Tomas Tomasek (Hg.) | Gottfried von Straßburg. Tristan und Isolde

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Tristan und Isolde

Kritische Edition des Romanfragments auf Basis der Handschriften des frühen X-Astes unter Berücksichtigung der gesamten Überlieferung

Herausgegeben von Tomas Tomasek in Zusammenarbeit mit Frank Schäfer

Begleitband

Schwabe Verlag

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Publiziert mit Unterstützung des Fachbereichs Philologie und des Germanistischen Instituts der Universität Münster.

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Abbildung Umschlag: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 51, Bl. 90v Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel

Satz: Typodienst Markus Schmitz, Altenberge

Stemma: Frank Schäfer, Münster

Druck: Hubert & Co, Göttingen

Printed in Germany

ISBN Hardcover 978-3-7965-4534-4

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4730-0

DOI 10.24894/978-3-7965-4730-0

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1.3.1

3

3.1

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A Einleitung

1 Zur Notwendigkeit einer neuen Gottfried-Ausgabe

Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sind mehrere, im Detail jeweils divergierende Gottfried-Editionen vorgelegt worden, ohne dass dafür jemals die Varianten der Werküberlieferung vollständig erhoben worden wären. Dieser Dauerzustand editorischer Vorläufigkeit mindert den Aussagewert der bisherigen Gottfried-Ausgaben und beeinträchtigt die Forschung, die ein möglichst genaues Bild der Überlieferungslage sowie der auf ihr beruhenden Herausgeberentscheidungen benötigt. Hierauf zielt auch die Fundamentalkritik Joachim Bumkes, der die Editionslage folgendermaßen beschrieb:

„Gottfrieds ‚Tristan‘ zitiert man entweder nach Marold oder nach Ranke. Wenn es aber für die ‚Tristan‘-Interpretation gleichgültig ist, welche Ausgabe man zugrundelegt, dann scheint es keinen essentiellen Zusammenhang zwischen philologischer und interpretatorischer Arbeit mehr zu geben“ (Bumke 1996, 121).

Ziel der vorliegenden Edition ist es, das Desiderat einer gründlich recherchierten und philologisch transparenten Ausgabe von Gottfrieds bedeutendem Roman endlich einzulösen, was im 21. Jahrhundert auch angesichts der leichten Zugänglichkeit der Textzeugen nicht länger hinausgeschoben werden darf. Durch die Verfügbarkeit der Gottfried-Handschriften im Internet ist es inzwischen auch den Nutzern einer Gottfried-Ausgabe möglich, editorischen Fragen bis zu den Quellen nachzugehen – wozu sie eine moderne Edition unbedingt ermutigen sollte (s. Kap. 5.7).

Hinzu kommt, dass sich für Gottfrieds Dichtung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts viel editorischer Nachholbedarf angesammelt hat. Neue Einsichten machen es z. B. erforderlich, das Editionsverfahren der bisherigen Ausgaben (zuletzt Ranke 1930) sowie deren Umgang mit der Werkgliederung kritisch zu überdenken – bis hin zu der Notwendigkeit, bestimmte Textabschnitte, wie etwa die Gottfried’schen Vierreimstrophen, angemessener zu präsentieren. Doch sind hierauf bislang keine editorischen Reaktionen erfolgt, im Gegenteil: Die jüngste Textpublikation durch Walter Haug und Manfred Günter Scholz (2011) folgt weitestgehend der Werkgestaltung Friedrich Rankes, konserviert also einen Ansatz vom Anfang des 20. Jahrhunderts,1 und lagert die editorisch relevanten Anregungen der neueren Forschung (wie z. B. Schirok 1984, Bonath 1986, Wetzel 1992 u. a. m.) zumeist in den Kommentarband aus.2

Dafür ein kleines Beispiel: An einer prominenten Stelle in Gottfrieds Literaturexkurs wird der Erzähler von einer Stimme aufgefordert, sich zur Lage des Minnesangs zu äußern: ‚nu sprechet umbe die nahtegaln!‘ (4774). Dieser Vers wurde von Ranke mit Recht durch Anführungszeichen als eine an den Erzähler gerichtete Aufforderung kenntlich gemacht. Nachdem aber L. L. Hammerich (1951/52) zeigen konnte, dass sich hier ebenso gut ein mehrzügiges Gespräch mit dem Erzähler entspinnen kann,3 steht die Frage im Raum, was zwischen den Initialen 4751 und 4821 eigentlich vorliegt: ein Dialog oder eine Erzählerrede mit Zwischenruf.

1 Punktuell haben Haug/Scholz Rankes Wortlaut an etwa 30 Stellen verändert. Vgl. Haug/Scholz 2011, II,230 f. 2 Oder übergeht sie auch ganz: So hätte Wetzels kritische Analyse des editorischen Vorgehens Rankes (vgl. Wetzel 1992, 399) eine ausführliche Stellungnahme bei Haug/Scholz erfordert (vgl. Kap. 1.2.3).

3 Vgl. Hammerich 1951/52, 156 f. An einer Stelle (4784–4792) ist Hammerichs Zuweisung der Redeanteile allerdings korrekturbedürftig; nicht weiterführend ist außerdem seine Deutung der Gottfried’schen Aussagen zur ‚Nachtigall von Hagenouwe‘ (4779) als Reinmar-Kritik.

Obwohl Hammerichs Sicht in der Forschung Zustimmung gefunden hat,4 haben Haug und Scholz an Rankes Textherstellung festgehalten. In ihrem Kommentarband konzedieren sie zwar in Anbetracht der Forschungslage, dass der Textabschnitt „im Vortrag ohne Schwierigkeiten“ auch als Dialog wiedergegeben werden könne, wenden aber ein, dass einem Lesepublikum „der Sprecherwechsel kaum zugänglich“ sei (Haug/Scholz 2011, II,384). Dieser Einwand ist jedoch unberechtigt, da den Redebeiträgen im Text Sprechprofile zugeordnet sind: Ab der Initiale 4751 spricht der Erzähler in Ich-Rede; ab 4774 äußert sich eine den Erzähler ihrzende Instanz; ab 4784 tritt wieder das Ich des Erzählers auf; ab 4793 wird erneut geihrzt, und ab 4798 meldet sich, die Sequenz bei der Initiale 4821 abschließend, noch einmal die Ich-Stimme des Erzählers. Damit ist klar, dass hier ein Dialog vorliegt und folglich auch nur derjenige den Text korrekt erfasst, der sich auf die vorhandenen Sprechsignale einlässt, ob nun als Vortragender oder als Leser.

Ranke gebührt das Verdienst, als erster Gottfried-Editor bemerkt zu haben, dass sich an dieser Stelle neben dem Erzähler eine weitere Stimme zu Wort meldet, doch erst durch Hammerichs Anregung wird die Wortmeldung als Teil eines Dialogs offenbar. Ein solcher weiterführender, die Kohärenz eines ganzen Abschnitts stärkender Hinweis ist keine Bagatelle, die sich in einen Kommentarband abschieben ließe –zumal Forscher wie Jaeger (1972) oder Lutz (2022) bereits in Gottfrieds Prolog die Neigung zu dialogischem Sprechen erkannt haben –, denn Hammerichs Anregung hat editorische Konsequenzen und sollte zum Anlass genommen werden, auch die übrigen Interlokutionen noch einmal unter die Lupe zu nehmen (s. dazu Kap. 4.2).

Dieses Beispiel stellt nur einen von vielen Belegen für den Rückstand dar, den die Gottfried-Ausgaben inzwischen gegenüber der Forschung aufweisen, denn Hammerich ist längst nicht der Einzige gewesen, der in der Nach-Ranke-Zeit editorischen Verbesserungsbedarf aufgedeckt hat. Deshalb wird im Folgenden nicht nur auf Defizite einzugehen sein, die von jeher für die Misere der Gottfried-Editionen ursächlich sind (Kap. 1.1, 1.2), sondern auch auf die zahlreichen Verbesserungsnotwendigkeiten, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben haben (Kap. 1.3–1.5). Insgesamt tritt dabei ein editorischer Handlungsbedarf von so großem Ausmaß zutage, dass sich eine Neuausgabe von Gottfrieds Werk als notwendige Konsequenz ergibt.

1.1 Die versäumte Erfassung der Variantenlage

Von allen bisherigen Gottfried-Herausgebern (Myller 1785, v. Groote 1821, v. d. Hagen 1823, Maßmann 1843, Bechstein 1869 ff., Golther 1888/89, Marold 1906 ff., Ranke 1930 ff., Haug/Scholz 2011) haben erstaunlicherweise nur drei ihren Text mit einem Lesartenapparat untermauert, wobei aber die Variantenaufnahme niemals vollständig oder systematisch erfolgt ist.

In der Frühzeit der Gottfried-Editionen hat Eberhard von Groote (1821) einen ersten Variantenapparat aus den Handschriften HWFBNO(R) zusammengestellt, der allerdings kein volles Überlieferungsbild ergab, da v. Groote wichtige Codices nicht einsehen konnte – z. B. basiert seine Verwendung der Handschrift F auf Myllers fehlerhaftem Abdruck – und einige der ihm zugänglichen Handschriften nur sehr inkonsequent im Apparat vermerkte.5

4 Vgl. Kirchberger 1964, 167 f.; J. Klein 1970, 11 Anm. 18; Spiewok 1989, 90 f.

5 Vgl. dazu z. B. Kottenkamp 1879, 5.

Auch Friedrich Heinrich von der Hagen hatte offenbar geplant, seiner Gottfried-Ausgabe (1823) eine Lesartensammlung beizugeben, veröffentlichte diese aber nicht.6 So kam es, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ausgabe Hans Ferdinand Maßmanns (1843), der erstmals auch die Handschrift M in den Variantenapparat einbezog, in textkritischen Fragen bevorzugt wurde. Doch vermerkt Maßmanns Apparat letztlich nur die Haupthandschriften MHWF7 – und dies, wie er schreibt, lediglich zu Anfang „ausführlicher“, danach allein bei „wesentlichen Textabweichungen“ (Maßmann 1843, 592), sodass Maßmanns Ausgabe „höchstens als halbkritisch zu bezeichnen“ ist (Wetzel 1992, 26).

Da in der Folgezeit weder Reinhold Bechstein (1869) noch Wolfgang Golther (1888/89) ihre Editionen mit Variantenapparaten versahen, blieb die Gottfried-Überlieferung das ganze 19. Jahrhundert hindurch partiell intransparent. Dies wurde von der zeitgenössischen Textkritik ausdrücklich bemängelt,8 doch noch im 20. Jahrhundert verfuhren die Gottfried-Editoren weiter nach dem Grundsatz, dass die Variantenaufnahme ganz im „subjectiven ermessen des herausgebers“ liege (Ranke 1917, 157), worin auch der Grund zu sehen ist, dass kein Gottfried-Editor jemals Kriterien für seine Variantenauswahl benannt hat und demzufolge auch keine systematischen Variantenapparate entstehen konnten (vgl. auch Firchow 2004a, XXV Anm. 36).

Als 1906 Karl Marold erstmals alle elf heute bekannten Ganzhandschriften und ebenso viele Fragmente im Apparat seiner Ausgabe berücksichtigte, mochte es – trotz früh aufkommender Kritik – kurzfristig so ausgesehen haben, als verfüge die Forschung nun über eine brauchbare textkritische Basis – bis Ranke im Jahre 1917 Marolds Ausgabe ausführlich rezensierte und darin Versäumnisse und Fehler in hoher Zahl nachwies. Ranke legte 1930 seine eigene Edition vor, die aber ebenfalls ein schwerwiegendes Defizit aufweist: Der für 1931 vorgesehene Lesartenband ist nie erschienen, obwohl sich Rankes Schüler Eduard Studer noch bis über die 1970er-Jahre hinaus darum bemühte. So sind die beiden meistbenutzten Gottfried-Ausgaben mit gravierenden Mängeln behaftet: Rankes Edition wird zwar nachgesagt, „im ganzen noch immer [...] verläßlich“ zu sein (Haug/Scholz 2011, II,228), doch legt sie ohne Apparat keinerlei Rechenschaft darüber ab; Marolds Ausgabe erweckt den Anschein, über einen ausgearbeiteten Variantenapparat zu verfügen, doch trägt sie seit den ersten Rezensionen das Stigma der Unzuverlässigkeit.9

Dies gilt ungeachtet der Tatsache weiter, dass Werner Schröder den Marold’schen Apparat anhand von Rankes Mängelliste nachträglich aufbessern ließ (Marold/Schröder 1969) – für Evelyn Scherabon Firchow (2004a, XXX) ist dies geradezu eine „philologische Ungeheuerlichkeit“. Ranke hatte zudem längst nicht alle Versäumnisse Marolds aufgedeckt, und aus seinen Korrekturvorschlägen resultierte auch kein vollständiger kritischer Apparat (vgl. Wetzel 1992, 31 f.). Dessen ist sich Schröder immer bewusst gewesen und hat dennoch seiner „Ersatzlösung“ (Marold/Schröder 1969, 300) durch zwei Neuauflagen (Marold/

6 Vgl. die Hinweise v. d. Hagens im vierten Teil seiner Minnesinger-Edition von 1838 auf einen Druckereibrand im Jahre 1822, die jedoch das Fehlen der Lesartensammlung zur Gottfried-Ausgabe von 1823 nicht wirklich erklären (v. d. Hagen 1838, Teil 4, 611 Anm. 1).

7 Mit dem Hinweis, v. Groote habe ja bereits die Lesarten der Handschriften BNO(R) angegeben (vgl. Maßmann 1843, 592).

8 So moniert z. B. Theodor von Hagen die fehlenden R-Belege bei v. Groote (v. Hagen 1868, 30); Hermann Paul bemängelt u. a., dass die Handschrift „O sehr oft in den Varianten von Groote fehlt“ (Paul 1872, 388).

9 Da beide Ausgaben unterschiedlichen stemmatologischen Ansätzen folgen (s. Kap. 1.2), lässt sich auch nicht der Apparat der einen mit der Edition der anderen verbinden.

Schröder 1977 und 2004)10 zur Langlebigkeit verholfen – wobei in die Ausgabe von 2004 noch zusätzliche Schreibfehler (Scan- und Autokorrekturfehler) hineingeraten sind.11

Es scheint also, als wolle sich die Gottfried-Philologie seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert damit begnügen, die vorhandenen Ausgaben gelegentlich punktuell nachzubessern,12 und die dringend erforderliche vollständige Variantenerfassung auf unbestimmte Zeit verschieben. Deren Verschleppung – die man dem 19. und frühen 20. Jahrhundert noch nachsehen mag, weil die damaligen Herausgeber kaum eine Chance hatten, die komplette Gottfried-Überlieferung per Autopsie einzusehen13 – lässt sich spätestens seit dem Aufkommen von Mikrofilmen im 20. Jahrhundert nicht mehr entschuldigen. Im 21. Jahrhundert, in dem Digitalisate von bester Qualität verfügbar sind, ist es somit allerhöchste Zeit geworden, diese „dringlichste Aufgabe der Gotfrit-Forschung“ (Marold/Schröder 2004, 352) in Angriff zu nehmen. Der „Stillstand“ im Umgang mit der Gottfried-Überlieferung, der von K. Klein (2006, 213) mit Recht angeprangert worden ist, muss endlich überwunden werden. Schließlich wartet inzwischen auch fast ein Dutzend neuentdeckter Textfragmente auf die Erstaufnahme in eine Gottfried-Edition.

1.2 Editorische Unstimmigkeiten

Neben der nachlässigen Variantenerhebung haben sich die Gottfried-Herausgeber mit der Wahl eines archetyporientierten Editionsverfahrens weitere Probleme zugezogen. Dies gilt allerdings noch nicht für die frühesten Editoren, da die erste Gottfried-Ausgabe Christoph Heinrich Myllers (1785) aus einem – fehlerhaften – Abdruck der Florentiner Handschrift F bestand und auch v. Groote, der zweite Gottfried-Herausgeber (1821), sich auf eine einzelne Handschrift konzentrierte, was er aber bereits als anspruchsvolle editorische Aufgabe verstand: Von Groote wählte die Heidelberger Handschrift H, deren Text er recht sorgfältig wiedergab und durch einen Apparat aus Varianten anderer Handschriften ergänzte, wie es dem heutigen Leithandschriftverfahren ähnelt.14 Er beabsichtigte, „einen guten Text nach einer bewährten Handschrift mit möglichst weniger Abänderung zum Grunde zu legen“ (v. Groote 1821, LXIV), und zugleich sollte es bei Zweifeln an einer H-Lesart „dem Leser frey stehen, die richtigere aus den Varianten zu wählen“

10 2004 hat Schröder seine Nachbesserung des Marold-Apparats von 1969 noch einmal als einen „vorläufigen Behelf“ (Marold/Schröder 2004, 352) bezeichnet und gemahnt: „Ein systematisch angelegter Apparat muss erst noch hergestellt werden“ (ebd. 345).

11 Vgl. etwa die folgenden Fehler, die im 5. Abdruck (2004) gegenüber dem vierten (1977) hinzugekommen sind: gezahlt statt gezalt (6423, Versangaben hier nach Marold); enkam statt enkan (7606); als statt al (7837); getne statt getâne (8206); diese statt dise (10108); diesen statt disen (10128); diese statt dise (10129); ich statt in (10476); dme statt deme (10661); wî statt wê (13046); kleiner statt kleinen (13060); dar am statt dar an (14886); getn statt getân (15018); nache statt nach (15534). Dies sind nur Stichproben.

12 Diesen Weg hat nämlich nicht nur Schröder 1969/1977/2004 mit der Marold-Ausgabe eingeschlagen, sondern auch Peter Ganz mit der Bechstein-Edition (1978); 2011 haben Haug und Scholz den Ranke-Text an etwa 30 Textstellen zu korrigieren begonnen (vgl. Anm. 1).

13 Ranke sind z. B. die Handschriften R und E unzugänglich gewesen (vgl. Ranke 1917, 157 f. Anm. 1).

14 Doch ersetzt v. Groote vertretbare H-Lesarten zuweilen durch Varianten der Handschriften B und F (so z. B. in den Versen 41, 493, 670, 804, 1119, 1133, 1446, 2007, 2009, 2575, 2704, 2850, 3470, 4921, 5266a–f, 5420, 5646, 6681, 6929, 7093, 7339, 8041, 8575, 8846, 10189, 10419, 10959, 11653, 12457, 13177, 13625, 16468), was auch bei ihm auf eine Archetyp-Orientierung schließen lässt. Hierfür spricht auch, dass er die beiden letzten Verse des Werkes (19548a/b), die er nicht in H, sondern in FBNR vorfand, in seine Edition aufnahm.

(ebd.). Dieser Erstversuch einer kritischen Gottfried-Ausgabe stellte, gemessen an den Zeitumständen, eine durchaus respektable Leistung dar.15

Nur zwei Jahre später (1823) vertrat v. d. Hagen als dritter Gottfried-Herausgeber einen völlig anderen Ansatz. Bei ihm stand keine Einzelhandschrift im Vordergrund, denn er versprach, Gottfrieds Roman „aus den beßten Handschriften“ (so der Ausgabentitel) zu rekonstruieren – womit er die Reihe der auf den Archetyp ausgerichteten Editionen, die ununterbrochen bis ins 21. Jahrhundert zu Haug/Scholz fortreicht, eröffnete. Da bei diesem Editionsansatz der Herausgeber die Gestalt des Archetyps eigenverantwortlich anhand der Gesamtüberlieferung ermittelt, ist die Beigabe eines Variantenapparats – der bei v. d. Hagen jedoch fehlt (s.o. Kap. 1.1) – obligatorisch.16 Denn sobald eine Archetyp-Edition keinen Variantenapparat aufweist, steht ihr wissenschaftlicher Wert in Frage. Eine solche bedenkliche Halbheit zu sein, ist aber nicht allein das Kennzeichen der Ausgabe v. d. Hagens geblieben, sondern geradezu zum Merkmal der meisten folgenden Gottfried-Ausgaben (Bechstein 1869, Golther 1888/89, Ranke 1930, Haug/Scholz 2011) geworden.

Als nach v. d. Hagen auch Maßmann eine auf den Archetyp zielende Edition publizierte (1843) und sie nur mit einem rudimentären Variantenapparat versah (s. o. Kap. 1.1), meldeten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt Textkritiker zu Wort, die nicht nur den unzumutbaren Stand der Variantenaufzeichnung bemängelten, sondern sich vor allem auch über das Desinteresse der bisherigen Editoren an einer Klassifikation der Gottfried-Handschriften verwunderten.17

1.2.1 Erkenntnisse der Textkritik

Mit ihren Mahnungen und Vorschlägen ist es den Textkritikern des 19. Jahrhunderts immerhin gelungen, einen über mehrere Forschergenerationen anhaltenden Diskurs in Gang zu setzen, in dessen Verlauf sich im 20. Jahrhundert die Einsicht herauskristallisierte, dass die Überlieferungslage der Gottfried-Handschriften für eine auf den Archetyp gerichtete Edition ungeeignet ist (vgl. dazu zuletzt Wetzel 1992, 399).

Den Anstoß zu diesem Reflexionsprozess gab Theodor von Hagen (1868), der in der Gottfried-Überlieferung zwei Textklassen erkannte: einen X-Ast mit MH und einen Y-Ast mit W als Hauptrepräsentanten. Durch Hermann Pauls Einwand, es lägen in Wirklichkeit drei Textklassen vor (Paul 1872), erhielt in der Folgezeit die stemmatische ‚Mehrgesichtigkeit‘ einzelner Textzeugen, wie etwa der Handschrift F, zunehmende Aufmerksamkeit.18 Von Hagens Grundeinsicht aber, dass die Gottfried-Überlieferung von einem einzigen Archetyp ausgegangen und über astbildende Hyparchetypen weiterverlaufen ist, wurde von der späteren Forschung stets bestätigt.

Die einzige Ausnahme bildete Karl Marold, der sich als Erster unter den Gottfried-Editoren (1906) immerhin um eine gewisse stemmatologische Perspektive bemühte. Marold vermutete nämlich hinter der Handschrift M eine frühe Autorfassung und postulierte daneben eine erweiterte, durch HWF repräsen-

15 Zu kritisieren ist allerdings v. Grootes willkürliche Variantenaufnahme. So bemerkt er z. B. über den Codex R, er sei „so äußerst fehlerhaft geschrieben, dass ich es gar nicht der Mühe werth hielt, dessen Lesarten aufzunehmen“ (v. Groote 1821, LXXII).

16 Ferner sind in diesem Falle methodische Erläuterungen und editorische Einzelkommentare erforderlich.

17 Vgl. dazu Theodor von Hagen (1868, 1 f.), der dem Gottfried-Editor Maßmann wie auch dessen Vorgänger v. d. Hagen vorhielt, sie würden „sich mit der eklektischen Manier begnüg[en]“.

18 Vgl. z. B. Marold 1896.

tierte Zweitfassung Gottfrieds, die es zu edieren gelte.19 Doch schon zeitgenössische (z. B. Herold 1911, 1 f., 76) wie auch spätere Untersuchungen (Bumke 1991, 297; Schröder 1991; Th. Klein 1992, 54 ff.; vgl. dazu Tomasek 2007, 57 f.) konnten erweisen, dass es sich bei M um eine aus dem X-Ast stammende Bearbeitung handelt und dass, auch so gesehen, nichts für die Annahme eines separaten HWF-Archetyps spricht.20

1917 erbrachte dann Rankes umfangreiche Marold-Rezension entscheidende neue Einsichten: Ranke konnte u. a. eine Gabelung des Y-Astes in einen α-Zweig mit RS und einen β-Zweig mit WOP plausibel machen. Vor allem aber hat Rankes zweipoliges Stemma, das fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch die Sicht auf die Gottfried-Überlieferung prägte, die Forschung erstmals auf die Existenz mehrerer horizontaler Kontakte (Kontaminationen) unter den Handschriften aufmerksam gemacht.21

Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde das Ranke’sche Bild der Gottfried-Überlieferung durch die Untersuchung René Wetzels (1992) noch einmal entscheidend verbessert. Wetzel gelang es, die Intransparenz der bisherigen Variantenaufnahme zu durchbrechen, indem er sich auf die Fragmente der Gottfried-Überlieferung konzentrierte, die er mit den Ganzhandschriften kollationierte. So konnte er für mehr als 5000 über das Werk verteilte Verse fast lückenlos das Variantenspektrum abbilden und den Nachweis erbringen, dass der Gottfried-Archetyp tatsächlich über drei Hyparchetypen in die Überlieferung eingegangen ist: Die frühen Fragmente m, f1/f und t sind Belege für einen dritten Überlieferungsweg (im Folgenden als Z-Ast bezeichnet), der sich ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit dem X- und dem Y-Ast vermischt hat; dementsprechend nahm Wetzel gegenüber Ranke weitere horizontale Handschriftenkontakte an (s. dazu und zur Differenzierung dieses Stemmas in der vorliegenden Ausgabe Kap. 6). Zugleich bedeutet sein dreiastiges Stemma, dass von der Hyparchetyp-Ebene an deutlich mehr Möglichkeiten für frühe Fehler- und Variantenbildungen bestanden haben, als Rankes zweipoliger Ansatz vorsah. So wird erstmals erklärbar, warum die Gottfried-Überlieferung auffällig viele – nämlich Hunderte22 – Textstellen mit mehr als einer archetypfähigen Lesart, sog. Präsumptivvarianten,23 aufweist.

1.2.2 Das Problem der Präsumptivvarianten

Eigentlich müsste ein dreiastiges Stemma ideale Voraussetzungen für eine Archetyp-Edition bieten: Wenn nämlich die Lesart zweier Äste gegen den dritten übereinstimmt, dürfte es sich in der Regel um die des Archetyps handeln. Da aber im Falle der Gottfried-Überlieferung der Z-Ast nur über die Fragmente a, m, f1/h/f, t, q1/q und im Bereich der M-Ausfälle, wo sich die Handschrift *BNE und ihre Derivate B und

19 Schröder nennt dies „eine etwas abenteuerliche Vorstellung“ (Marold/Schröder 2004, 347).

20 Auch die von Marold (1896) angenommenen gemeinsamen Fehler von HF, HW und WF überzeugen als Argumente für einen HWF-Archetyp nicht (vgl. dazu Ranke 1917, 205 f.).

21 Hierfür bieten sich im Falle der Gottfried-Handschriften mehrere Erklärungen an: Nach dem Aufkommen von Gottfried-Fortsetzungen haben sich Schreiber mit unfortgesetzter Vorlage in der Regel um eine weitere Quelle mit Fortsetzung bemüht, die dann auch zur Überprüfung des Gottfried-Teils genutzt werden konnte und zu Einflüssen aus einem anderen Überlieferungszweig führte; später haben auch Präferenzen für die eine oder andere Fortsetzung eine Rolle gespielt. Außerdem trugen die Lücken in M maßgeblich zur Heranziehung von Nebenquellen bei. Auch scheinen von den bebilderten Handschriften wie M, B und *E kontaminierende Wirkungen ausgegangen zu sein (vgl. auch Kap. 6.5).

22 In der vorliegenden Ausgabe schlagen sich diese Varianten in fast 400 Zeigehandfällen nieder (s. dazu Kap. 2.1.3).

23 Zum Begriff vgl. Stackmann 1964, 263 ff.

*Ebe aus Z-Quellen bedienen, sowie an wenigen Einzelstellen, an denen B und *Ebe gemeinsam gegen M gehen – d. h. nur in knapp 20 % des Gesamttextes –, als dritter Überlieferungsast unkontaminiert greifbar wird, gibt es für etwa 80 % des Werks keine stemmatologische Handhabe zur Unterscheidung von Archetyplesarten und gleichwertigen Hyparchetypvarianten.

Präsumptivvarianten machen jede Archetyp-Edition punktuell angreifbar, doch wenn sie wie in der Gottfried-Überlieferung stark gehäuft auftreten, werden die ständigen Editionsalternativen – vom Anfangswort Gedenket (= MH vs. Gedæhte = WBNREPS) bis zur Abbruchstelle der Dichtung, wo die Handschriften FBNRPS zwei weitere Verse aufweisen – zu einem grundlegenden editorischen Problem. Hierauf waren die ersten Archetyp-Editoren des Gottfried’schen Werks, die noch kaum in stemmatischen Zusammenhängen dachten und die Lesarten aus den Haupthandschriften frei auswählten, nicht eingestellt; manche Präsumptivoptionen wurden von ihnen – und z. T. bis heute – auch gar nicht wahrgenommen.

Illustrativ sind hierfür z. B. die Verse 1119–1175: In Vers 1119 (Nu Markes hôchgezît ergie) offerieren die Haupthandschriften MHWF gleich drei Lesarten, aus denen die Mehrzahl der bisherigen ArchetypHerausgeber die FE(+NO)-Variante (zergie) wählte, doch liegt auch die Lesart ergie (MHBPS) vor, der sich die anderen Editoren angeschlossen haben; ferner bieten die Handschriften WR hier die Lesart vergie; wenig später haben alle Archetyp-Herausgeber den Vers 1133 nach MWFBNOP ediert (daz ez von grôzen sælden was), wo aber mit HRES (daz er von grôzen sælden was) eine archetypverdächtige Alternative vorliegt; kurz darauf folgte eine Hälfte der Editoren in Vers 1146 den Handschriften MHB (ein jæmerlîchez klagen) und die andere WFNORES (ein klagelîchez klagen); den Vers 1175 edierten sie dann wieder (mit einer Ausnahme) nach WNORPS (= Y): die sluoc si, wo aber auch die Präsumptivvarianten und sluoc si FE (= Z; so v. d. Hagen) und sô/dô sluoc si M/H (= X) zur Verfügung stehen.

Die vorliegenden Archetyp-Editionen bieten also jeweils eigene Schlängelkurse durch die Präsumptivvarianten der Gottfried-Überlieferung, wofür der herausgegriffene kurze Textabschnitt nur eines von vielen Beispielen ist (vgl. z. B. auch die Verse 8842–8941). Hinzu kommen zahlreiche etwas anders gelagerte Fälle wie etwa Vers 2233 mit der *X-Variante sprach (in ir zungen) (MHBE) und der *Y-Lesart sprach daz (in ir zungen) (WFzNORPS) – Fälle, die offenbar nicht völlig archetypgleichwertig sind, sodass sie auch keine Präsumptivvarianten im engeren Sinne darstellen. Vermutlich ist nämlich an dieser Stelle in *X das Pronomen daz ausgefallen, weil ein Verlust dieses Kurzwortes, das dem Verssinn Prägnanz gibt, wahrscheinlicher ist als seine nachträgliche Hinzufügung in *Y zur ‚Besserung‘ des Archetyps. Doch lässt sich hierüber keine stemmatologisch begründete Sicherheit erlangen, wie es für eine Archetyp-Edition notwendig wäre, denn der Vers ist auch ohne das Pronomen vertretbar. Solche ‚Präsumptivfälle im weiteren Sinne‘ mit einer höheren, aber ungesicherten Archetyp-Wahrscheinlichkeit für eine der Lesarten finden sich ebenfalls zuhauf unter den Gottfried-Varianten. Die sich am Archetyp orientierenden Editoren hätten also angesichts dieser komplexen Problemlage ihre Präsumptiventscheidungen jeweils begründen müssen, um dem berechtigten Vorwurf einer eklektischen Lesartenauswahl, wie er früh durch v. Hagen (1868, 1 f.) erhoben worden ist, zu begegnen. Dass sie dies aber nie taten, zeigt, wie sicher sie sich in ihrem subjektiven Urteil fühlten. Nimmt man noch Marolds Diktum hinzu, dass die Gottfried-Überlieferung eigentlich „viel einheitlicher“ sei, „als man bisher glaubte“ (Marold/Schröder 2004, LXIV), so zeugt all dies von einem gründlichen Verkennen der Präsumptivproblematik durch die frühen Editoren.

1.2.3 Rankes Sonderweg

Erst Ranke hat die komplexe Überlieferungslage zutreffender eingeschätzt und sich in seinem Aufsatz von 1917 differenzierter geäußert. Nach eingehendem Handschriftenstudium war ihm vor allem deutlich geworden, dass die Gottfried-Überlieferung mehrere horizontale Handschriftenkontakte aufweist und schon deshalb mit der traditionellen textkritischen Methode zur Rekonstruktion eines Archetyps nicht beherrschbar ist:

„Von einem einheitlich durchführbaren textkritischen princip, wie es vHagen, Paul und Kottenkamp aufzustellen versuchten, kann bei den uns jetzt bekannten collationsbeziehungen unter den verschiedensten hss. nicht mehr die rede sein“ (Ranke 1917, 428).

Die Erkenntnis, dass die kontaminierte Gottfried-Überlieferung eine textkritische Rekonstruktion bis hin zum Archetyp verunmöglicht (vgl. Maas 1960, 30: „Gegen Kontamination ist kein Kraut gewachsen“; vgl. auch Stackmann 1964, 246 ff.), hätte Ranke zu der Frage führen können, welche anderen Editionsziele stattdessen mit „einem einheitlich durchführbaren textkritischen princip“ erreichbar wären, doch hielt er am Ziel der Archetyp-Rekonstruktion fest, denn er sah sich trotz allem in der Lage, hierfür „immerhin [...] mit einiger wahrscheinlichkeit [...] richtlinien [zu] ziehen“ (Ranke 1917, 428). Ranke verstand seine Vorgehensweise also als eine Art Ersatzweg, um dem auf klassische Weise unzugänglichen Archetyp mithilfe von Richtlinien dennoch nahezukommen, was allerdings die Frage aufwirft, welche Aussagekraft „[R]ichtlinien“ von „einiger [W]ahrscheinlichkeit“ für eine Archetyp-Rekonstruktion überhaupt haben können bzw. wie Ranke mit der verbleibenden Restunsicherheit umzugehen gedachte – worüber er sich jedoch nicht klar geäußert hat.

Die erste der Ranke’schen Richtlinien besagt, dass gemeinsame MH-Varianten (= X-Ast) den WF-Lesarten des Y-Astes vorgezogen werden sollten, weil „Y stärker änderte als X“ (ebd.). Mit dieser Richtlinie reagiert Ranke auf das Präsumptivvarianzproblem, da sie die Schlängelkurse durch die Überlieferung reduziert. Allerdings basiert sie auf einer bloßen Behauptung, denn auch der *X-Schreiber, der den Archetyp sicherlich getreu reproduzieren wollte, hat sich gelegentlich fehlleiten lassen und Wörter (auch ganze Verse) übersehen oder Schreibungen des Archetyps falsch interpretiert, was zu punktuellen Veränderungen in Wortwahl, Morphologie, Namengraphie oder Metrik führte.24 Vielleicht hat der *Y-Schreiber mehr Abweichungen dieser Art verursacht, doch ist nirgends erkennbar, dass zwischen den frühen X- und Y-Ästen eine derart signifikante Fehlerdifferenz bestand, dass sich daraus eine Vorzugsrichtlinie für X-Präsumptivvarianten ableiten ließe – man denke nur an das textkritische Gewicht der Handschrift W. Ranke hat auch erst gar nicht versucht, einen solchen Nachweis zu führen, und wohl auch deshalb für seine erste Richtlinie die schwächstmögliche Formulierung gewählt:

„Wo X geschlossen gegen Y steht, hat der wortlaut von X von vornherein etwas mehr für sich“ (Ranke 1917, 428). Solange aber keine Beweise erbracht werden, dass X-Präsumptivvarianten in besonderem Maße aussagekräftig für den Archetyp sind, läuft diese Richtlinie ins Leere. Auch scheint Ranke ihr selbst nicht völlig vertraut zu haben, da er mehrfach – gehäuft z. B. im Umkreis des Literaturexkurses – vertretbare MH-Va-

24 Dass die Zahl dieser Fälle nicht gering ist, zeigt sich in der vorliegenden Edition an manchen Korrektureingriffen sowie an den Umrahmungen im Editionsapparat.

rianten stillschweigend zugunsten von Y-Lesarten verworfen, d. h. sein punktuelles Herausgeber-Urteil über die eigene Richtlinie gestellt, hat.25

Mehr noch: Ranke hat die Gültigkeit dieser Richtlinie in mehreren Fällen sogar selbst bestritten. Sie beruht auf der einhelligen Forschungsauffassung, „dass M und H unabhängig voneinander auf eine gemeinsame vorlage X zurückgehn“ (ebd. 228) und mit ihren Übereinstimmungen den Hyparchetyp *X repräsentieren. Ranke vertrat aber die Auffassung, dass M an „einzelne[n] stellen“ H kontaminiert haben könne (ebd.), sodass MH-Gemeinsamkeiten auch sekundär entstanden und gegenüber WF-Übereinstimmungen nachrangig sein mögen. Formuliert hat er dies allerdings nur vage, eher wie einen subjektiven Eindruck:

„einzelne stellen sehen [...] so aus, als hätte H einen einfluss der M-redaction erlebt: [...] so mögen auch die [...] wenigen stellen, an denen die lesarten von MH dem charakter von M entsprechen, durch einwürkung von M auf H zu erklären sein“ (Ranke 1917, 228 f.).

Doch hat Ranke in sein Handschriftenstemma (ebd. 404) keine entsprechende Kontaminationslinie eingezogen. Das Befremdlichste aber ist, dass er seine Auffassung an zwei Fallbeispielen begründete (1372, 4206), die als Kronzeugen für M→H-Kontaminationen ganz ungeeignet sind:

25 In den folgenden Versen seiner Edition zieht Ranke W- und/oder F-Varianten sinnvollen MH-Lesarten vor: 1 (MH: Gedenchet – Ranke: Gedæhte), 343 (MH: geschuof – Ranke: geschüefe), 369 (MH: oder – Ranke: unde), 829/840 (MH: niht en- – Ranke: niene), 881 (MH: trost – Ranke: noch trost), 1372 (MH: künecriche – Ranke: himelriche), 1626 (MH gebietet ir – Ranke: gebietet), 1723 (MH: starkes – Ranke: totliches), 1947 (MH: sit –Ranke: weder sit), 2092 (MH: dane – Ranke: dan ie), 2244 (MH: den – Ranke: disen), 2092 (MH: dane – Ranke: dan ie), 2233 (MH: sprach – Ranke: sprach daz), 2244 (MH: den – Ranke: disen), 2592 (MH: owe – Ranke: wie), 2704 (MH: verirret – Ranke: verreit), 2997 (MH: nam – Ranke: namen), 3055 (MH: ir ouch – Ranke: ouch ir), 3436 (MH: nie hie – Ranke: hie nie), 3454 (MHW: da – Ranke: do), 3537 (MH: von – Ranke: vor), 4052 (MH: von barunen – Ranke: barunen), 4206 (MH: frouwe vorh. – Ranke: frouwe fehlt), 4285 (MH: diu –Ranke: diser), 4509 (MH: daz – Ranke: daz daz), 4545 (MH: ietwederer – Ranke: ir ietwederer), 4592 (MH: höfschen man – Ranke: houbetman), 4658 (MH: laze wirz – Ranke: lazenz), 4778 (MH: solt – Ranke: sol), 4836 (MH: redelicher – Ranke: redericher), 4859 (MH: waz ich tuo – Ranke: waz getuo), 4865 (MH: zElycone –Ranke: Elicone), 4875 (MH: si – Ranke: sir), 4929 (MH: unde – Ranke: wan), 5045 (MH: und – Ranke: wis), 5115 (MH: gewæte – Ranke: geræte), 5325 (MF: statliche – Ranke: stætliche), 5715 (MH: fürderts – Ranke: antes), 5848 (MH liute – Ranke: liut), 6073 (MH: eren – Ranke: heren), 6126 (MH: sit – Ranke: si et), 6328 (MH: ir lant – Ranke: Irlant), 6373 (MH: si der – Ranke: -s iu der), 6379 (MHF: sweder – Ranke: weder), 6380 (MH: unde an – Ranke: an), 6499 u.ö. (MH: daz stat – Ranke: der stat), 7135 (MH: ouch in – Ranke: in ouch), 7418 (MH: si – Ranke: sir), 8013 (MH: wol gevallen – Ranke: gevallen), 8055 (MH: sanc si – Ranke: sang in si), 8064 (MH: unde – Ranke: unde ir), 8083 (MH: höfscheit – Ranke: gevuocheit), 8099 (MHW: an – Ranke: in), 8163 (MH: unde – Ranke: er), 8777 (MHF: ich mich – Ranke: mich), 8813 (MH: dri – Ranke: dri wir), 9488 (MH: daz – Ranke: da), 10117 (MH: unde – Ranke: alse), 10249 (MH: niht – Ranke: nie), 10718 (MHm: ire – Ranke: ir), 10867 (MH: in – Ranke: in allen), 11023 (MH: verlazen – Ranke: gelazen), 11281 (MH: aber –Ranke: herre), 14036 (MH: hinnen – Ranke: dem lande), 14447 (MH: iuwer – Ranke: und iuwer), 14759 (MH: welchen eren – Ranke: welchem herzen), 14885 (MH: dar – Ranke: aber dar), 15044 (MH: unmuote – Ranke: ungemüete), 15577 (MH: sich – Ranke: sich nicht), 15989 (MH: niht – Ranke: nun), 16255 (MHW: ane min –Ranke: min), 16429 (MH: gedanke – Ranke: gelangen), 16468 (MH: vrühte – Ranke: viuhte), 16817 (MH: den wuocher – Ranke: der wuocher), 17414 (MH: hin dan lac si – Ranke: her dan lac si), 17426 (MH: den – Ranke: daz), 17432 (MHW: er – Ranke: und), 17508 (MH: sin – Ranke: al sin), 17598 (MH: liebe – Ranke: libe), 17897 (MH: sol – Ranke: so sol), 17923 (MH: wecket – Ranke: quicket), 17950 (MH: begie – Ranke: ie begie), 18359 (MH: nu – Ranke: nu daz), 18414 (MH: muot – Ranke: gemüete), 18461 (MH: zelen – Ranke: rechen), 18523 (MH: aller – Ranke: zaller), 18801 (MH: halbe – Ranke: halben).

In Vers 1372 soll die MH-Lesart künicrîche (statt WF himelrîche) dadurch entstanden sein, dass M den vermeintlichen Archetyp-Ausdruck himelrîche, den Ranke in seine Edition übernahm, zu künicrîche „trivialisiert“ (ebd. 228) und ihn per Kontamination an H weitergegeben habe. Dabei verkennt Ranke, dass Gottfried erst wenige Hundert Verse zuvor (726–729, 808–818, 873 f.) am Beispiel Rüwalins und Blanscheflurs das für sein Werk bedeutsame Bild vom Königreich des Herzens26 entwickelt hat. Diese Metapher bildet den Bezugspunkt für Vers 1372, wie auch an der Responsion 813 ff./1360 ff. erkennbar ist: Rüwalin und Blanscheflur wollen im Gefühl der werltwunne (1369) das Königreich ihrer Herzen gegen kein anderes eintauschen. Da außerdem himelrîche keine Gottfried’sche Bezeichnung für die Partnerliebe darstellt, ergibt sich eindeutig, dass allein der MH-Ausdruck künicrîche dem dichterischen Vorgehen entspricht und damit auch den Archetyp (sowie *X) repräsentiert. Für eine Begriffstrivialisierung oder eine M→H-Kontamination fehlt jeder Hinweis.

Im Falle des Verses 4206, in dem M min frǒwe statt diu vil schœne frouwe (= H) schreibt, mutmaßt Ranke, H habe das in WF fehlende Wort frouwe per Kontamination aus der M-Redaktion bezogen – weil M das Kompliment ‚schœne‘ öfters durch ‚(min) frǒwe‘ ersetze (ebd. 228)27 –, und wählt für seine Edition dementsprechend die WF-Lesart. Doch zeigt der H-Vers keine Spuren eines M-Einflusses – er behält, im Gegenteil, das Adjektiv schœne bei, wie ihm auch das Pronomen min fehlt. Auf solcher Basis einen horizontalen Handschriftenkontakt M→H anzunehmen, hat etwas Gewaltsames; denn alles spricht auch hier dafür, dass die Überlieferungslage auf vertikalem Wege zustandegekommen ist, H also *X und den Archetyp repräsentiert, während der M-Schreiber den Vers abgeändert und das Attribut diu vil schœne unter Beibehaltung des Wortes frouwe durch das Pronomen mîn ersetzt hat (s. Anm. 27).

Y-seitig muss das syntaktisch entbehrliche Wort frouwe früh ausgefallen sein, wodurch der Vers in WFNORPS eine wichtige Nuance einbüßte. Denn der in dieser Textpassage vor dem Markehof vom traurigen Schicksal der schœnen Blanschefliure (4188) berichtende Rual legt viel Wert darauf, dass Rüwalin Markes Schwester geehelicht habe, was er selbst bezeugen könne (4191–4194); zugleich beglaubigt er, dass Tristan als legitimes Kind Rüwalins zur Welt gekommen ist, hat Rual doch nach eigener Aussage Blanscheflur auf Rüwalins Geheiß (4195) seit ihrer Hochzeit (sît her, 4196) in seiner Pflegschaft gehabt. Das Wort frouwe (‚Dame‘, ‚Herrin‘, ‚Gemahlin‘) bezeichnet also den legitimen Status Blanscheflurs (und damit auch Tristans), auf den es Rual hier ankommt. Angesichts dessen mit Ranke behaupten zu wollen, das Wort frouwe könne erst auf späterer Stufe gleichsam zufällig als eine M-Besonderheit in die Überlieferung eingedrungen sein – es damit dem Konzept des Dichters abzusprechen – und obendrein ohne Indizien eine M→H-Kontamination zu postulieren, übersteigt das Maß des editorisch Vertretbaren. Genauso sind die übrigen Fälle zu bewerten, die Ranke als ähnlich gelagert suggeriert28. Auch bei ihnen gibt es, wie in 1372 und 4206, keinen Grund, am vertikalen Überlieferungsweg, d. h. am *X-Ursprung der

26 Vgl. z.B. auch 12300, 15083, 18255, 19266.

27 Vgl. 774, 786, 1424, 10835, 11574, 13905, 14461, 14483. – Doch ist M 4206, wie auch schon M 4188, anders gelagert, da es an diesen Stellen weniger um den Höflichkeitsausdruck gehen dürfte; vielmehr scheint Rual in den beiden M-Versen Blanscheflur als seine Herrin (mîn frouwe) zu titulieren (vgl. 1818).

28 „so mögen auch die [...] stellen [...] zu erklären sein“ (ebd. 228 f.).

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