömungen der heutigen Kunst hervorgegangen sind, verstand das Experiment wörtlich im Sinn des lateinischen experimentum,das heisst:als auf die Erfahrung bezogenenVersuch.4 Dieser Begriff des Experiments wird in erster Linie prozesshaft ausgelegt, nämlich als Tätigkeit, in der Lernen und die Produktion von Ideen in eins fallen.

Das vorliegende Buch soll Leitfaden und Anregung für künstlerische Strategien sein. Nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern als Darstellung, die künstlerisches Vorgehen anhand ausgewählter Beispiele anschaulich macht. In der Einleitung wird mit einem Exkurs das Schaffen von Josef Albers an den Anfang gestellt. Albers war Maler und Lehrer am Black Mountain College und einer der einflussreichsten Impulsgeber für die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er benutzte die Strategien der Serie und der Reduktion, zwei wichtige Vorgehensweisen der Moderne. Aus einer einzigen Grundidee gewann er ein nahezu unbegrenztes Spektrumkünstlerischer Varianten. Es wird der Frage nachgegangen, was die Ökonomie für eine Idee bedeutet und ob es eine Form von Nachhaltigkeit in der Kunst gibt. Der heute fast schon inflationär gebrauchte Begriff aus der Ökologie erfährt dabei eine Transformierung hin zur Kunst.

Der Einleitung folgt ein Überblick über die wichtigsten künstlerischen Strategien der Moderne. Es ist der historische Teil des Buchs. Der Lehre am Bauhaus und den innovativen Gedankenzum Ausstellungsraum in den Schriften von Carola Giedion-Welcker sind zwei Abschnitte gewidmet. Die

(Hg.): Das Forschen aller:Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld 2013.

4 Die Ausstellung Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933–1957 fand 2015 im Hamburger Bahnhof Berlin statt. Die Publikation stellt die wesentlichen Dokumente, Lehrmethoden und Strategien vor.

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Bedeutung des Werkstoffesist grundlegend für die Auffassung von Kunst am Bauhaus, in der Material, Handwerk und Formensprache eine Synthese eingehen. Bei Giedion-Welcker wird der Ausstellungsraum erstmals zum experimentellen Feld für Kunst und damit zur Manifestation neuer Strategien,die naturwissenschaftliche Phänomene für den künstlerischen Auftritt nutzbar machen. Es folgen Darstellungen der interdisziplinären Lehre am Black Mountain College, deren Rezeption Ausgang für die Performancekunst und ihre Ableitungen Fluxus und Happening war. Die Konzeptkunst schliesslich, seit den 1960er-Jahren ein Begriff, der die Idee eines Kunstwerks als vorrangig erachtet und unterschiedliche Strategien vereint, wird im letzten Abschnitt der Einführung behandelt. Ihre Ausläufer haben sich bis heute fortentwickelt und ausdifferenziert. Neben den klassischen Gattungen Skulptur, Malerei und Grafik, die nach wie vor Bedeutung haben, prägt das konzeptuelle und theoretisch fundierteVorgehen in hohem Mass unsere zeitgenössische Kunstlandschaft.

Ideen kommen nicht aus dem Nichts. Eine interdisziplinäre Betrachtung zur Erfassung schöpferischer Prozesse gibt in knapper Form einen Überblick zur Kreativitätsforschung in der Psychologie. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen keine Untersuchungen zur Gehirnforschung und zu kreativen Lehrmethoden, sondern die Rolle des Zufalls für die künstlerische Arbeit.

Dieser wird seit der Moderne strategisch in der Kunst eingesetzt. Das Serendipity-Prinzip, das der eingangs erwähnte Simon Starling für sich in Anspruch nimmt, ist kein neues Phänomen. Es wurde bereits im 18. Jahrhundert entdeckt und von dem Briten Horace Walpole zunächst für die Literatur nutzbar gemacht. Wesentlich dabei ist, dass der Zufall aus der Beschäftigung mit den Stoffen resultiert. Er braucht den Anstoss der Situation. Damit gehört er grundlegend zum prozessualen Prinzip vieler künstlerischer Strategien der Gegenwart.

Das Experiment in Kunst und Wissenschaft war die Idee zum vorliegenden Buch. Zwischen beiden Gebieten ist bis heute eine Art Spannungsfeld, das für die Kunst ebenso fruchtbar wie grenzwertig sein kann. Daher behandelt der vierte Abschnitt die Beziehung zwischen beiden Gebieten, die von mir als Sphären bezeichnet werden – analog zu den Sphären in der Astronomie, die beweglich sind, sich aber nicht direkt berühren. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Kunst und Wissenschaft sich immer wieder einander annäherten und ihre Position zueinander befragten. Dabei war die Kunst meist

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die initiative Seite, da sie grössere Freiheit bei der Wahl ihrer Instrumente hatte. In der Gegenwart schliesslich gehören Aneignungenaus der Wissenschaft selbstverständlich zum Vorgehen von Künstlern.Die von mir beschriebenen Beispiele zeigen aber, dass die Beziehung auch heute nicht frei von Irritationen ist.

Die Darstellung von künstlerischen Strategien ohne direkte Anschauung von Werken und Schöpfern entbehrt der greifbaren Substanz. In zwei einzelnen Essays werden bestimmte Strategien durch ausgewählte Künstler und ihr Vorgehen sichtbar gemacht. Ich danke den Kunstwissenschaftlerinnen Linda Schädler und Seraina Renz, die ich für die Mitarbeit am Buch gewinnen konnte. In ihren Untersuchungen geht es um Experiment und Gefahr in der Kunstform der Performanceund um die aktuelle Überführung von naturwissenschaftlichen Phänomenen in die bildende Kunst. Es freut mich sehr, dass ihre Beiträge die weiten Felder des Themas vertiefen und anschaulich machen. Es ist unser Wunsch, dass das Buch in der Unübersichtlichkeit unserer heutigen Kunstlandschaft als Leitfaden und Anstoss für künstlerische Ideen dienen kann.

Das langwierige Buchprojekt hätte ohne die Unterstützung von Stiftungen und Sponsorennicht realisiert werden können. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die das Projekt gefördert haben. Hervorheben möchte ich die grosszügigen Unterstützungsbeträge der Mary und Ewald E. Bertschmann Stiftung und von Alexander Sarasin. Grosser Dank gebührt auch Harald S. Liehr, Programmleiter des Schwabe Verlags Basel, für seine Bereitschaft, das Projekt mit Rat und Wohlwollen zu begleiten, sowie Sonja Peschutter, Projektmanagerin Literatur- und Kulturwissenschaften, für ihre verdienstvolle Arbeit. Ebenso sei hier den Autorinnen Linda Schädler und Seraina Renz noch einmal herzlich gedankt für ihre hervorragenden Essays und ihre Geduld.

Basel, im März 2024

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Literatur

Badura, Jens /Dubach, Selma /Haarmann, Anke /Mersch, Dieter u. a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich 2015.

Kreuzer, Stefanie (Hg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Entdeckungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld 2012.

Peters, Sibylle (Hg.): Das Forschen aller:Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld 2013.

Schmidt, Kristin: Simon Starling – Chance of Serendipity, die Dinge finden sich. In: Kunstbulletin 7–8, 2016, S. 57.

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I. Einleitung:Nachhaltigkeit in der Kunst oder die Ökonomie einer Idee.

Ein Exkurs zum Quadrat von Josef Albers

Ours is an economically oriented age. In earlier times, world-viewwas more important. Today, nobody can exist without considering economics: we are concerned with economic form.1

Josef Albers leitete im Jahr 1928 mit den oben zitierten Sätzen eine Abhandlung zu seinem Werkunterricht ein. Schon damals umfasste er etwas, dessen weitreichendeBedeutungfür ihn selbst er noch nicht erahnen konnte. Er war

Lehrer am Bauhaus in Dessau und seine Anschauungen waren am theoretischen Überbau der Institution orientiert. Die «Ökonomie der Form»war zentral für das Bauhaus. Albers hatte die Prinzipien des Hauses, in das er 1920 eingetreten war, von Beginn an aufgenommen. Die Verbindung von Kunst und Handwerk entsprachvollkommen seinem eigenen, von akademischen Zuordnungen freien Denken. Er entwickelte am Bauhaus experimentelle Techniken und ein neues Materialbewusstsein für den Kunstunterricht – und nicht zuletzt die Grundlage für seine spätere abstrakte Formensprache.2

Ökonomie ist hier in einem weiteren Sinne zu verstehen als der gebräuchliche Begriff. Nicht nur materiell, sondern in einem geistigen Sinne

1 Erstmals publiziert in: Bauhaus Zeitschrift für Gestaltung 2(Dessau), no. 2/3 (1928), S. 3–7. Englische Version abgedruckt in: Josef Albers. Minimal means, maximum effects. Fundación Juan March. Madrid 2014, S. 211–215.

2 Nicholas Fox Weber: Der Künstler als Alchimist. In: Josef Albers. Eine Retrospektive. New York – Baden-Baden – Berlin. Köln 1988, S. 20–28. Verwiesen sei hier auch auf die Publikation Albers 2014, die das Werk ausführlich vorstellt und zahlreiche Texte von Albers abdruckt. Zu Albers’ Lehrmethode:Frederick A. Horowitz /Brenda Danilowitz: Josef Albers:toopen eyes. The Bauhaus, Black Mountain College, and Yale. London 2006.

bedeutsam, ist sie eng verbunden mit der Ökonomie der Mittel. Diese führt über die Reduktion beziehungsweise die Konzentration der Mittel und wird geleitet von einer Idee. Bei Albers war es der Gedanke, auf einer einfachen Grundform mannigfache Variationenaufzubauen. Vonseinen Anfängen bis zu den Bildern der Reifezeit hat er das Arbeiten in Serien dem exemplarischen Einzelwerk vorgezogen.Das Quadrat war das künstlerische Gefäss, das er aus Eindrücken der mexikanischen Architektur herausdestilliert und zum universalen Träger seiner Farbkompositionen gemacht hatte. Über 2000 Varianten des Motivs entstanden ab 1950, als er die erste Homage to the Square malte.

Ökonomie der Form und der Mittel bilden den roten Faden in Albers’ künstlerischer Praxis. Als Lehrer am experimentell orientierten Black Mountain College in Amerika vertiefte er sein methodisches Vorgehen,und 1963 verfasste er an der Universität von Yale Intercation of Color, 3 sein folgenreiches Buch zur Untersuchung von Farbwahrnehmung. Auf der Basis von Schulungsbeispielen angelegt, wurde die in nüchterner Didaktik formulierte Schrift zum theoretischen Fundament der Farbfeldmalerei und zu einem der wichtigsten Impulse für die abstrakte ModerneAmerikas überhaupt. Unübersehbar ist der Einfluss, den sie auf Künstler wie Ad Reinhardt und Mark Rothko hatte. Viele andere Maler verarbeiteten seine Lehre mehr oder weniger indirekt. Bis heute ist die Wirkung des Buchs in ihrer Reichweite nicht vollständig erschlossen.

Interessant in diesem Zusammenhangist, dass Albers’ malerisches Werk zu den am meisten ausgestellten in Europa und Amerika gehört. Zahlreiche Huldigungenund Theorien zu Werk und Lehre wurden verfasst.4 Doch es ist – bis auf wenige Beispiele – schwer, einen direkten Einfluss auf andere Künstler und Tendenzen zu erkennen. Ebenso schwierig ist es, Albers’ Malerei einer konkreten Richtung zuzuweisen.Erist weder ein Konkreter noch ein Vorläufer der Op-Art,weder ein Hard-Edge-noch ein Farbfeld-

3 Erstausgabe 1963 bei Yale University Press, New Haven. Deutsche Ausgabe:Josef Albers: Interaction of Color. Grundlegung einer Didaktik des Sehens (mit einem Vorwort von Erich Franz). Köln 1997.

4 Vgl. Margrit Staber: Die Farbe verhält sich wie der Mensch. Zum Kunstkonzept von Josef Albers. In: Josef Albers. Homage to the Square. Wien 1992 (Sonderabdruck aus Schweizer Monatshefte,56. Jahr, Heft 2, Mai 1976).

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maler, und doch hat sein Werk von allen etwas. Er selbst war geneigt, sich und sein Werk ausserhalb der Kunstgeschichte zu stellen. So sah er Interaction of Color nicht im Sinne eines zur Rezeption tauglichen Vorbilds, sondern vielmehr als Methode zur Anleitungkünstlerischen Vorgehens:«The book aims at Art itself».5

Albers’ überragendeWirkung auf eine ganze Künstlergeneration in Amerika beruht auf seiner Methodenlehre. Darin liegt auch der Grund, weshalb es nicht in erster Linie sein Werk ist, das rezipiert wurde, und sein Einfluss dennoch unübersehbar ist. Seine Methode bezog sich auf Prozesse des experimentellen Lernens. Sie war einfach und so offen, dass Künstler auf sehr verschiedene Weise in sie einsteigen konnten. Hinzu kommt, dass man in Amerika mehr als in Europa geneigt war, eine Methode in der Anwendung umzusetzen. So konnte Interaction of Color in viele Werke einfliessen und im besten Sinne eine nachhaltige Wirkung entfalten. In der Wirkung des Buchs wurde wahr, was Albers in einem seiner Statements formulierte:«To distribute material possessions … is to divide them. To distribute spiritual possessions … results in multiplying them.»6

Was aber lehrte Albers’ Methode eigentlich?Nimmt man den Band von Interaction of Color heute zur Hand, scheint seine Wirkung kaum nachvollziehbar. Erst im Zusammenhang mit Albers’ Werk erschliesst sich die experimentelle Didaktik. Ähnlich wie die Quadratform,mit der Albers sein Spätwerk begann und an der er seine Lehre stets aufs Neue erprobte, war das Buch eine Art Gefäss,das geeignet war für verschiedene Inhalte.Indieser Offenheit steckt der Motor seiner Rezeption. Albers vereinte die statische Form des Quadrats mit der Dynamik der Farbe und gründete auf beide Komponenten die Essenz seiner Bildidee.Inder Konstanzder Form und im Wechsel der Farbe wurde der Prozess der Wahrnehmung nachvollziehbar, der per se beweglich ist und eine Art Weg des Sehens offenbart.7 Tatsächlich scheint Albers die Dynamik der Wahrnehmung als Antrieb seiner Kunst verstanden zu haben. Die Varianten der Quadrate bleiben stets offen für das,

5 Ebd.

6 Ansprache im Cosmopolitan Club, New York, 1938. Manuskript in:Josef Albers Papers (MS32),Manuskripts and Archives, Yale University Library. Abgedruckt in:Albers 2014, S. 240.

7 Erich Franz:Vorwort. In:Albers 1997, S. 7–18 (Anm. 3)

I. Einleitung: Nachhaltigkeitinder Kunst oder die Ökonomieeiner Idee 17

was daraus folgen kann. Sie tragen die Perspektive des nächsten Bilds schon in sich. So wird die Folge der Varianten durch das Potenzial des Sehens evoziert, ein Prozess, der unabschliessbar ist, aber in der geometrischen Form ein festes Gefäss hat. Statik der Form und Dynamik der Farbe bilden eine Synthese, eine «einfache Vielheit», wie Albers es nannte.8

Das stets neue Experiment der Wahrnehmung und seine Unabschliessbarkeit bedingen die Arbeit in Serien. Auch deshalb ging Albers mit dem Quadrat von einer Art «Nullform»aus. Es ist die statischste aller geometrischen Formen und auch die unlebendigste, von Malern gern gemieden, da sie fast zwanghaft eine Zentrierung der Kompositionmit sich bringt. Albers löste dieses Problem, indem er mehrere Quadrate unterschiedlicher Farbe ineinanderstellte und sie mit dem Schwerpunkt nach unten lagerte. So schuf er für die Farbe eine Art Gehäuse und für sich selbst die Freiheit, das Schema immer aufs Neue anzuwenden.9 Darin zeigt sich Albers’ Ökonomie,eine grösstmöglicheWirkung auf der Basis einer einfachen Form zu erzielen, eine «maximale Wirkung bei einem Minimum an Aufwand».10 Diese Einfachheit ist auch der Schüssel zur stillen Faszination, die von den Homages ausgeht. Sie sind in hohem Masse zugänglich. Die Homages tragen weder den Anspruch vor sich her, hochartifizielle Erzeugnisse zu sein, noch haben sie –zumindest auf den ersten Blick – einen symbolischen Gehalt. Doch es eignet ihrer schwebenden Erscheinungetwas Spirituelles, das sich dem Betrachter unmittelbar mitteilt. Albers’ Quadratbilder sind Behausungen, in denen man wohnen kann (Abb. 2).

Wenn Albers bei den Homages mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielen wollte, dann meinte er das Quadrat, mit dem er eine dauerhaft gültige Form für die Verwirklichung seines künstlerischen Interesses gefunden hatte. Es beschäftigte ihn von 1950 bis zum Ende seines Lebens, das waren immerhin 25 Jahre. Doch es ging ihm nicht um die Auslotung einer geometrischen Form. Wesentlich war, dass das Quadrat das in sei-

8 Albers 1992, ohne Seitenangabe (Anm. 4).Zum Prozess der Wahrnehmung bei Albers vgl. Michael Semff: Die Farbe – ein Atmen und Pulsieren – von innen. In:Heinz Liesbrock /Michael Semff (Hg.): Malerei auf Papier. Josef Albers in Amerika. Ostfildern 2011, S. 41–51.

9 Ebenda, S. 48.

10 Ebenda, S. 41.

18 Maria Becker

I. Einleitung: Nachhaltigkeitinder Kunst oder die Ökonomieeiner Idee 19

nem Verständnis richtige Gefäss für die Farbe war:«Ich huldige nicht dem Quadrat. Das Quadrat ist nur ein Tablett, auf dem ich meine Verzückung durch die Farbe ausbreite. Es ist ein Spiel, das zehn Stunden am Tag braucht, ein endloses Spiel.»11 Die Homages galten der Verehrung des Künstlers für den Reichtum des Grundstoffes aller Malerei. Dass er dies mit einer erstaunlichen Ökonomie der Mittel und – in gewissem Sinne – mit der Ökonomie einer Idee zu erreichen vermochte, verleiht seinem Werk eine eigentümliche Anziehungskraft.

Weit mehr als die Tafelbilderzeigen Albers’ Papierarbeiten das Potenzial der Ideen als ein Prinzip, das ablesbar bleibt. Die Blätter sind Probestudien für die Homages;sie werden als eigenständigeArbeiten angesehen.12 Oft sind

11 Heinz Liesbrock: Bewegte Stille. Josef Albers’ Ekstase der Farbe. In:Liesbrock /Semff (Hg.) 2011 (s.Anm. 8),S.35. 12 Ebenda.

Abb. 2: Josef Albers, Studie zu einem Adobe /Study for an Adobe,um1947

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