Herausgegeben vom Staatsarchiv Graubünden und vom Institut für Kulturforschung Graubünden
Gutsherren, Rebmeister und Tagelöhner
Akteure und Diskurse der Bündner Weinbaugeschichte
Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte
Band 41
Herausgegeben vom Staatsarchiv Graubünden und dem Institut für Kulturforschung Graubünden
Redaktion: Florian Hitz
Lektorat: Thomas Barfuss
Martín Camenisch
Gutsherren, Rebmeister und Tagelöhner
Akteure und Diskurse der Bündner Weinbaugeschichte
Schwabe Verlag
Die Inhalte der vorliegenden Publikation wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institut für Kulturforschung Graubünden (ikg) erarbeitet. www.kulturforschung.ch
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© 2024 Staatsarchiv Graubünden / Amt für Kultur und Institut für Kulturforschung Graubünden, Chur Kommissionsverlag Schwabe Verlag Basel, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Abbildung Umschlag: Privatarchiv Obrecht, Jenins
Gestaltungskonzept: icona basel gmbh, Basel
Cover: STROH Design, Kathrin Strohschnieder, Oldenburg
Layout: Andreas Färber, mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
Satz: Andreas Färber, mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
Druck: BALTO print, Vilnius
Printed in the EU
ISBN Printausgabe 978-3-7965-4761-4
ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4762-1
DOI 10.24894/978-3-7965-4762-1
Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.
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1. Weingüter und herrschaftliche Niederlassungen als zusammenhängende Repräsentationsmerkmale
2. Gutsherren in einem Tal mit schwindender Weinbautradition: Die Rebberge des Schlosses Baldenstein im hinteren Domleschg
2.1
3. Das Schloss Salenegg als Beispiel eines frühneuzeitlichen Anwesens in der Bündner Herrschaft
3.1
3.2
4. Ortsübergreifender Weinbau: Die Ratsherrenfamilie von Tscharner und ihre Weingüter im Churer Rheintal
4.1
Tscharner’schen Weinbaus im Chur 18. Jahrhunderts
4.2 Johann Baptista von Tscharners (1751–1835) Expansion in die Bündner Herrschaft
4.3 Der Weinbau
4.4
5. Zwischen Norden und Süden: Die Salis als typische Rebbergbesitzer in den Untertanenlanden Veltlin und Chiavenna
5.2
4.3 Das «Urbarium» als wissenschaftliche Grundlage für Meliorationen
4.4 Kataloge und Fragebogen: Selbsterkenntnis als Grundbedingung
4.5 Überlegungen zur Gründung einer Weinbauschule
4.6 Überlegungen
4.7 Skizzen
Geleitwort der Herausgeber
Wie der Wein bedarf auch die Forschung eines sorgfältigen und zweckmässigen Herstellungsprozesses, der im vorliegenden Fall durch die Kooperation zweier Institutionen befördert wurde. Das Institut für Kulturforschung Graubünden(ikg) hat diesem Forschungsprojekt den Boden bereitet und es finanziell ermöglicht. Das Staatsarchiv Graubünden ist besorgt für die optimale Lagerung und Darbietung, indem es diese erste umfassende Bündner Weinbaugeschichte als 41. Band in seine bewährte Reihe Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte aufnimmt. Für ein erfreuliches und abgerundetes Endprodukt ist aber auch die die treibende und gärende Kraft eines Forschers nötig, der sich des Themas mit Leidenschaft und Sachverstand annimmt.
Martín Camenisch legt ein Buch vor, das sich nicht mit den gängigen Motiven begnügt, die den Bündner Weinbau traditionell umranken – etwa mit dem römischen Ursprung des hiesigen Weins oder dem Burgunderwein als Mitbringsel des Duc de Rohan. Als Historiker interessiert sich der Autor zwar auch dafür, dass solche Topoi den Weindiskurs teilweise über Jahrhunderte geprägt haben, aber seine eigene Quellenarbeit führt ihn näher an den Gegenstand, näher an die gesellschaftlichen Verhältnisse, näher an die Arbeit im und um den Weinberg. Urkunden, Pachtverträge, Tagebücher, Briefe und Beschwerden lassen ein Bild erstehen, das sich vielfältigen Sichtweisen öffnet. Die wirtschaftliche Bedeutung des Weinbaus auf dem Gebiet der Drei Bünde wird dabei ebenso sichtbar wie unterschiedliche gesellschaftliche Aspekte: die Klöster und ihre wichtige Rolle als Weinbaubesitzer; die Rolle der Aristokratie, welcher der Weinbau neben Ökonomie und Liebhaberei auch öffentliche Repräsentation bedeutete; die Veltliner Pächter, die sich unter oft drückenden Verhältnissen der Bewirtschaftung widmeten; schliesslich der schweisstreibende Alltag der Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, dessen Bedingungen immer wieder zäh entlang der herkömmlichen Usanzen neu
ausgehandelt wurden. Auch der jährliche Zyklus und die entsprechenden Arbeiten im Weinberg werden anhand historischer Dokumente ausführlich dargestellt – das Bangen um eine gute Ernte bei Frost ebenso wie die verschiedenen Formen der Kooperation, etwa im Herbst die oftmals gemeinsam benützten Pressen und Torkel. In räumlicher Hinsicht reicht der Forscherblick von der Bündner Herrschaft und weiteren (einstigen) Bündner Weinbaugebieten über die heutigen Kantonsgrenzen hinaus bis ins Veltlin.
Es ist eine reiche Ernte, die Martín Camenisch einfährt und fachmännisch verarbeitet: eine sich über ein Jahrtausend erstreckende Weinbaugeschichte vom Tellotestament bis zum aufklärerisch-rationellen Diskurs der ökonomischen Patrioten. Die Grenze zieht Camenisch an der Schwelle des modernen Weinbaus, der mit maschinellen und chemischen Hilfsmitteln neue Bedingungen schafft. Tatsächlich erfahren aber gerade heute auch alte Landbaumethoden und Traubensorten wieder grössere Aufmerksamkeit. Gutsherren, Rebmeister und Tagelöhner gewährt Geschichtsinteressierten, Laien ebenso wie Fachleuten, sowie Weinliebhabern und Weinliebhaberinnen einen detaillierten Einblick in den ganzen Facettenreichtum des historischen Bündner Weinbaus.
Das Institut für Kulturforschung Graubünden hat das Forschungsprojekt initiiert, ermöglicht und über die Jahre der Entstehung begleitet. Die Fertigstellung des Manuskripts wurde zudem durch ein sorgfältiges Lektorat von Thomas Barfuss befördert. Die Redaktion und Edition des Buches hingegen lag in den Händen des Staatsarchivs Graubünden, insbesondere des QBG-Redaktors Florian Hitz, weshalb nun beide Institutionen gemeinsam als Herausgeber agieren.
Chur, im Juli 2024
Cordula Seger, Leiterin Institut für Kulturforschung Graubünden Reto Weiss, Staatsarchivar
Vorwort des Autors
Merkwürdig und faszinierend zugleich, an welche Ereignisse und Eindrücke aus der Kindheit man sich zu erinnern vermag: Ich beispielsweise bin der Überzeugung, den mit einem Emser Familienfest in Verbindung stehenden Besuch der dortigen Veltlinerhalle noch gut vor mir zu sehen. Als in Laax aufwachsender Knabe hatte ich beim Wortteil Veltliner- vorerst nur vage Assoziationen an etwas Geheimnisvolles. Der Begriff tauchte stets an den weihnächtlichen Familientreffen bei meinen Emser Grosseltern auf. In der Regel wurde damals ein Sforzato ausgeschenkt. Das weckte mein geografisches Interesse und ich begann zu ahnen, dass es sich beim Veltlin um ein Tal handeln musste, das gar nicht so weit entfernt lag und das auf eine mir noch unbekannte Weise eine engere Beziehung zu uns aufwies.
Bezeichnend ist auch, dass ich mich nicht erinnern kann, in meiner Kindheit je etwas von einem Herrschäftler oder von einem Blauburgunder gehört zu haben. Erst allmählich wuchs das Bewusstsein dafür, dass der Weinbau auch im Kanton Graubünden eine eigene Tradition aufwies und immer noch fest verankert war. Natürlich hätte sich dies alles ganz anders abgespielt, wenn ich meine Kindheit beispielsweise in Jenins verbracht hätte. So aber habe ich die kulturelle und wirtschaftliche Vergangenheit des Bündner Rheintals erst genauer kennengelernt, als ich mich, längst zum Historiker ausgebildet, mit meiner Partnerin in Maienfeld niederliess. Sehr bald weckte die dortige Kulturlandschaft mit ihrer harmonischen Mischung aus Siedlungs- und Rebberganteilen, noch konkreter sodann das tägliche Passieren des Pola -Weinguts (unterhalb unseres Wohnortes Rofels) mit seinen alten Gemäuern meine Neugierde. Zufälligerweise war es just zu jener Zeit, dass der damalige Leiter des Instituts für Kulturforschung Graubünden, Dr. Marius Risi, mich anfragte, ob ich interessiert wäre, im Rahmen eines Post-Doc-Projekts am Institut für Kulturforschung Graubünden die Bündner Weinbaugeschichte zu rekonstruieren.
Die vorliegende Publikation ist nun das Produkt all der spannenden Recherchearbeiten, die ich parallel zu meiner Tätigkeit als Dozent an der Päda-
gogischen Hochschule Graubünden über mehrere Jahre unternommen habe. Dass ich einen Grossteil dieser Arbeit in der näheren und weiteren Umgebung meines Wohnorts durchführen durfte, hat mir zweifellos eine bewusstere Wahrnehmung des Themas ermöglicht. Dabei meine Familienangehörigen um mich zu haben und ihnen zuweilen auch erschlossenes Wissen zu Gehör bringen zu dürfen, war eine schöne Erfahrung. Dass wir uns dann später jenseits des Rheins in Ragaz am Fusse des ehemaligen Klosters Pfäfers niedergelassen haben, hat zwar nichts mit der Bündner Weinbaugeschichte zu tun, doch erscheint mir die Tatsache, dass gerade diese Abtei ein Jahrtausend lang in der Bündner Herrschaft als dominante Akteurin aufgetreten war, abermals als interessanter Zufall.
Damit mein Buch schliesslich der Presse zugeführt werden konnte, dazu haben, wie dies durchaus auch bei einem Wein der Fall ist, viele Personen tatkräftig beigetragen. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Nebst meinen Familienangehörigen, die für das langfristige Gedeihen des Gewächses eine Stütze waren, müssen all die hilfsbereiten Personen aus den verschiedensten Archiven und Bibliotheken gewürdigt werden. Die Verantwortlichen des Instituts für Kulturforschung Graubünden, Dr. Marius Risi und seine Nachfolgerin Dr. Cordula Seger, haben mir die passenden Rahmenbedingungen für die Forschung gewährt. Dr. Thomas Barfuss als Lektor des Instituts und Dr. Florian Hitz als Redaktor der Publikationsreihe «Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte» haben das Buch publikationsreif gemacht. Dem Staatsarchiv Graubünden unter der Leitung von Reto Weiss gebührt Dank für die Aufnahme des Werks in die Publikationsreihe des Staatsarchivs, ebenso wie dem Kommissionsverlag Schwabe.
Zuletzt und ganz besonders möchte ich mit Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, anstossen. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und hoffe, dass Ihnen die Lektüre mundet. Viva!
Bad Ragaz, im Juli 2024 Martín Camenisch
Einleitung
Weinbau hat, wenn man die Entwicklung des Bündner Rebareals im Verlaufe der letzten fünf Jahrzehnte verfolgt, einen markanten Aufwärtstrend erfahren. Während nämlich im Jahr 1970 im Bündner Rheintal noch 197 ha bewirtschaftet wurden, belief sich das Rebareal im Jahr 2021 bereits auf bemerkenswerte 421 ha.1 Damit wurde im Bündner Rheintal – wenngleich unter anderen Bedingungen und mit anderen Methoden – wiederum dieselbe Fläche angebaut wie im Jahr 1887, wobei sich das Rebareal im Verlaufe des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu jenem Zeitpunkt bereits markant reduziert hatte.2 Der Anspruch, durch Einstieg in Nischenprodukte den Weinliebhaber:innen eine möglichst breite Vielfalt zu bieten, hat gerade in jüngster Zeit auch zu einer Multiplikation der Versuche mit altbekannten und neuen Traubensorten geführt. Im Jahr 2021 verzeichnete die «Fachstelle Weinbau» für das Bündner Rheintal trotz anhaltender Spitzenreiterposition des Blauburgunders bzw. Pinot Noirs beachtliche 48 Sorten aus einem breiten Spektrum an weissen und roten Trauben. Bei einer solchen Entwicklung fernab eines monokulturellen Mainstreams interessieren sich die Winzer nicht nur für die Einführung alternativer Praktiken, sondern ebenso sehr auch für Eigen- und Besonderheiten der lokalen Kulturgeschichte, aus der womöglich ebenfalls neue Erkenntnisse zu gewinnen sind. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass die einzige Sorte autochthonen Ursprungs, die sogenannte Completer -Rebe, jüngst eine kleine Renaissance
1 F achstelle W einbau G raubünden (2021), S. 1. Nicht einberechnet in diese Zahlen zum Bündner Weinbau sind das Misox (Mesolcina) und nicht in den Rebbaukataster aufgenommene Weinberge wie etwa jene im Domleschg. Dort wurde im Jahr 2019 auf insgesamt 0.62 ha Weinbau betrieben, wobei als höchst zugelassene Fläche / Besitzer ausserhalb des Rebbaukatasters (nicht für den gewerblichen Vertrieb zugelassen) 0.04 ha vorgeschrieben sind. Vgl. Vereinsarchiv Reb- und Weinbauverein Domleschg, Sils i. D. (Weinproduzenten im Domleschg ; 12.08.2019); dazu auch die Ausführungen in Teil IV: Kap. 2.3 . In der Mesolcina waren es im Jahr 1887 130 ha, wobei viele dieser Reben «nicht in Reihen gepflanzt» würden «wie im übrigen Kanton» . Vgl. StAGR C X 4 b 1 Mappe 1887 (22.03.1887). Im Jahr 2021 verzeichnete man in der Mesolcina 32.2 ha. Vgl. b undesamt F ür l and W irtscha F t (BLW), 2021, S. 7.
2 Vgl. dazu die Ausführungen in Teil II: Kap. 2.3
erfahren hat. Aber wo sind, so fragt sich, die eigenen Traditionen zu finden, und wo haben sich Kontinuitätslinien im Bündner Weinbau verwischt? Im Fokus der vorliegenden Recherche steht ein Weinbau, wie er über Jahrhunderte ohne Einwirkung von Prozessen und Methoden betrieben wurde, die von der Industrialisierung angestossen wurden – etwa Motorisierung oder Rebbespritzung durch Chemikalien. Frühformen der Transition hin zu einem auf wissenschaftlicher Basis betriebenen Weinbau können hingegen bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beobachtet werden, während neue Rahmenbedingungen und ein damit einhergehender eigentlicher Strukturwandel gerade und insbesondere für Graubünden erst in der Wende zum 20. Jahrhundert festzustellen sind. Im Hinblick auf diese sich ab dem späten 18. Jahrhundert einstellende Zäsur in der Bündner Weinbaugeschichte (und im Bewusstsein um die Problematik einer jeglichen Periodisierungsbestrebung) erscheint es sinnvoll, ein gewisses Davor und Danach anzusetzen. Dabei steht insbesondere die lange erste Phase im Zentrum des Interesses. Gerade diese sich über Jahrhunderte hinziehende Zeitspanne des historischen Weinbaus, dominiert von verschiedensten kirchlichen und weltlichen Urhebern und betrieben von einer grossen Anzahl angeworbener Pächter:innen, Tagelöhner:innen und anderer Arbeitskräfte, erscheint in der bisherigen Bündner Geschichtsschreibung über weite Strecken noch diffus und wenig greifbar. Welche Spuren und Quellen aber, so fragt sich zunächst einmal, ermöglichen überhaupt eine Rekonstruktion der Wirkungs- und Tätigkeitskreise eines Churer Bischofs, eines Klosters wie desjenigen von Pfäfers, einer Churer Ratsherrenfamile wie derjenigen der Tscharner oder etwa auch eines der zahlreichen Salis-Zweige mit ihrer besonders intensiven Einbindung in den Weinbau dies- und jenseits des Bündner Alpenkamms? Mit wem und über welche Räume hinweg verkehrten solche Akteure, wer arbeitete für sie, und wo setzten diese Gutsherren ihren Wein ab? Relativ schnell wird erahnbar, dass für die Beantwortung einer solchen mehrteiligen Fragestellung nicht nur das heutige Graubünden, sondern ebenso sehr die für den Weinbau besonders bekannten ehemaligen Bündner Untertanenlande Valchiavenna und Valtellina
Abbildung 1: Eine Projektskizze als Zeichen eines markanten Strukturwandels: Die auf 1891 datierte Karte mit dem «Project für die Lürlibadstrasse. Unterthor bis Waldhaus» entstand im Kontext der Errichtung der «Irrenanstalt» Waldhaus. Sie führte quer durch eines der traditionell grössten, nunmehr aber von der markantesten Reduktion gezeichneten Rebberggebiete Graubündens. Viele der 13 in der Karte eingezeichneten Torkel wie etwa der «Spital T.» am Standort des 1912 eröffneten Kreuzspitals sollten in diesem Kontext verschwinden. Quelle: SAC E 0844.002.
von Interesse sind. Die vorliegende Untersuchung umfasst aus den genannten Gründen im Wesentlichen die Zeitspanne vom frühmittelalterlichen Churrätien bis hin zu den Anfängen des modernen Kantons Graubünden, wagt je nach Akteur und Quellenlage aber auch einen Blick in das 19. und 20. Jahrhundert. Damit soll die Untersuchung auch anschlussfähig sein an eine in gewissen Ansätzen initiierte, jedoch noch ausbaubedürftige Geschichte des Bündner Weinbaus im Danach . Um gerade diesem Anspruch einer Anschlussfähigkeit gerecht zu werden, gilt es die mutmassliche Zäsur ab Ende des 18. Jahrhunderts (ökonomischer Patriotismus ) genauer zu untersuchen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche der den Weinbau bis dahin prägenden Gutsherren
sich auch am neueren Weinbaudiskurs beteiligten. Mit dem entsprechenden Prozess verband sich in Graubünden nicht zufällig auch erstmals eine wissenschaftliche Erforschung der damals vorfindlichen Weinbausituation. Sie brachte verschiedenste Aufsätze hervor, die in beträchtlicher Zahl und auf verschiedensten Wegen publiziert wurden, wobei stets das Bestreben erkennbar bleibt, durch gezielte Beobachtung eine Modernisierung von Landwirtschaft und Ökonomie herbeizuführen. Zu erwähnen ist hier etwa die 1780 im Kontext der gegründeten Gesellschaft Landwirthschaftlicher Freunde publizierte Abhandlung über den Weinbau in Graubünden aus der Feder des Podestà Christian Hartmann Marin (1744–1814). Die Schriften dieser sogenannten ökonomischen Patrioten 3 sind innerhalb der Geschichte des Weinbaus in Graubünden und aus diskurs- und ideengeschichtlicher Perspektive als eigentliches Neuland zu betrachten und von ganz besonderem Interesse. Damit ist indirekt auch bereits die Frage nach dem Forschungsstand angeschnitten. Aufsätze etwa wie Der Weinbau im Kanton Graubünden (1857/58) von Friedrich Wassali (1820–
3 Der Begriff wurde später von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) geprägt, wobei Dolf (1945) auch einen aristokratischen Patriotismus als oftmals deckungsgleich erachtet. Vgl. dazu d ol F (1945), S. 1, 9.
1882) können als in der Nachfolge obenerwähnter Traktate stehend eingeordnet werden. Mit Jakob Papons (1827–1860) Der Weinbau des bündnerischen Rheinthales nach seinen Verhältnissen zu Klima, Cultur und Handel (1850) stösst man demgegenüber auf die erste Monographie zum Bündner Weinbau. Immer mehr, so zeigt sich, interessieren sich die Autoren auch für eine historische Komponente der Thematik. Als quellenbasierte Untersuchungen zur Bündner Weinbaugeschichte jedoch können solche Publikationen natürlich nicht betrachtet werden. Sofern nämlich geschichtliche Aspekte überhaupt darin aufgegriffen werden (das Hauptaugenmerk gilt im Wesentlichen der Beschreibung des damaligen Zustandes), unterlassen es die jeweiligen Autoren, dazu passende Quellenbelege zu liefern. So muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass eine eigentliche Erforschung der Bündner Weinbaugeschichte nicht nur für die Zeit bis zum 19. Jahrhundert weitgehend fehlt, sondern auch darüber hinaus nur spärlich vorhanden ist.
Wirft man einen Blick auf die etwas neuere Literatur, die sich in einem grösseren Kontext mit der Geschichte des Weinbaus in Graubünden befasst, ist immer noch auf Durnwalders Monografie (Der Weinbau des Bündner Rheintales ) zu verweisen, deren Erstausgabe (1940) vier Jahrzehnte später (1983) etwas überarbeitet und mit
neuen Zahlenwerten aufgelegt wurde. Durnwalder ist für das 20. Jahrhundert denn auch der einzige Autor, der sich in einem grösseren Ausmass mit dem Weinbau in Graubünden befasste.4 Von historischer Relevanz sind bei ihm in erster Linie die minutiös kalkulierten Ernteübersichten (Anfang 20. Jh. bis 1981) und die Flächenveränderungen der Rebareale im Bündner Rheintal (1804 bis 1981). Zu erwähnen ist im Weiteren noch eine (allerdings sehr kurze) Auflistung bedeutender Bündner Pioniere des Weinbaus.5 Für die historische Entwicklungsgeschichte muss sich der Leser nebst dem Vergleich der erwähnten Zahlenwerte
4 Der Geograf richtete sein Augenmerk in erster Linie auf physikalisch-naturwissenschaftliche Kriterien und Messwerte, welche für den Rebbau entscheidend waren. Dies betraf die Bodenbeschaffenheit, das Klima – vgl. hierzu auch P F ister (1981, 1984) – und den Vergleich von Reblagen. Im Weiteren konzentrierte er sich auf biologische Aspekte zu den Traubensorten und auf sämtliche Prozesse im Weinbau bzw. der Weinproduktion.
5 d urn W alder (1983), S. 180 f. Als ältester Vertreter wird Johann Georg Amstein d. Ä. (1744–1794) genannt, wobei die ihm zugeschriebenen Verdienste (Förderer der Ökonomischen Gesellschaft Graubünden sowie die angefertigten Skizzen zu den Rebbergen in den Vier Dörfern) nachweislich seinem Sohn Johann Georg Amstein (1778–1818) bzw. seinem Enkel Johann Georg Amstein (1819–1892) zukommen. Aufgelistet werden sodann als älteste Vertreter Johann Coaz (1822–1918), Jakob Papon (1827–1860) und Friedrich Wassali (1820–1882).
mit einem knappen historischen Abriss begnügen, der im Übrigen erst bei der Gründung des Weinbauvereins Bündner Herrschaft und Umgebung im Jahr 1904 ansetzt.6 Gleichwohl hat Durnwalder an bestimmten Stellen Einblick in die Literatur zur Weinbaugeschichte genommen (etwa in seinen Ausführungen zu verschiedenen «tierische[n] Schädlinge[n]» , wozu auch die Reblaus zu zählen ist), jedoch stützen sich die Angaben in der Regel auf überregionale Literatur. Nebst Durnwalder sind im Verlaufe der letzten Jahrzehnte verschiedene Artikel oder kürzere Arbeiten erschienen, die entweder einen summarischen Überblick über die Weinbaugeschichte zu geben trachten oder aber spezielle Gebiete in sehr kurzer Form vorstellen.7 Die jüngst erschienene Publikation mit dem Titel Stein und Wein. Entdeckungsreisen durch die schweizerischen Rebbaugebiete (2018) befasst sich auch mit den Bündner Weinbergen, fokussiert jedoch statt auf geschichtliche vielmehr auf topografische und wirtschaftliche Aspekte, wobei insbesondere auch die Bedeutung des «Terroirs» im Zentrum des Interesses steht.
Explizit zu unterstreichen ist die überaus spärliche Aufarbeitung der Weinbaugeschichte in den Bündner Südtälern.8 Etwas besser ist demgegenüber die Weinbaugeschichte der ehemaligen Untertanengebiete aufgearbeitet. Zu erwähnen ist hier insbesondere Diego Zoia mit seiner 2004 erschienenen Monografie Vite e vino in Valtellina e Valchiavenna. La risorsa di una valle alpina .9 Als weitere Publikation mit Bezug zum Weinbau im Veltlin ist Guglielmo Scaramellinis Dissertation mit dem Titel Una valle alpina nell’età pre-industriale.
6 d urn W alder (1983), S. 182 f.
7 Vgl. etwa zum Domleschg c onrad (1988) und K üntzel (2007), zum Heinzenberg c amenisch - s ciamanna (2016–2017) und P att / P irovino (2016–2017), zu Domat / Ems J ör G (1989), zu Felsberg s chmid -J uon (1973), zu Chur m etz (1974, 1977), h atz (1993), h atz (2018) und s ei F ert (2023), zu Malans h itz (1971) und s chmid -J uon (1973), zu Jenins b antli (1998), zu Maienfeld r iedhauser (1973) und m öhr - t anner (1978), zur Bündner Herrschaft K ocherhans (1999), zum mittelalterlichen Churrätien G abathuler (2010), zu Graubünden n ae F (1982 [1975]), r u FFner (1984), e ssi G (1999) sowie h auser P ult (2015).
8 Vgl. zur Mesolcina b ertossa (1984), s uccetti (1991), F errari et al. (2006) und a m arca (2007), zu Brusio G iovanoli / h emmi (1999), zu den Südtälern im Allgemeinen b ornatico (1985).
9 Leider werden hier oftmals Quellenhinweise vermisst, sodass sich der Leser höchstens mit einer auf zwei CDs beigelegten Dokumentation bzw. Sammlung von Scans zu verschiedenen Quellen («Documenti» ) begnügen muss. Darin sind aber keine konkreten Verweise zu den Aussagen im Buch zu finden.
La Valtellina fra il XVIII e il XIX secolo zu nennen. Die 1978 erschienene Monografie mit historischgeografischem Bezug ist vor allem im Hinblick auf raumbezogene Prozesse und Diskurse in den ehemaligen Untertanenlanden von Interesse. Im Weiteren sei auch auf das von den beiden letzterwähnten Autoren in Kooperation erschienene zweibändige Standardwerk mit dem Titel Economia e Società in Valtellina e contadi nell’Età moderna (2006) verwiesen. Zwar wird der Aspekt der Organisationssysteme mit Bündner Bezug auch darin eher spärlich abgehandelt, dennoch integriert das Werk gewissermassen als Synthese der obenerwähnten Monografien sowohl Aspekte des Weinbaualltags als auch typische Fragen der Raumlehre, die sich im Hinblick auf den Nord-SüdFokus als interessant erweisen. Dies gilt auch für Scaramellinis Aufsatz Coltura della vite, produzione e commercio del vino in Valtellina (secoli IX–XVIII). Rilievo economico, influenza sulla società, costruzione del paesaggio (2014). Erwähnenswert durch ihren Bezug zur Valchiavenna sind im Weiteren die beiden Aufsätze von Gadola: La viticoltura in Valchiavenna nei secoli XI–XIV (2013) und I luoghi delle viti in Valchiavenna e la loro presenza nei documenti (2014). Zuletzt hat Bonetti mit seinem Sammelwerk I luoghi del vino di Valtellina (2019) eine umfassende Übersicht geliefert, welche jedoch aus historischer Sicht keine wesentlichen Neuerkenntnisse liefert; von Bedeutung ist sie hingegen wegen ihres interdisziplinären Ansatzes.
Bei einer kultur- und damit verbunden auch sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchung des Bündner Weinbaus, wie sie hier angestrebt wird, richtet sich das Augenmerk auf die damit verbundenen Protagonisten, ihre in den Quellen vorfindlichen Ideen, Verrichtungen, Beobachtungen und ebenso auf ihre Beurteilungen. Damit verbunden rückt der Weinberg als kulturelles, ökonomisches, aber auch als machtpolitisches und in diesem Zusammenhang zugleich prestigeträchtiges Gut in den Fokus. Um solchen Sachverhalten auf den Grund zu gehen, ist es nötig, den Blick auf Unterschiede in den Verträgen, Pachtverträgen und Livelli (in den Untertanenlanden) zu lenken und nach den Spuren des Weinbaus in Urbaren, Testamenten, Erbteilungen oder weiteren Verzeichnissen zu suchen. Neben der Untersuchung von Korrespondenzen zwischen den Gutsherren und ihren Verwaltern sind dabei auch spezifisch für den Weinbau geführte Tage- und Rechnungsbücher von besonderem Interesse. Von Relevanz
sind folglich nicht ausschliesslich Zahlen zu Ernteergebnissen, sondern darüber hinaus sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge, weshalb der Erforschung der inner- und ausserfamiliären Beziehungen eine besondere Rolle zukommen muss. In diesem Zusammenhang interessiert vor allem die Auseinandersetzung mit ausgewählten Persönlichkeiten und deren Umfeld. So gut sich nun aber das Untersuchungsfeld auf das Schlagwort Weinbaugeschichte bringen lässt, so mannigfaltig setzt sich demgegenüber der Quellenbestand zusammen. Die Palette beginnt bei pompösen Erbteilungsbüchern wie etwa jenem des Envoyé Peter von Salis-Soglio (1675–1749),10 führt über alltagsbezogene Rechnungsbücher wie etwa das ab dem Jahr 1755 geführte Wingertbuch der Familie Gugelberg von Moos im Schloss Salenegg11 und reicht bis hin zu Schriften und Traktaten, die sich bewusst mit der Qualität und der Verbesserung des Weinbaus befassen. Zu letztgenannter Gruppe ist beispielsweise Johann Baptista von Tscharners (1751–1835) ab 1791 geführtes «Urbarium» 12 zu zählen. Die hohe Heterogenität des Quellenmaterials, welches je nach Teilgebiet auch sehr zahlreich vorhanden ist, zwingt selbstredend an manchen Stellen zu einer Untersuchung, die weit eher nach qualitativen als nach quantitativen Gesichtspunkten ausgerichtet ist. Zudem spielt die Frage der Quellenprovenienz durchwegs eine zentrale Rolle. Statt nämlich ausschliesslich in der Breite Aussagen über Arbeitsbedingungen herauszuschälen und diese als allgemeingültig zu (v)erklären, betrachtet man entsprechende Quellen besser im Kontext der exemplarisch untersuchten weltlichen und kirchlichen Gutsherren; sie erweisen sich dann als weit aufschlussreicher. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Heterogenität der Quellen es verunmöglicht, Vollständigkeit in der Aufarbeitung der Bündner Weinbaugeschichte anzustreben; vielmehr ist der Fokus, wie der Titel es andeutet, auf exemplarische Organisationssysteme, Diskurse und Fördermassnahmen zu richten. Dabei erweisen sich gerade auch Quellen rechtlicher Natur, zu denen unter anderem die zahlreichen Kaufurkunden zu zählen sind, aus quellenkritischer Perspektive als besonders interessant. Von diesen existieren unzählige Varianten,
10 StAGR D VI BS 255. Vgl. dazu auch Teil IV: Kap. 5, Anm. 51
11 SchASM C.XLII.
12 StAGR D V/3.108.
sodass je nach Provenienz ganz unterschiedliche Einsichten über die darin verhandelten Orte, Personen und Güter bzw. deren Wert gewonnen werden können. Es wäre in der Theorie ein durchaus interessanter Ansatz, solche Rechtsquellen mit ihrem räumlichen Bezug für die möglichst umfassende Rekonstruktion ehemaliger Weinbaugebiete heranzuziehen. Dass dieser Wunsch aber über weite Strecken Utopie bleiben muss, macht allein schon der Umstand deutlich, dass die räumlichen Angaben innerhalb solcher Quellen oftmals zu unpräzis sind, um die verschiedenen Güter aus verschiedenen Verträgen nach Art eines Puzzles aufeinander abzustimmen. So müssen Fragen betreffend Kontinuität im Weinanbau oder nach den jeweiligen Besitzern nicht selten unbeantwortet bleiben. Wertvolle Erkenntnisse zu den untersuchten Gutsherren(-dynastien) können aber nicht nur durch den Einbezug von solchen Kaufverträgen, sondern insbesondere auch anhand von Arbeitsverträgen und überlieferten Korrespondenzen mit den angestellten Gutsverwaltern gewonnen werden.
Ein möglicher weiterer Ansatz zur Rekonstruktion ehemaliger Reblagen wäre zudem eine umfassende Analyse der Toponomastik. Zwar werden in der vorliegenden Untersuchung wiederholt Reblagen auch wegen ihres weinbaubezogenen Flurnamens diskutiert; eine planmässige Recherche in diesem Bereich würde aber ein separates Projekt erfordern. Ohnehin muss in einem solchen Kontext bekanntlich immer darauf geachtet werden, etymologische Hinweise auf Rebbau nicht zu missdeuten. Schliesslich ist insbesondere noch an die spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Gespräche und Diskurse über einen richtigen oder falschen, einen zukunftsträchtigen oder überholten, einen gewinnbringenden oder vermeintlich profitlosen Weinbau zu erinnern, welche von weltlichen und kirchlichen Gutsherren geführt wurden. Um diese Diskurse zu verstehen, ist es nötig, die mit dem Alltag verbundenen Veränderungen und Kontinuitäten, die sich auf den verschiedenen Feldern aus ökonomischer, kultureller oder auch wissenschaftlicher Perspektive in der Bündner Weinbaugeschichte ergeben haben, näher zu beleuchten.
Während die einleitenden Teile I und II eine allgemeine Orientierung zu immer wieder auftretenden Erzählmustern (Topoi ) und zu anbauspezifischen, rechtshistorischen und kulturhistorischen Konstanten der Bündner Weinbaugeschichte liefern, besprechen die Teile III und IV exemplarisch
verschiedene geistliche und weltliche Gutsherren im Kontext des historischen Weinbaus. Zur erstgenannten Kategorie gehören in erster Linie der Churer Bischof und das Domkapitel sowie die zahlreichen Klöster, wobei das Kloster Pfäfers mit seiner beinahe 1000-jährigen Weinbaugeschichte, die bis zur Auflösung 1838 einen intensiven Bezug zum Bündner Rheintal aufwies, eine vertiefte Untersuchung erfährt. Bei den weltlichen Gutsherren sei als Beispiel an die oben erwähnte Churer Ratsfamilie der Tscharner erinnert, deren Besitz sich insbesondere auf Chur und die Bündner Herrschaft konzentrierte. Derweil soll der Blick auf verschiedenste Vertreter des Familienverbandes von Salis mit ihrem teilweise exzessiven Güterbesitz
dies- und jenseits der Bündner Alpen am Beispiel des Wein(-bau)s aufzeigen, wie der transalpine Güter- und Warenhandel betrieben wurde. Die Untersuchung der Gespräche über den Weinbau (Teil V ) beleuchtet in einem weiteren Schritt die von den Eliten diskutierten ideen- und kulturgeschichtlichen Fragen auf der Schwelle zur Geburt des modernen Staatswesens. In einem abschliessenden Rückblick – Ausblick mit Fokus auf dem 19. und 20. Jahrhundert soll dann summarisch anhand verschiedener Beispiele gezeigt werden, inwiefern die in solchen Diskursen vorgetragenen Vorschläge tatsächlich realisiert wurden und welche Themenfelder für weitere Untersuchungen von Interesse sein könnten.
Teil I
Fünf Topoi zur Bündner Weinbaugeschichte
In der Geschichtsschreibung zum Bündner Weinbau sind einige Topoi auszumachen, die sich durchgehend auf die Zeit vor dem 18. Jahrhundert beziehen. Bedeutsam sind solche Kollektivbilder insbesondere wegen der Zählebigkeit, mit der sie in der Erinnerungskultur des Bezugsraumes gepflegt
1. Weinbau seit der Römerzeit
Waren die Römer tatsächlich die Importeure des Weinbaus im nördlichen Alpengebiet? Die Frage drängt sich insofern auf, als gerade im jüngeren Wissenschaftsdiskurs die These eines vorrömischen Weinbaus wiederholt Beachtung erhalten hat. Für den Raum Graubünden verweist Hauser Pult (2015) als potenzielles Projekt zu diesem Thema auf die noch ausstehende Untersuchung einer bestehenden Kernprobe der ETH Zürich aus dem Canovasee im Domleschg.1 Durch eine solche Erforschung der «sedimentologisch und klimatologisch bereits ausgewerteten Bohrkerne» könnten Erkenntnisse gewonnen werden zu den Weinbauverhältnissen in römischer und insbesondere vörrömischer Zeit. Im Beschrieb des möglichen Projekts, das insbesondere die Zeit ab 800 v. Chr. (vorrömische Eisenzeit) ins Visier nehmen sollte, wird darauf hingewiesen, dass sich ab diesem Zeitraum in den benachbarten Ländern Österreich (Tirol), Italien (Südtirol), ebenso aber auch im Wallis die «Anzeichen für einen lokalen Weinanbau» jüngst gemehrt hätten, sodass auch für Graubünden entsprechende Spuren dieses Landwirtschaftszweigs vermutet werden könnten. Tatsächlich verweist etwa auch Dubuis in seinem Beitrag zu «Ursprung, Verbreitung und Entwicklung des Weinbaus im Wallis (600 vor Chr.–1600 nach Chr.)» auf eine plötzliche Zunahme der «Zahl der Pollen von Weinpflanzen» zwischen 800 bis 600 v. Chr. in den «Sedimenten des MontorgeSees bei Sitten» .2 Aufgrund der verschiedenen Funde wird die Hypothese aufgestellt, wonach «der erste Walliser Weinbau […] von der Gola-
1 h auser P ult (2015).
2 d ubuis (2010), S. 23–24.
werden. Die folgenden fünf Topoi haben sich in der Überlieferung der Bündner Weinbaugeschichte besonders hartnäckig gehalten, so dass man sie gewissermassen als perpetuierte Orientierungspunkte oder Eckdaten innerhalb des Bündner Weingeschichtsdiskurses betrachten könnte.
secca-Kultur Norditaliens und des Tessins beeinflusst worden sein» müsse. Dies dürfte als Hinweis gelten auf einen vermehrten transalpinen Austausch zwischen den griechisch-etruskischen Städten und den keltischen Siedlungsgebieten im Norden. Die Ursprünge dieses «Phänomen[s]» seien, so lassen sich Dubuis’ verschiedene Studien zusammenfassen, bereits in der älteren Eisenzeit zu suchen, «lange bevor sich Rom für die Alpen interessierte» . Ob nun aber die archäologisch gesicherten Trinkbecher, welche genau aus dieser vorrömischen Zeit stammen, Beweis für die Existenz eines Weinbaus seien oder eher in Zusammenhang mit importiertem Wein zu sehen wären, könne vorerst nicht beantwortet werden. Jedenfalls wird nachgewiesen, «dass im Wallis bereits lange vor der römischen Zeit gewisse Gesellschaftsschichten Wein als Getränk schätzten, gleich wie im Tessin und in Norditalien» . Natürlich ist man an dieser Stelle versucht, Graubünden zu dieser hypothetischen Liste hinzuzufügen.3 Mit der erwähnten Pollenanalyse aus dem Canovasee könnten zweifellos belastbarere Aussagen zum Südostschweizer Raum gewonnen werden. So könnte es womöglich tatsächlich gelingen, einen Beitrag zur Kenntnis der Anfänge zu leisten, «um die lange und weitgehend unbekannte Geschichte des Weinbaus in Graubünden überhaupt erst verstehen und adäquat darstellen zu können» . Vorerst aber liegt das entsprechende Projekt
3 Vgl. zur Verbreitung der «vasi a trottola» , einem typischen Weinbehälter nördlich des Po, welcher insbesondere auch im Misox und nördlich des Bündner Alpenkamms in Surcasti (Val Lumnezia) und in Cazis gefunden wurde: h auser P ult (2015); m üller / l üscher (2004), S. 114.
in der Schublade, sodass an dieser Stelle nicht weiter spekuliert werden kann über diese Hypothese. Der Bezug zur Römerzeit hingegen muss hier insofern thematisiert werden, als er in der Überlieferung einen besonders langlebigen und interessanten Topos darstellt. Nicht zuletzt wird dies bereits am Zitat erkennbar, welches der römische Dichter Sueton (ca. 70–122 n. Chr.) in seinem Buch Svetoni Tranquilli XII Caesares dem wohl bekanntesten römischen Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) in den Mund legte: «Et maxime delectatus est Raetico neque inerdin bibit.» / «Am liebsten trank er rhätischen Wein.» 4 Damit hat er dessen Liebesbekenntnis zum rätischen Wein gewissermassen verewigt. Um welche Traube es sich dabei genau handelte und zu welchem Weinbaugebiet sie im engeren Sinne zählen sollte, darüber schwieg sich der römische Lyriker allerdings aus. Im Zeitalter des Humanismus war es der Engadiner Reformator Ulrich Campell (1510–1582), der in seiner Raetiae Alpestris topographica descriptio (1573) des Kaisers Vorliebe für den «Rätierwein» («Rhetico nostro» ), allerdings noch in Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Bündner Untertanengebiet Veltlin, explizit erwähnte.5 Und spätestens im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, als die Kulturgeschichte des Bündner Weinbaus ins Zentrum des Interesses rückte, wurde die Passage dankbar aufgegriffen als sicherer Beleg dafür, dass die Räter Weinbau betrieben hätten. Ein Blick in die ab dieser Zeit erschienenen Publikationen macht deutlich, dass diese Erzähltradition immer vorbehaltloser übernommen wurde. Die Frage, ob die Räter tatsächlich im Bündner Rheintal ansässig waren oder ob deren Hauptgebiet nicht höchstens im Nordosten Graubündens (Unterengadin) und in der Hauptsache in den östlich davon liegenden Gebieten zu finden war, blieb in solchen Traktaten sekundär. Ohnehin liefert Suetons Passage keinen Hinweis darauf, ob mit dem «rätischen Wein» das Produkt gemeint war, das in den Breitengraden dieses Volkes gewonnen wurde, oder ob es nicht doch eher von dort herkam, wo sich die römische Provinz mit demselben Namen befand. Noch in einer der jüngst erschienenen Publikationen (Wein aus
4 s ueton (2013), S. 749–750. 5 c am P ell (2021 [1573]), S. 750–751. Der Molliser Heinrich Glarean (1488–1563) hatte sich in seiner Descriptio Helvetiae (1519) noch mit der schlichten Angabe begnügt, wonach der Weinbau in Rätien bereits in spätrömischer Zeit verbreitet gewesen sei. Vgl. dazu G larean , Verse 17–20.
Graubünden. Beiderseits der Alpen. Eine Kulturgeschichte ) schreibt Küng (2015), indem er sich auf Ulrich Im Hofs Geschichte der Schweiz und der Schweizer (1982) stützte: «Zweifellos brachten römische Legionäre und Amtsträger die ‹Vitis aminea, Vitis helvola und Vitis apina› nach Graubünden und fanden die besten Lagen für den Anbau.» Als Beweis für seine Behauptungen lässt der Autor einerseits den Topos von den römischen Imperatoren folgen, die angeblich den rätischen Wein verehrten (erwähnt werden in Anlehnung an Hornickels Die Weine der Alpen aus dem Jahr 19806 Cäsar, Augustus «und zahlreiche spätere Imperatoren» ), und integrierte andererseits eine Tabelle mit Begriffen aus dem Weinbaujargon, deren etymologische Wurzel auf das Lateinische zurückgeht.7 Aufgezählt werden dabei etwa «Fass (vas), Keller (cellarium), Kelter (calcatorium), Küfer (cuparius), Lägel (lugena), Mauer (murus), Pflanze (planta), Saft (sapa), Torkel (torculum), Trichter (traiectarius) oder Wimmlet (vindemiare)» . Diese Beispiele sind zwar durchaus interessant, sie können jedoch in keiner Art und Weise als absoluter Beweis für die Einführung des Weinbaus durch die Römer dienen. Es darf und kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass dasjenige, was Bolli-Reich in seinem Beitrag mit dem Titel Der Obstanbau in Graubünden im Einfluss verschiedener Zeitzeichen (2010) anführt, auch für die kulturelle Bewirtschaftung der Weintraube galt (wenngleich die Situation beim Apfel als Paradebeispiel seiner Ausführungen zugegebenermassen klarer erscheint): Der Autor vertritt nämlich die Überzeugung, dass «bereits vor unserer Zeitrechnung eine verwendbare Urform des Apfels vorhanden gewesen sein» müsse. Jedenfalls sei es «denn auch diese Obstart» gewesen, «die sich nach wie vor nördlich der Alpen des quantitativen Vorranges erfreute» . So führt Bolli-Reich im Weiteren als «Beleg» für den vorrömischen «Bestand» des Apfels dessen «Bezeichnung» auf: «Apfel» , so der Autor, sei «hier fest verbürgt» gewesen und habe sich «nicht durch das ‹malum› der Römer verdrängen» lassen. Ganz im Gegensatz dazu seien «die Einheimischen in der Benennung der weiteren Obstsorten» (und damit verbunden wohl auch bei der Weintraube) der «Sprache der Okkupanden» gefolgt. Aufgeführt werden bei Bolli-Reich unter anderem «pirum» , aus dem
6 h ornic K el (1980), S. 19. 7 K ün G (2015), S. 7 ff.