Ich denke oft an seine Arbeiten. Ich finde sie so treffend und fein empfunden. Er ist noch ganz vom alten Schlag, so wie Brion.»
«Lebt Anker noch?Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, 11. April 1883
Ich denke oft an seine Arbeiten. Ich finde sie so treffend und fein empfunden. Er ist noch ganz vom alten Schlag, so wie Brion.»
«Lebt Anker noch?Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, 11. April 1883
1831 – 1910
Diesem Buch geht der Essayfilm Albert Anker. Malstunden bei Raffael * voraus. Doch ist «Lebt Anker noch?» kein Buch zum Film. Es nutzt zwar Themen und Materialien, die bei den Recherchen zum Film entdeckt und zugänglich wurden, nähert sich Albert Anker jedoch in eigenständiger Weise.
Mit dem Film ist das Buch allerdings durch die Absicht verbunden, Wege zu Anker abseits der Hauptstrassen der Vermittlung zugänglich zu machen. Deshalb fehlen manche allbekannten Bilder, die Albert Ankers Popularität als «Nationalmaler» begründet haben.
Immer wieder richtet sich der Blick auf das vordergründig Unscheinbare wie Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen, die das Ankerbild über das Vertraute und gelegentlich Genrehafte hinaus erweitern und gängige Klischees ausser Kraft setzen.
Das Atelier in Ankers Haus im Seeländer Dorf Ins ist ein noch weitgehend unentdeckter Kunstkontinent und eines der wenigen vollständig erhaltenen Künstlerateliers des 19. Jahrhunderts. Mit der Erkundung dieser raumgewordenen AnkerEnzyklopädie beginnt das Buch, mit der Schau und Lesereise durch Ankers Notizbüchlein («Carnets»), die den Blick auf den Maler noch einmal erweitert, enden die Wege zu Albert Anker.
Unterwegs kommt Albert Anker ausführlich selber zu Wort. Aus seinen Briefen erfahren wir eindringlich, wie weit der Horizont dieses Künstlers war, wenn er sich schreibend mit den eigenen Angelegenheiten auseinandersetzte und dem gelegentlichen Überhandnehmen von Verdüsterungen, Selbstzweifeln, Gedanken an Vergänglichkeit und Tod immer wieder mit feinem Humor und Selbstironie den Stachel zog.
*Mit QR Code im Anhang des Buches verfügbar
Eine Skizze Albert Ankers in Worten, denen der Maler wohl zugestimmt hätte, stammt vom Schweizer Dichter Gerhard Meier: «Was im Dorf geschieht, geschieht in der Welt, und was in der Welt geschieht, geschieht im Dorf. Im Prinzip. Einzig das Ausmass ist nicht ganz dasselbe. Darum bin ich überzeugter Provinzler, und ich glaube, dass man nur Weltbürger wird über den Provinzler. Man muss den Dienstweg einhalten: erst Provinzler, dann Weltbürger.»*
Wir wissen gemäss heutigem Stand der Auswertung von Albert Ankers Briefen nicht, welche Bilder des Inser Malers Vincent van Gogh vor Augen hatte, als er im April 1883 seinem Bruder Theo von den «treffend und fein empfundenen Arbeiten» Ankers berichtete, der für ihn «noch ganz vom alten Schlag» war. Ebenso wenig wissen wir, ob Anker in seinen 34 Pariser Winterhalbjahren je ein Bild van Goghs gesehen hat.
Van Gogh verglich Anker mit dem damals angesehenen französischen Genremaler Gustave Brion (1824–1877), der vor allem als Landschaftsmaler, Schilderer ländlichen Lebens sowie als Illustrator von Werken Victor Hugos (z.B. Les Misérables) hervorgetreten war.
Im Januar 1873 zählte van Gogh seinem Bruder Theo in einem Brief Künstler auf, die er «sehr gern mochte». Ausser Anker, Boudin und JeanFrançois Millet findet sich in der Liste kaum ein Maler, Brion eingeschlossen, der heute noch einem breiteren Publikum bekannt wäre.
Nachweislich versandte Vincent van Gogh im selben Jahr vier Fotografien aus einer Kartenserie des Kunsthändlers, Verlegers, Galeristen und Publizisten Adolphe Goupil. Darunter befand sich auch Ankers
Die Taufe (1864). Van Gogh am 31. Oktober: «Die Taufe ist von Anker, einem Schweizer, der alle Arten von Sujets gemalt hat – alle gleich einfühlsam und intim.»
Zu Vincent van Goghs eigenen Werken von 1883 zählen Baum, vom Wind gepeitscht, Moorlandschaft, Tulpenfelder, Dünenlandschaft bei Den Haag, Kartoffelernte, Bauernhäuser, zwei Bäuerinnen beim Torfstechen, Heide mit Schubkarren, Die Holzauktion.
Van Gogh war damals erst zwanzig Jahre alt und ein Künstler im Aufbruch. Anker hingegen war zu jener Zeit in den frühen Fünfzigern und hatte seine «Handschrift» und Themen längst gefunden.
In einer Ausstellung (Salon des Beaux Arts) sah van Gogh inmitten von «all diesen französischen Bildern über die Tage der Revolution» auch Ankers Die Länderkinder (1876). Die im Salon versammelten Gemälde vermittelten ihm «etwas vom Geist des Wiedererstehens und des Lebens, etwas, das leben wird, auch wenn es tot scheint, aber es ist nicht tot, sondern schläft». Ein Satz, der durchaus nach Anker klingt. Wo hätte Anker eines der letzten Bilder Vincent van Goghs vom Juli 1890 sehen können? Der Garten von Daubigny, Weizenfeld mit Raben, Feld mit Korngarben vielleicht?
Und welche Episoden aus van Goghs Leben waren bis zu Anker gedrungen, als er nach einem Schlaganfall im Jahr 1901 begann, sich «lebenssatt» das Ende des eigenen Lebens herbeizusehnen? Unvollendet geblieben ist das Bild (Die Konfirmandinnen von Müntschemier), an dem Anker bis kurz vor dem Unglück gearbeitet hatte.
Im Brief vom 17. Mai 1899 an Philippe Godet brachte Anker auf den Punkt, was für ihn bei der Menschendarstellung zeitlebens Richtschnur war: «das psychologische Interesse.»
Wie wäre Vincent van Goghs Antwort ausgefallen, hätte Albert Anker den Brief an ihn gerichtet? Auch das bleibt Geheimnis.
Heinz BütlerSie betonen eine Sache, welche ich, soweit ich es vermochte, immer im Auge hatte: das psychologische Interesse, sehr wahrscheinlich ein altes Überbleibsel meiner Theologie. Immer schien es mir, dass ein Bild ohne dieses Interesse allen Lichtes entbehrt. Gewiss, das ist überlegtes Zeug. Heute weiss man, dass die Malerei ohne Krücken gehen kann. Und doch: der Mensch interessiert sich für den Menschen, er wird immer das hervorragendste Modell sein. Die Landschaft ist eine moderne Errungenschaft, nie wurden Farbtöne und Licht so intensiv studiert wie heutzutage – einige Wenige ausgenommen: Claude Lorrain, Cuyp etc.
Doch die Landschaft hat ihre Existenzberechtigung in der modernen Welt! Indem der Mensch schöne Landschaften darstellt, verschafft er sich ein Alibi im Blick auf seine vielfältigen Unternehmungen. Was gibt es Besseres als eine Landschaft nach den Dreyfus-Geschichten und ähnlichen Affären!