Unsere Zeit ist nicht mehr die Zeit der grossen Theorien. Eine Vielzahl von kleinen Theorien bezieht sich heute auf viele Ausschnitte der Wirklichkeit. Gleichzeitig findet sich das Erbe der europäischen Aufklärung von seiner eigenen wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenz so bedroht wie nie zuvor. Deshalb ist es an der Zeit, sich an die grossen Theorien zu erinnern, denen dieses Erbe sein Dasein verdankt. Nur die Aufklärung kann mit den Kräften ihrer Vernunft das Unheil abwenden, dessen Ursache sie selbst ist. Damit das gelingt, müssen wir uns diejenige Form von Lebensentwurf und Lebensaufgabe der Moderne wieder vergegenwärtigen, die sich zum Subjekt und Botschafter jener grossen Theorien macht : die Figur des universellen Intellektuellen. Wie war der Grundriss dieser Figur und wer hat ihn wie und weshalb gezeichnet ? Wie hat er sich verändert? Existiert die Figur bis heute oder ist sie inzwischen Vergangenheit ? Und wenn sie das ist : Lässt sie sich vielleicht wieder in die Gegenwart einzeichnen ?
Wolfram Malte Fues lehrte bis 2011 Neuere deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienwissenschaften an der Universität Basel. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher, essayistischer und belletristischer Publikationen.
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Der universelle Intellektuelle
Der universelle Intellektuelle
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Der universelle Intellektuelle
Eine kleine Genealogie
Wolfram Malte Fues
Der universelle Intellektuelle Eine kleine Genealogie
Schwabe Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel.
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Inhalt
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der universelle Intellektuelle. Der Diderot-Komplex . . . . . . . . . . . .
21
Das Apriori des Sensitiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Karl Marx. Verdichtung und Verschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Doch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Max Weber. Das beamtete Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Mannheim. Die transzendentale Hintertür . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Ernst Jünger. Janusköpfige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 «Gattungsvernunft»? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Vorläufiger Zwischenhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Jean-Paul Sartre. Das Ich für die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Theodor W. Adorno. Die Eremitage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Jacques Derrida oder die Memnonssäulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
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Inhalt
«Der Philosophen-Darsteller» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Intellektuellin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Expertise und Intellektualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (Un‐)Schöne Aussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 In Gefahr und höchster Not … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Ein letztes Mal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Der Beschwichtigungs-Intellektuelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Vorrede
Unsere Zeit ist nicht mehr die Zeit der umfassenden, Denken ebenso wie Handeln bestimmenden Theorie; vielmehr die Zeit der Theorie-Fragmente, wie sie in den Schaufenstern der älteren und jüngeren Läden der Passagen durch die Geschichte ausliegen, der Theorie-Splitter, aufgerufen, mit dem Cursor hin und her gewendet, gelöscht: ‹theory-spotting›. Aber: Ist unsere Zeit nicht zugleich die Zeit, in der sich das Erbe der europäischen Aufklärung so bedroht findet wie nie zuvor, in der also die Erinnerung an die grossen Theorien der Moderne, die Arbeit an und mit ihnen dringend notwendig wären?1 Die von der Aufklärung initiierte wissenschaftlich-technische Revolution hat einen Zustand erreicht, in dem sie die Biosphäre von ‹lebenserhaltend› in ‹lebensbedrohend› zu wenden sich anschickt: Erderwärmung, Klimakatastrophen, Meeresverschmutzung, Artensterben, Epi- und Pandemien. Nur die Aufklärung selbst, nur die Kräfte ihrer Vernunft können noch jenes abwenden, dessen Ursache, wie sie wohl weiss, sie selbst ist: Nur diese Waffe taugt. Was jedoch tut die Menschheit in- und stattdessen? Sie tut, als ob nichts wäre. Der Graben zwischen Arm und Reich wird immer breiter und tiefer, sowohl zwischen den Völkern als auch innerhalb der an sich reichen spätkapitalistisch postindustriellen Gesellschaften. Die dortigen politischen 1 «Im Rahmen ihrer Beiträge zur Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft sollten sich die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht darauf beschränken, die Unzulänglichkeiten und sozialen Pathologien des derzeitigen Entwicklungsmodells zu kritisieren. Sie können Vergangenheit, Gegenwarft und Zukunft miteinander verbinden, indem sie ihre verschiedenen Methoden auf Fragen von globaler sozialer Bedeutung anwenden. So können sie moderne Gesellschaftsformen nicht nur beschreiben oder analysieren, sondern auch aktiv und kreativ gestalten.» (Markus Gabriel / Christoph Horn / Anna Katsman / Wilhelm Krull / Anna Luisa Lippold / Corine Pelluchon / Ingo Venzke, Auf dem Weg zu einer neuen Aufklärung. Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften, Bielefeld 2022, S. 57.)
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Vorrede
und kulturellen Eliten flüchten entweder wokistisch aus den leid- und unheilvollen, gewalttätigen Seiten der modernen Geschichte oder entziehen sich durch Verschwörungsmythen aller Art dieser Geschichte überhaupt. Währenddessen versinkt der ärmer und ärmer werdende Rest der Welt immer tiefer in Hunger, Krankheit, Elend, Misswirtschaft, Korruption und Gewalt. Mir scheint es deshalb an der Zeit zu sein, uns diejenige Figur der Moderne wieder zu vergegenwärtigen, die ihre Lebensaufgabe darin sah, sich zum Subjekt jener grossen allgemeingesellschaftlichen Theorien zu machen, die unerbittliche Begrifflichkeit, dichte und präzise Vermittlung mit der Reflexion ihres eigentümlichen Praxisbezuges verbinden:2 die Figur des universellen Intellektuellen. Ich spreche vom universellen und nicht vom universalen Intellektuellen, um den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um eine globalisierte oder umstandslos globalisierbare Figur. Den Begriff des Universellen werden wir im ersten Kapitel des Hauptteils konstruieren. Derartige Theorien, nimmt der universelle Intellektuelle an, üben eine verändernde Wirkung auf die Selbst- und die Weltanschauung ihrer Rezipient*innen aus, und zwar so, dass sie vom eigenen zum anderen Denken und von ihm zum verändernden Handeln übergehen und sich in vergleichbarer Weise ihrerseits mit anderen zu gemeinsamem Denken und Handeln so verbinden, dass dieses Denken und Handeln wirklichkeitsverändernden Erfolg zeitigt.3 Das vernünftig über-zeugende Wort zeugt für sich selbst über sich hinaus in die Vernunft realisierende Praxis, eins zu eins und unmittelbar.
Diese Vermittlung mag ihren Ursprung in der römischen Gerichtsrede haben, die Überzeugungsabsicht unmittelbar mit dem Anspruch verbindet, ihr Resultat möge Folgen zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten haben. Vgl. dazu Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria, Buch XII, Kap. I–III. Ihre logisch durch- und ausgeführte Gestalt findet sich in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Idee des Guten: Wissenschaft der Logik; Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 6, Frankfurt/M. 1969, S. 541ff. 3 Heinrich Heine hat die Annahme, sie zum Faktum (v)erklärend, in Verse gesetzt: «Und gehn auch Jahre drüber hin, / Ich raste nicht, bis ich verwandle / In Wirklichkeit, was Du gedacht; / Du denkst, und ich, ich handle. // Ich bin dein Liktor, und ich geh’ / beständig mit dem blanken / Richtbeile hinter dir – ich bin / Die That von Deinem Gedanken.» (Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput VI; Säkularausgabe, Bd. 2, Berlin/Paris 1979, S. 309f.) Der Intellektuelle und sein Schatten. 2
Vorrede
Das ist zunächst nur eine unbewiesene Behauptung. Wir werden sehen, wie die europäische Geschichte mit ihr verfährt. Trotzdem: Erscheint nicht eine Arbeit, die zwar selber keine grosse neue Theorie entwirft, aber in ihren Grundsätzen und Kategorien, ihren logischen, ideologischen, historischen, kulturgeschichtlichen, politischen und politischökonomischen Ableitungen überall auf grosse Theorien Rücksicht nimmt, eine Arbeit, die sich ums Substantielle und Prinzipielle bemüht, für ihre Resultate einen allgemeinen Geltungsanspruch erhebt und sich dadurch dem Vorwurf des intellektuellen Totalitarismus aussetzt, erscheint eine solche Arbeit nicht wie aus der Zeit gefallen? Lassen wir sie doch vorab kurz Revue passieren, um den Vorwurf seiner Überprüfung auszusetzen. «Der universelle Intellektuelle. Eine kleine Genealogie». Die Arbeit fasst die Figur, um die es gehen soll, als ein typisches Phänomen der europäischen Moderne auf und lässt mögliche andere, aussereuropäische Einflüsse unberücksichtigt. Sie verfährt bewusst eurozentristisch, nicht weil sie dieses Vorgehen für das einzig wahre hält, sondern weil sie sich beschränken und auf das ihrer Meinung nach für die Figur Wesentliche konzentrieren will. Sie versteht die europäische Moderne als das Produkt des europäischen Bürgertums und den universellen Intellektuellen als eine für seine anthropologische und sozio-politische Theorie zentrale Figur. «Eine kleine Genealogie» heisst sie, weil sie versucht, Begriff und Phänomen des Intellektuellen ideologisch, historisch, politisch, kulturell und sozial zu konfigurieren. Die Folge der berühmten Namen, gemäss deren Werken diese Konfiguration entwickelt und dargestellt wird, bezeichnet eigentlich die Folge ihrer Transformationen und nutzt den Namen nur als Stichwortgeber. Die Arbeit verfährt bewusst und gewollt unbiographisch, womit sie sich sogleich dem Vorwurf der Unzeitgemässheit erneut aussetzt. Heutzutage überwuchert, wenn ich recht sehe, allzu oft das Interesse an der Person das Interesse an der Sache. Schlimmer noch: Die Arbeit verfährt nicht nur unbiographisch, sie verfährt überdies anti-enzyklopädisch. Ob sie sich nun Max Weber oder Ernst Jünger oder Theodor W. Adorno oder wem auch immer zuwendet, sie ist nirgendwo und bei niemandem darum bemüht, ein theoriegeschichtliches Gesamtbild zu schaffen. ‹Max Weber als solcher› usf. ist nicht ihre Sache. Sie konzentriert sich vielmehr auf Texte oder Textkonstellationen aus dem Gesamtwerk, in und mit denen sich die gesuchte Figur zur Erscheinung und auf den Begriff bringen lässt. ‹In Texten mit Texten denken› lautet die Kurzformel für die von ihr
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Vorrede
angewandte Methode.4 Die Entscheidung darüber, mit welchen Texten sie denkt und mit welchen in ihrem Kontext nicht, ist und bleibt selbstverständlich anfechtbar und wird gewiss als Erstes angefochten werden. Warum fehlt Nietzsche? Warum fehlt Heidegger? Warum usf. Die Arbeit wäre durchaus in der Lage, sich diese Fragen selbst zu stellen und sie zu beantworten. Täte sie’s ihren eigenen Ansprüchen gemäss, würde sie von sich selbst in eine Propädeutik abweichen, die ihr ursprüngliches Thema bald überwucherte. Über eine Rezeption, die diese Fragen im Dialog mit ihr aufgreift, würde sie sich freuen. Es beginnt mit der Analyse des Diderot-Komplexes, der Grundlegung der Figur in der Zeit des an die Macht strebenden Bürgertums. Komplex deshalb, weil das Werk Diderots hier nicht für sich allein steht, sondern als Zentrum aufgefasst wird, das andere Theorieentwürfe an sich zieht, mit denen es sich, wie die Arbeit zu zeigen versucht, zur Komplexität des europäischen Intellektuellen vermittelt. Der übernächste Schritt führt zu Max Weber und Karl Mannheim und mit ihnen zur Transformation der Figur unter den Bedingungen des mit dem WTI-Komplex (Wissenschaft/Technik/Industrie) verbundenen, bürokratisch organisierten Grosskapitalismus. Ihm voraus jedoch geht die Vorstellung des marxistischen Intellektuellen und seiner problematischen Position in der Geschichte der Figur. Wir folgen dann Ernst Jünger und Jean-Paul Sartre bei ihrem je äusserst verschieden angelegten Versuch, dem bürgerlichen Individuum unter Bedingung der sich abzeichnenden Funktionsgesellschaft seine intellektuelle Souveränität zu wahren, und gehen von ihm zu Theodor W. Adorno über, der angesichts einer durchkapitalisierten bürgerlichen Gesellschaft keine Möglichkeit mehr sieht, die Ansprüche und Forderungen des universellen Intellektuellen auch den Umrissen, auch nur der Spur nach zu behaupten. Ob Jacques Derrida mit seiner Dekonstruktion einen Ausweg weiss? Oder Peter Sloterdijk? Überlegungen zur «Intellektuellin» und eine diesbezügliche Analyse schliessen sich an. Nicht als ob wir bis jetzt durch Stillschweigen hätten festschreiben wollen, es gebe keine weiblichen Intellektuellen. Selbstverständlich gibt es sie, nicht wenige sogar, und sie haben wesentliche Beiträge zur europäischen Geschichte philosophischer, sozialer und politischer Theorie geleistet, immer je4
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Vgl. dazu Christine Abbt / Christian Benne, Mit Texten denken, Wien 2020, S. 33–
Vorrede
doch unter bewusster oder unbewusster Anerkennung einer gesellschaftlichen Figur, deren Ursprung im männlichen Denken liegt. Wir wollen hier jedoch erfahren, ob es ein weibliches Denken gibt, das die Verführungen und Forderungen der Figur deutlich sieht und begreift, um ihnen nicht zu erliegen. Aus einer kurzgefassten Geschichte der politischen Ökonomie der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft erhellt schliesslich, dass mit der digitalisierten Ökonomie und den ihr entsprechenden sozialen Medien5 sowie mit den von ihnen initiierten Formen sozialer Vermittlung die Kluft zwischen ihr und dem universellen Intellektuellen unüberbrückbar wird. Was tun? Hinnehmen, dass die Figur endgültig Geschichte geworden ist? Ihr noch einen würdigen Grabstein setzen und sie dann vergessen? Oder Auswege suchen, Umwege? Vielleicht ist der ursprüngliche Anspruch der Figur unmittelbar mit der Existenz von homo sapiens verbunden? Vielleicht lässt sich ihr Ordnungsanspruch vom Herrschaftsanspruch lösen, den das männliche Denken mit ihm verbindet? Beispielsweise dadurch, dass die Auslegung die Ableitung ersetzt? Die Arbeit endet mit einem Blick auf eine überraschende aktuelle Wiederkehr der Figur, die ihr Dasein dem sich neu ordnenden Verhältnis zwischen der Zivilgesellschaft einerseits und dem politischen Apparat repräsentativer Demokratie andererseits verdankt. Methodisch orientiert sich die Arbeit am Denken Hegels, das sie nach wie vor als die am tiefsten entwickelte, differenzierteste, avançierendste logische Selbstdarstellung der europäischen Aufklärung betrachtet.6 Vgl. dazu etwa Andreas Ziemann, Soziologie der Medien, 2., überarb. und erw. Aufl. Bielefeld 2012. 6 Hegel «ist der wahre Denker der Negativität, nicht der traurigen negativen Negativität im Sinne Adornos, sondern der affirmativen Negativität, der schöpferischen Negativität». (Alain Badiou in: Alain Badiou / Jean-Luc Nancy, Deutsche Philosophie. Ein Dialog, hg. von Jan Völker, Berlin 2017, S. 39.) Alles in allem: Denken «darf nicht darin nachlassen, das Absolute in die Gegenwart einzuschreiben, ohne die Absolutierung einer Gegenwart, welche sie auch sein mag». (Jean-Luc Nancy, Hegel, Zürich 2011, S. 188.) Denn: «Das Verständnis, das die Vorbedingung jeglicher philosophischer Arbeit zu sein beansprucht, wächst […] aus der Rekonstruktion eines möglichen Rückgriffs, der eine besondere Methode und spezifische Begriffe der ihm eigenen Denkweise wirksam werden lässt.» (Jean Ziegler / Uriel da Costa, Marx, wir brauchen Dich. Warum man die Welt verändern muss, München 1992, S. 62.) 5
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Einleitung
Die Frage nach Wesen und Funktion, Herkunft und Auftrag des Intellektuellen ist eine typische Intellektuellen-Frage. Sie öffnet, einmal gestellt, ein Bündel von Problemen, mit dem der Intellektuelle sich selbst auslegt, indem er es auslegt. Sie schliesst den Fragesteller stets mit ein, versichert ihm also schon durch ihre blosse Existenz die Wirklichkeit, aber auch die Schwierigkeit der seinigen.7 Bevor wir nun damit beginnen, die Frage auf intellektuelle Weise zu beantworten, also damit, die Bestimmungen des Begriffs logisch und historisch, ideologisch und politisch zu konturieren und zu schärfen, wollen wir hier zunächst ganz unintellektuell zerstreute Momente gelegentlich aufgreifen, ihn phänomenologisch umkreisen und uns einen Eindruck, ein kumulativ situatives Bild von ihm verschaffen. Wozu taugt ein Intellektueller? Zunächst zum ‹Inter legere›, dazu, zwischen zwei Vorstellungen, zwei Konzepten, zwei Plänen, zwei Zielsetzungen auszuwählen, über das jeweilig Bessere sowie das jeweilig Schlechtere zu entscheiden und seine Entscheidung zu begründen. Nun bedeutet ‹legere› wohl auswählen, auslesen, eine Lese vornehmen, aber zugleich auch lesen. ‹Inter legere› meint also vielleicht überdies ‹zwischen den Zeilen lesen›, über die entschieden wird? Dieses Zwischen wird uns in und durch jede Antwort begleiten, die wir zu geben suchen, weil darin der eigentliche Ziel- und Endpunkt der Frage liegt. Die Frage nach dem Subjekt dieses Zwischen. Nach den Bedingungen der Möglichkeit seiner Objektivität. Nach seinen eigenen Existenzbedingungen in Theorie und Praxis. Verdeutlichen wir’s zunächst mit einer Anekdote. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 7. Juli 2006 hat Klaus Matussek, der Kultur«In diesen Forschungsgegenstand ist der Forschende, ob er will oder nicht, selbst mit eingeschlossen.» (Christophe Carle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Frankfurt/M. 2001, S. 10.)
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Einleitung
chef des Spiegel, im Anschluss an die patriotische Begeisterung aus Anlass der Fussball-WM in Deutschland erklärt, auch die Politik benötige dringend eine solche «Lichtgestalt» wie – Jürgen Klinsmann. Der Trainer der deutschen Nationalelf verfügt zweifellos über professionelles Wissen, aus dessen Bestand er zum öffentlichen sachliche Informationen beizusteuern vermag, über deren argumentative Kraft und politische Wichtigkeit man jedoch im Zweifel sein darf. In der jüngeren deutschen Geschichte ist allerdings schon einmal eine «Lichtgestalt» ausgemacht worden: «Du der uns ward bescheret, / der rings den Teufeln wehret, / der uns das Kreuz beschwöret / uralten Sonnentums»,8 denn: «Die Welt gehört den Führenden, / Sie gehen der Sonne Lauf.»9 Wer oder was auch immer ein Intellektueller sein mag – ist Matussek einer? Wenn wir die ursprüngliche Wortbedeutung als anfängliche Definition nehmen, entpuppt sich der Intellektuelle als nicht definierbar. Jedes Zeichen, das sich lesen und deuten lässt, vom Wort bis zum Text, hängt in seinem Verständnis von einem Gegen-Zeichen ab, dem es seine Grenze und damit seine Bestimmung verdankt. Zwischen Zeichen und Gegen-Zeichen öffnet sich damit ein (noch) unbestimmter Raum, der nicht zeichenleer, sondern von (noch) unbestimmten Zeichen erfüllt ist, die ihrer Bestimmung harren. In diesem Raum liegt die eigentliche Heimat des Intellektuellen: im Zwiespalt, im Zweifel.10 Welche Position zu welchem Problem er auch einnimmt, er wird sich sogleich nicht nur der Opposition, sondern auch der lockenden Depositionierung beider bewusst und täte nichts lieber, als sich sogleich auf sie einzulassen. Täte er’s, würde er für seine Zuhörer*innen und Leser*innen eine zwielichtig zweifelhafte Figur, die sich von allen Positionen und Oppositionen, die sie, wie wir wissen, doch mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit vertreten soll, in dem Augenblick ihrer Behauptung bereits wieder zurückzieht. «Wenn wir nicht objektiv sind, sind wir auch nicht subjektiv, und
8 Gerda von Below, zit. nach: Joseph Wulf, Kultur im Dritten Reich: Literatur und Dichtung, Frankfurt/M./Berlin 1989, S. 409. 9 Herybert Menzel, ebd., S. 350. 10 «Was ist das Gegenteil von Glaube? Nicht Unglaube […] Selbst eine Art Glaube. Zweifel.» (Salman Rushdie, Die satanischen Verse, Hamburg 1989, S. 98.)
Einleitung
wer nicht gesehen wird, der ist unsichtbar.»11 Um für seine Gesellschaft in ihren wechselnden historischen Konstellationen als Person und im Profil sichtbar zu bleiben, muss der Intellektuelle sich objektiv halten, deutliche Positionen vertreten und allenfalls deren Opposition am Rande mit in den Blick nehmen. Das ‹Inter legere› scheint sein Geheimnis und seine Privatsache zu werden – liegt in der Kraft, dies Private öffentlich zu machen, aber letzten Endes nicht seine eigentümliche Bedeutung für die Moderne, deren Geschöpf er ist? Dies alles vorausgesetzt: Worin besteht dann heute «das Amt des Intellektuellen»? Er «soll ungefragt, also ohne Auftrag von irgendeiner Seite, von dem professionellen Wissen, über das er beispielsweise als Philosoph oder Schriftsteller, als Sozialwissenschafter oder Physiker verfügt, einen öffentlichen Gebrauch machen […] Er soll sich auf relevante Themen beschränken, sachliche Informationen und möglichst gute Argumente beisteuern, er soll sich also bemühen, das beklagenswerte diskursive Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern.»12
Diese wohl abgerundete Definition eignet sich in ihrer gediegenen Positivität vorzüglich als Ausgangspunkt für unsere Frage nach Ursprung und Herkunft, Form und Funktion, Schicksal und Zukunft des Intellektuellen. Sie 11 Hegel an Niethammer am 21. April 1808; Briefe von und an Hegel, 4 Bde., hg. von Johannes Hofmeister, Bd. IV/2, hg. von Friedhelm Nicolin, 3., völlig neu bearb. Aufl. Hamburg 1981, S. 22. 12 Jürgen Habermas, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit. Lebensgeschichtliche Wurzeln zweier Gedankenmotive. Dankesrede bei der Entgegennahme des Kyoto-Preises 1985, «NZZ» Nr. 290 vom 11./12. Dezember 2004, S. 68. – Ob dieses ‹heute› mit ‹gegenwärtig› gleichbedeutend ist, werden wir zu untersuchen haben. – Der Habermas-Schüler Axel oHonneth sieht es ähnlich: «Nichts aber wäre der Gesellschaftskritik abträglicher, als ihre Blossstellung fraglicher Sozialpraktiken von der Aussicht auf politische Umsetzbarkeit abhängig zu machen. Worauf sie zielt, ist nicht der schnelle Erfolg im demokratischen Meinungsaustausch, sondern die Fernwirkung eines allmählich wachsenden Zweifels, ob die gegebenen Praxisgüter oder Bedürfnisschemata tatsächlich die (für uns) angemessenen sind; nicht argumentative Überzeugung im Augenblick, sondern begründete Umorientierung im zukünftigen Prozess ist die Münze, in der sich die Gesellschaftskritik auszahlt.» (Axel Honneth, Die mythischen Mächte zerstören. Gesellschaftskritik im Zeitalter des normierten Intellektuellen, «NZZ» vom 9./10. März 2002, S. 75 f.)
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Einleitung
fasst eine Begriffsgeschichte so zusammen, dass ihre Elemente und Prozesse sich gut in ihre Anfänge zurückverfolgen lassen. Darin wird unsere erste Aufgabe im Hauptteil bestehen. Gleichzeitig bietet sie dem ‹Inter legere› eine Menge von möglichen Zwischenfragen an. Professionelles Wissen bezieht sich stets auf einen scharf abgegrenzten gesellschaftlichen Teilbereich, öffentliches auf diejenigen Prozesse und Prozeduren, die das Funktionieren der Gesellschaft als ganzer garantieren. Was geschieht mit professionellem Wissen, wenn man von ihm einen öffentlichen Gebrauch macht? Bleibt es professionell, während es öffentlich wird? Lässt es sich, ohne Schaden an Form, Struktur und Methode zu nehmen, öffentlich, politisch gebrauchen, oder muss es erfahren, dass umgekehrt die politischen Institutionen und Organisationen ihren besonderen Gebrauch von ihm machen? Wie, nach welchen Kriterien entscheidet das professionelle Wissen, welche seiner Themen es öffentlich wirksam machen will? Beurteilt es sich selbst vom öffentlichen Diskurs oder den öffentlichen von seinem eigenen her? Oder sucht es beide Urteile zu kombinieren? In was für einer Vermittlungsform? Sind sachliche Informationen unmittelbar gute Argumente (will sagen: politisch wirksame) in der politischen Öffentlichkeit, und falls nicht, welche Art der Unsachlichkeit darf, muss, soll der Sachlichkeit beispringen? Hebt Professionalität von selbst und ohne weiteres das beklagenswerte Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen? Von wem beklagt? Weshalb, woraufhin? Und was ist das schliesslich für ein Sollen, das da dem Intellektuellen so eindringlich nahegelegt wird? Etwa dasjenige der «Räsoneurs, deren Verstand sich die unaufhörliche Befriedigung gibt, ein Sollen und somit ein Besserwissen vorbringen zu können»?13 Lässt sich die Frage nach der problematischen Beziehung zwischen wissenschaftlichem Expertentum und dem notwendigen Allgemeinheitsanspruch intellektuellen Wissens folgendermassen beantworten? Der Wissenschaftler als Experte weiss je länger über je kleinere und speziellere Gebiete wissenschaftlichen Wissens tatsächlich Bescheid. Niemand hindert ihn jedoch, sich als Bürger ebender Gesellschaft zu begreifen, zu der er in seiner Expertise spricht, sein Expertenwissen auf diese Citoyennité zu beziehen und
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik; Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5, Frankfurt/M. 1969, S. 147. 13
Einleitung
es in dieser Beziehung als Beitrag zur Meinungsbildung einer alle derartigen Beiträge auffassenden und verarbeitenden Zivilgesellschaft zu reformulieren. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Existenz einer derartigen Zivilgesellschaft nicht kategorisch gegeben und durch allgemeine Erfahrung gesichert, sondern im Rahmen kapitalliberaler Politik bloss assertorisch (der viel beschworene ‹mündige Bürger›) und angesichts der in der Informationsgesellschaft herrschenden Modulations- und Manipulationsmächte bloss problematisch ist. Sollten, müssten dann nicht die sich perspektivierenden Experten selbst an Bildung und Organisation derart zivilgesellschaftlicher Intellektualität mitarbeiten, an der Realisation einer moralisch-politischen Schwarmintelligenz? Wir werden auf diese Frage gegen Schluss unserer Arbeit zurückkommen. Der europäische Intellektuelle des 18. bis 20. Jahrhunderts (von Voltaire bis Adorno) verstand sich als symbolisches Individuum im Sinne Schillers, als ein Subjekt, das seine Einzelheit in jedem ihrer Momente als progressive Metaphorisierung verstand, die auf seine gesellschaftliche Verallgemeinerung zielte.14 Die zu konstituierende Schwarmintelligenz besässe keine derartige Subjektivität, bliebe aber durchaus Subjekt. Subjekt einer Individualität, die ihre Symbolkraft als abweichende erlebt und sie erst im Spiegel des Schwarms wahrnimmt und auffasst. Womit die Zivilgesellschaft der Schwarmintelligenz als ‹différance› im Sinne Derridas, als abwesende Präsenz des Politischen gesetzt wäre, als Gegen-Spiel also zur Warengesellschaft, in der das Geld beziehungsweise der Tauschwert auf der Präsenz der Differenz beruhen. Dies würde bedeuten, dass der klassische europäische Intellektuelle keineswegs verschwunden oder gar ausgestorben ist. Er hätte nur die Subjektform gewechselt, wäre von der konzentrisch metaphorischen Individualität zur dezentriert dekonstruktiven übergegangen. Aber wie steht es dabei mit seinem Zielpublikum, der Zivilgesellschaft? Wäre sie bereit und imstande, von der Präsenz der Warenbeziehung und deren Analogien zur auf sie bezogenen Absenz dekonstruktiver Intelligenz überzugehen? Besässe sie ei-
Wilhelm von Humboldt zufolge verkörperte Schiller selber eine derartige Form der Individualität. Vgl. dens., Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. II, 4. Aufl. 1986, S. 383 ff. 14
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