Maria Lissek, Ueli Zahnd (Hg.)
VINCENTIUSFREUNDLICHE SCHWEIZ
Die Verehrung des spätantiken Märtyrers Vinzenz von Saragossa in Bern und der Schweiz
theos 5
Theologisch bedeutsame Orte der Schweiz
Herausgegeben von Katharina Heyden und MariaLissek in Verbindung mit Gregor Emmenegger, Ann-Katrin Gässlein, Karin Mykytjuk-Hitz, FranziskaMetzger, Martin Sallmann und Ueli Zahnd
Band 5
Maria Lissek, Ueli Zahnd (Hg.)
Vincentiusfreundliche Schweiz
Die Verehrung des spätantiken Märtyrers
Vinzenz von Saragossa in Bern und der Schweiz
Schwabe Verlag
Publiziert mitder Unterstützung der folgenden Institutionen: Burgergemeinde Bern, Berner Münster-Stiftung, Förderverein Berner Münster, Gebäudeversicherung Bern (GVB)Kulturstiftung, Gesellschaft zu Mittellöwen Bern, Gesellschaft zu Ober-Gerwern Bern, Institut für Historische Theologie Universität Bern, Institut für Reformationsgeschichte Universität Genf, Theologische Fakultät Universität Genf, UniBe Forschungsstiftung, Vinzenzen-Stiftung Bern
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Abbildung Umschlag:Ausschnitt aus der Miniatur des Vinzenz in der Berner Chronik von Diebold Schilling d. Ä. (Bern, Burgerbibliothek, Mss.h.h.I.3, 3; https://www.e-codices.ch/de/bbb/Mss-hh-I0003/3)
Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel
Cover:KathrinStrohschnieder, STROH Design, Oldenburg
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert &Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-4967-0
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5041-6
DOI 10.24894/978-3-7965-5041-6
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Maria Lissek und Ueli Zahnd: Einleitung. «Vincentiusfreundliche Schweiz». ....
IVinzenz-Verehrung in Spätantike und Mittelalter
Dominic Bärsch: VonSpanien in die Schweiz. Literarische Aspekte der spätantiken und frühmittelalterlichen Verehrung des heiligen Vinzenz von Saragossa
Ueli Zahnd: Die Ausbreitung der Vinzenz-Verehrung auf dem Gebiet der heutigen Schweiz
II Vinzenz in und um Bern
Richard Němec-Tobler:wil dem heilgen nit gehorsam sin …
Der heilige Vinzenz und die Pfarrkirche St. Vinzenz im sozioökonomischen Interferenzraum des vormodernen Berns
Maria Lissek: Ein Gotteshaus für einen Helden. Historisch-theologische Dimensionen des Vinzenz vom Berner Münster
Dominique Wyss: Der heilige Vinzenz, gewirkt für die Ewigkeit. Die vier Chorbehänge für das Berner Münster
Adriana Basso Schaub: Der heilige Vinzenz im Berner Rathaus. SpätgotischeWandmalereien in der ‹Kleinen Ratstube›
Rolf Hasler: Frühneuzeitliche Stiftungen von Vinzenz-Scheiben aus Bern
Martin Sallmann: Verlust der Verehrung und Machtrepräsentation. Der heilige Vinzenz in Bern nach der Reformation
177
199
III Vinzenz-Orte in der Schweiz und darüber hinaus
Susanne Zeilhofer: Der heilige Vinzenz von Saragossa in Basel ...
Lukas Schenker: Die Vinzenz-Reliquie im Benediktinerkloster
Bertrand Marceau: Der Heilige der Handwerker und Winzer?
«Vincentiusfreundliche Schweiz»
Maria Lissek und Ueli Zahnd
Vinzenz von Saragossa lebte der Legende nach an der Wende zum 4. Jahrhundert, war Diakon des Bischofs Valerius und erlitt im Zuge der Christ_innenverfolgungen unter Kaiser Diokletian (reg. 284–305)das Martyrium.Ab dem 6. Jahrhundert setzte eine breite Verehrung seiner Person in der westlichen christlichen Welt ein. Auch im Gebiet der heutigen Schweiz wurde der Heilige populär. Es wurden zu seiner Ehre zahlreiche Kirchen gegründet;1 im 11. Jahrhundertsollen sich Reliquien in Schaffhausenbefunden haben;2 heute befinden sich Reliquien in Mariastein (Solothurn)und Pfaffnau (Luzern); und im Basler Münster zeugt ein Relief aus dem 12. Jahrhundert von den Lebensstationen des Märtyrers. Vinzenz gelangte auch in der Stadt Bern zu Popularität:Schon der erste Kirchenbau nach der Stadtgründung war ihm geweiht, und im Spätmittelalter war Vinzenz nicht nur Patron des Berner Münsters, sondern auch Stadtheiliger. Aufgrund dieses Befundes prägte Georg Schreiber (1882–1963)imJahr 1936 die Formulierung einer «vincentiusfreundliche[n] Schweiz»,3 die Patin für den Titel dieses Bandes steht.
Wie ist dieser Heilige aus Spanien in das Gebiet der heutigen Schweiz und nach Bern gekommen?Und warum wurde dieser Heilige hierzulandeso berühmt?4 Ein Jahr nach Erscheinen der Biografie Schreibers veröffentlichte Basilius Niederberger (1893–1977)einen Aufsatz zu dem Thema:«Die Verehrung des Märtyrerdiakons Vinzenz in Bern».5 Gleich zu Beginn hielt er
1 Eine Karte mit Vinzenz-Kirchen auf Schweizer Gebiet findet sich im Beitrag von Ueli Zahnd in diesem Band.
2 Vgl. Frauenfelder,Patrozinien im Gebiet des Kantons Schaffhausen, 37.
3 Schreiber,Deutschland und Spanien, 43.
4 Vgl. zur Rolle Berns in der Verbreitung der Vinzenz-Verehrung die Beobachtungen bei Schreiber,Deutschland und Spanien, 23–30.
5 Niederberger, Verehrung.
fest, dass «die Anfänge der Vinzenzenverehrung in Bern […]immer noch nicht aufgehellt»6 seien. In dieser Frage gibt es auch 87 Jahre später und rund 600 Jahre nach der Grundsteinlegung des Berner Münsters noch immer keine eindeutige Klarheit.Zwar hat Sofia Meyer in einer 2012 publizierten Dissertation «die Entstehung, die Funktionen und die Verbreitung des Kultes bis zu seiner Blütezeit im hochmittelalterlichen Portugal»untersucht.7 Dabei streift sie die (zeitlich meist später anzusiedelnde)Verbreitung der VinzenzVerehrung in der Schweiz allerdingsbloss, kommt aber immerhin zu einem ähnlichen Fazit wie bereits Schreiber, dass sich nämlich «die heutige Schweiz […]zunehmend zu Vinzenz-Landschaften»entwickelt habe.8
Die in diesem Band versammelten Beiträge bieten verschiedene disziplinäre Perspektiven auf die ‹vincentiusfreundliche Schweiz› und ihre ‹Vinzenz-Landschaften›,umsoein wenig mehr Licht in das Dunkel der Verehrung des spätantiken Märtyrers Vinzenz von Saragossa in Bern und der Schweiz zu bringen.
1. Vinzenz von Saragossa:Der spätantike Märtyrer
Vinzenz von Saragossa war ein gläubiger frommer Christ, redegewandt, mutig und standhaft im Glauben. All diese Eigenschaftenbrachten ihm aber Lebensgefahr, Folter und schliesslich den Tod. So könnte die Vita des Vinzenz in Kurzform zusammengefasstund ergänzt werden:Was sein Schicksal besiegelte, wurde anderen offenbart.
In diesem Sinne setzte relativ rasch nach seinem Tod eine literarische Überlieferung zur Leidensgeschichte, der passio,des Vinzenz ein. Bereits Aurelius Clemens Prudentius (348–ca. 413)und Augustin von Hippo (354–430)schilderten den Lebens- und Leidensweg des Vinzenz, und die «goldene Legende», legenda aurea,fügte im 13. Jahrhundert die spätantiken und bis dahin überkommenen beziehungsweise zur Verfügung stehenden Informationen zusammen.9 Was aber hat Vinzenz erlebt und getan, dass er schon
6 Niederberger,Verehrung, 283.
7 Meyer,Vinzenz, 12.
8 Meyer,Vinzenz, 233.
9 Vgl. zur Überlieferung und Verwendung der legenda aurea im Mittelalter den Beitrag von Maria Lissek im vorliegenden Band.
bald in aller Munde sein sollte?Obgleich sich verschiedene Ausgestaltungen und Ausschmückungen seines Martyriumsfinden lassen10 und diese auf die eine oder andere Art in den Beiträgendieses Bandes auch zu Wort kommen, wird an dieser Stelle zunächstseine Lebens- und Leidensgeschichte gemäss der legenda aurea ins Licht gestellt.11
Vinzenz war der Diakon von Valerius, dem Bischof von Saragossa. Dieser wollte sich lieber dem Gebet widmen und übertrug daher Vinzenz die Aufgabe der Verkündigung des Wortes Gottes. In der Zeit der christlichen Verfolgungen unter Kaiser Diokletian wurden die beiden aber vom römischen Statthalter Dacian in Valencia eingekerkert in der Hoffnung, dass sie aus Erschöpfung von ihrem Glauben ablassen oder aber versterben würden. Doch als Dacian sie schliesslich vor sich kommen liess, fand er beide noch bei Kräften. Im Verhör waren die Worte des Bischofs für Vinzenz nun aber nicht direkt genug, und so liess sich der Diakon erneut das Wort übertragen. In der Schilderung stellte sich Vinzenz mit frommen und direkten Worten vor Dacian und erklärte ihm, dass das Ablassen vom christlichenGott eine Lästerung sei. Valerius wurde daraufhin verbannt und Vinzenz einer ganzen Reihe von Folterungen unterzogen.
Diesen ging er mutig entgegen und nahm sie standhaft hin:Weder das Folterbett noch der Feuerrost schüchterten Vinzenz ein. Vielmehr noch:Dacian unterbrach die Folter immer wieder und wollte ihm die Möglichkeit bieten, vom christlichenGlauben abzulassen, aber Vinzenz blieb standhaft, verlangte gar nach einer Fortsetzung der Folter und widerrief seinen Glauben nicht. Daraufhin wurde er in einen dunklen Turm mit einem Scherbenboden geworfen. Doch diese Scherben wandelten sich auf wundersame Weise zu Blumen und der Turm füllte sich mit Licht, worauf sich die die Szene beobachtenden Soldaten zum christlichenGlauben bekehrten. Als Dacian, um weitere Wunder zu verhindern, Vinzenz etwas Erholung gewähren wollte, verstarb dieser allerdings und liess den Statthalter einmal mehr als Verlierer dastehen.
Doch Dacian liess auch den toten Körper nicht in Ruhe und so ging die Leidens- und Rettungsgeschichte von Vinzenz auch im Tod noch weiter:Der
10 Einen Überblick über die literarische Überlieferung von der Spätantike bis ins Mittelalter bietet der Beitrag von Dominic Bärsch in diesem Band.
11 De Voragine,Legenda aurea, Kapitel 25.
Leichnam wurde im Wald ausgesetzt, um ihn von wilden Tieren fressen zu lassen – doch Raben beschützten ihn. Der Leichnam wurde mit einem Mühlstein im Wasser versenkt – doch er wurde wieder an Land angespült. Dort barg ihn eine «edle Frau»gemeinsam mit einigen anderen, denen sich Vinzenz zuvor offenbart hatte, und bestattete ihn gebührlich.
Die Schilderung schliesst an dieser Stelle und es folgt die Wiedergabe von Lobpreisungen auf den Märtyrer, Heiligen und Mann Gottes unter anderem durch Prudentius und Augustin.Ihre literarischen Hymnen preisen die Frömmigkeit, den Mut, die Standhaftigkeit und die Unversehrtheit seines Körpers als Zeichen des Wirkens Gottes. Diese Gegenwart Gottes im standhaft Leidenden bildete denn die Grundlage für die Vinzenz-Verehrung.
2. ‹Vincentiusfreundliche Schweiz›: Zum vorliegenden Band
Dank der literarischen Ausgestaltung durch Prudentius, Augustin und die Legenda aurea hat sich die Kunde über Vinzenz’ Martyrium von Spanien aus rasch in der wachsenden Christenheit verbreitet, sodass auch auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bald Verehrungsorte für ihn entstanden sind. Im historischen Rückblick erweisen sich diese Orte gar als so zahlreich, dass sie unmöglich alle in einem einzigen Band beleuchtet werden können:Neben mehr als zwanzig Vinzenz-Kirchen fanden und finden sich in zahlreichen weiteren Kirchen auf Schweizer Gebiet Vinzenz-Altäre(Abb. 1),12 entsprechendgibt es Gemälde, Tafeln und Skulpturen, die von seiner Verehrung zeugen, und Handschriften spätmittelalterlicher Liturgien machen deutlich, dass mindestens am 22. Januar jeden Jahres sämtliche Kirchen der Schweiz zu einem Gedenkort spezifisch für Vinzenz wurden.13
12 Eine weniger als vorläufige Zusammenstellung einiger Vinzenz-Altäre auf Schweizer Gebiet findet sich im Beitrag von Ueli Zahnd,S.75f,Anm. 140.
13 Da das Gebiet der heutigen Schweiz auf unterschiedliche Bistümer aufgeteilt war, waren im Mittelalter auch unterschiedliche Liturgien im Umlauf. Nur die Genfer Vinzenz-Liturgie ist kritisch ediert (Lafrasse,Étude sur la liturgie dans l’ancien diocèse de Genève, 24–26); zur Berner Vinzenz-Liturgie vgl. Bernasconi,Les antiphonaires de StVincent de Berne. Vinzenz-Liturgien aus dem Bistum Konstanz sind in Form mittelalterlicher Handschriften beispielsweise in Hermetschwil, Benediktinerinnenkloster, Cod.
Abb. 1: Die heiligen Vinzenz und Sebastian auf einer Altartafel aus Splügen (heute im Schweizerischen Landesmuseum Zürich, LM16693.1).
Wenn daher der vorliegende Band der Vinzenz-Verehrung von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit auf Schweizer Gebiet nachgehen will, muss er sich notgedrungen auf einige Beispiele beschränken – und es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass für die Konzeption des Bandes ein gewisser Berner Fokus leitend gewesen ist. Als Patron des Berner Münsters, das vor drei Jahren sein 600-jähriges Jubiläum feiern durfte, hat Vinzenz das Selbstbild der spätmittelalterlichen Stadt zutiefst geprägt – und zwar nicht nur kirchlich:Erbegegnet auch auf Münzen, auf Wappenscheiben oder (wie erst kürzlich entdeckt wurde)als Wandmalerei im Rathaus. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ist das spätmittelalterliche Bern daher ein Vinzenz-Ort par excellence,sodass Vinzenz mit Bern zusammen eine Art von ‹theologisch bedeutsamemOrt der Schweiz› bildet, der sich sehr gut als inhaltliches Zentrum für einen Band in der theos-Reihe eignet. Das vorliegende Buch ist entsprechend in drei Teile aufgegliedert:Ein erster blickt in allgemeinerer Perspektive auf die Ausbreitung der Vinzenz-Verehrung in Spätantike und Mittelalter, um die Schweizer Verehrungsorte historisch zu situieren. Im zweiten Teil steht der Vinzenz-Ort Bern im Mittelpunkt,während der dritte auf weitere Schweizer Verehrungsorte und auch auf eine benachbarte Verehrungsregioneingeht, um die Berner Situation weiter zu kontextualisieren.
Den ersten Teil zur Vinzenz-Verehrung in Spätantikeund Mittelalter eröffnet der Beitrag von Dominik Bärsch,der den spätantiken und frühmittelalterlichen literarischen Zeugnissen nachgeht, auf denen die Vinzenz-Verehrung beruht, wofür neben Prudentius, Augustin und Gregor von Tours (538–594)auch weniger bekannte Autoren wie Paulinus von Nola (354–431) und Venantius Fortunatus (530–610)untersucht werden. Dabei interessiert er sich insbesondere für die Transformation der erzählerischen Motive, die in der Überlieferung der Vinzenz-Legende neues Gewichterhalten und damit ermöglicht haben, dass Vinzenz von einer regionalen Kultgrösse zu einer allgemeinenchristlichenIdentifikationsfigur wurde, deren Verehrung sich entsprechendausbreiten konnte. Der Beitrag von Ueli Zahnd schliesst daran aus ‹heiligengeografischer› Perspektive an. Unter Einbezug benachbarter Verehrungsregionen in der Lombardei, im Burgund und am
Membr. 6, fols 44va–50ra (http://dx.doi.org/10.5076/e-codices-hba-membr0006;ehemals Sarnen)oder Luzern, ZHB, P19fol, fols 234r–237r (http://dx.doi.org/10.5076/e-codiceszhl-0019)erhalten.
Oberrhein diskutiertereine Art Katalog der Vinzenz-Kirchen, die im Verlauf des Mittelalters auf Schweizer Gebiet entstanden sind, und zeichnet damit nach, wie insbesondere über den nördlichen Jurabogen die Vinzenz-Verehrung in die Nordschweiz und schliesslich auch nach Bern gelangt ist.
Der zweite Teil zu Vinzenz in und um Bern ist der Präsenz und Verehrung des Heiligen im vormodernen Bern gewidmet. Richard Němec-Tobler eröffnet den Teil mit einem Beitrag, der aus ‹architekturökonomischer› Perspektive untersucht, was es für die spätmittelalterliche Stadt Bern bedeutet hat, ihrem Heiligen einen spezifischen Ort zu bauen. Dabei zeigt er, wie die Stadt zugleich ‹auf› den heiligen Vinzenz bauen konnte, um das repräsentative Projekt des Münsters voranzubringen, sodass sich zahlreiche Interferenzen zwischen Heiligenverehrung und städtischer Selbstdarstellung ergaben. An solche Überlegungen zur Rolle des Heiligen schliesst aus theologischer Perspektive der Beitrag von Maria Lissek an, die den unterschiedlichen Formen der Präsenz des Heiligen im spätgotischen Berner Münster nachgeht. Hierzu trägt sie die zahlreichen spätmittelalterlichen Darstellungen und Figurationen des Münster-Patrons nicht nur als ‹Vinzenz-Spuren› zusammen, sondern wertet sie auch daraufhin aus, wie sie von den unterschiedlichen Kirchenbesucher_innen wahrgenommen und verstanden werden konnten. Dadurch wird ersichtlich, wie sehr das Münster als ‹theologischer Ort› zu einem Träger von Bedeutungwerden konnte. Dominique Wyss geht in ihrem Beitrag hingegen einer ganz bestimmten Vinzenz-Darstellung aus dem Berner Münster nach:den Chorbehängen mit 18 Szenen aus Vinzenz’ Leben, die der Chorherr Heinrich Wölfli (1470–1532)kurz vor der Reformation konzipiert und für das Münster gestiftet hat. Neben einer Beschreibung der Behänge vergleicht sie sie mit ähnlichen französischen Kompositionen und bietet damit eine kunsthistorische Situierung, die erneut verdeutlicht, wie eng Repräsentation des Heiligen und Selbstdarstellung des Gemeinwesensim spätmittelalterlichen Bern verknüpft sind.
Entsprechendsind drei weitere Beiträge dieses zweiten Teils der bernischen Präsenz von Vinzenz ausserhalb des Münsters gewidmet. Adriana Basso Schaub bietet in ihrem Beitrag die erste wissenschaftliche Untersuchung überhaupt zu den Fragmenten von Vinzenz-Fresken aus dem Berner Rathaus, die 2021 auf dem Dachboden des Bernischen HistorischenMuseums wiederentdeckt worden sind. Neben der historischen Aufarbeitungder Umstände, die kurz vor 1900 zur Ablösung der Fresken im Rathaus geführt ha-
ben, geht sie auf die symbolische Bedeutung des Bildprogramms ein, das einst die kleine Ratstube und damit gleichsam das politische Herz des spätmittelalterlichen Berns geziert hat. Doch nicht nur im Zentrum, sondern im gesamten Herrschaftsgebiet wurde der Vinzenz-Kult von Berns Obrigkeit an der Wende zur Neuzeit gezielt gefördert, wie Rolf Hasler anhand von Vinzenz-Scheiben aufzeigt, welche die Stadt und das Münsterstift in Kirchen vom Oberland über das Emmental bis ins Seeland und den Oberaargau stifteten. In der historischen Situierung und stilistischen Analyse der Scheiben wird dabei überraschenderweise deutlich,dass die Stiftungen von VinzenzScheiben mit der Annahme der Reformation in Bern nicht einfach aufgehört haben. Martin Sallmann greift in seinem Beitrag daher die Frage nach dem Schicksal des Stadtheiligen nach der Reformationauf. Während er aufzeigen kann, dass Vinzenz aus dem Festkalender und von kultischem Mobiliar tatsächlich mit Annahme der Reformationziemlich umgehend verschwand, findet er neben den Scheibenstiftungen weitere Beispiele eines ‹Beharrens› des Heiligen – erst noch auf einigen wenigen Münzen oder in einer Selbstbezeichnung der Stadt, dann aber vor allem in ‹Nischen› der nachreformatorischen Berner Gesellschaft.
Den dritten Teil zu Vinzenz-Orten in der Schweiz und darüber hinaus eröffnet Susanne Zeilhofer mit einem Beitrag zur Vinzenz-Verehrung in Basel. Im Zentrum ihres Beitrags stehen die Vinzenz-Tafeln des Basler Münsters, zwei steinerne Reliefplatten mit Szenen aus der Vinzenz-Legende, die im späten 12. Jahrhundertentstanden sind. Zur kunsthistorischen Einordnung in deren Entstehungs- und Überlieferungskontext beleuchtet der Beitrag auch einen Vinzenz-Pfeiler, der etwas früher am Basler St. Leonhardsstift entstanden ist, und geht auf eine Vinzenz-Kapelle ein, die im Spätmittelalter am Münsterbergbestand. Eine Linie bis in die zeitgenössische Vinzenz-Verehrung stellt der Beitrag von Lukas Schenker her, der die Armreliquie präsentiert, welche im 12. Jahrhundert das Benediktinerkloster Beinwil erhalten hatte und die heute im Besitz des Klosters Mariastein im nördlichen Solothurner Jura ist. Die bewegte Geschichte der Reliquie ist zugleich die bewegte Geschichte der Benediktiner von Beinwil, welche der Beitrag über die Jahrhunderte hinweg bis in die neuste Zeit hinein nachzeichnet. Einen weiteren Vergleichshorizont eröffnet schliesslich der Beitrag von Bertrand Marceau, der der Vinzenz-Verehrung im Burgund bis zu den Umwälzungen durch die Französische Revolution nachgeht. Anders als weite Teile der Schweiz ist das
Burgund auch nach der Reformation eine dezidierte Vinzenz-Landschaft geblieben, sodass sich ein reiches Erbe nicht nur an Vinzenz-Orten, sondern auch an gelebter Vinzenz-Tradition erhalten hat, was im Beitrag eindrücklich geschildert wird.
Insgesamt ergibt sich daraus ein Bild, das hoffentlich die Entstehung und Ausgestaltung der ‹vincentiusfreundlichen Schweiz› etwas eingehender zu erhellen vermag. Seine Präsenz auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ist facettenreich,und in mehreren Beiträgen wird deutlich, wie eng diese Präsenz mit Fragen der Repräsentation verbunden ist:Das zeigt sich in aller Klarheit, wo es um die politische Selbstdarstellung Berns beim Bau des Münsters oder bei der Etablierung einer Art von ‹corporate identity› anhand von Wappenscheiben geht, es zeigt sich aber auch in den eher reflexiven Akten von Selbstvergegenwärtigung, wie sie durch die Ratshausmalereien nicht weniger als durch die Ausgestaltung des Münsters, durch die Basler VinzenzTafeln oder durch die literarische Überlieferung seiner Legende ermöglicht wurden.
Wasden Vinzenz-Ort Bern betrifft, unterstreichendie Beiträge,wie sehr mansichinder Stadt im ausgehendenMittelalter um eine verstärkte Etablierungdes Vinzenz-Kultes bemühthat,sei dasdurch Einzelpersonenwie Wölfli,den Stifterder Chorbehänge – anzuführenwäreaberauchbereits etwa JohannesBäli(ca.1400–1465), der1462inKölndas Haupt des Vinzenz stahl und nach Bern überführte, um eine möglichst eindrucksvolle Reliquie des Heiligen vor Ortzuhaben –, 14 sei es durch dasGemeinwesen(so stiftete und unterhielt die Metzgernzunft, dieVinzenz ebenfalls zum Patronhatte,im neuen Münster dieBulzingerkapellemit einem Vinzenz-Altar),15 oder sei es durch dieObrigkeitselbst, deren Förderung des Vinzenz-Kultes sichbereits etwa in der Gründung desVinzenz-Stifts 1484/85 zeigt(womit sich dieStadt vomEinfluss derDeutschordensritterlossagte),16 dieabererneutauchinden zahlreichenStiftungenvon Wappenscheiben deutlich wird. DieBeiträgebeleuchtendamit ausder Perspektiveder Heiligengeschichte,wie sehrsichBern an der Wende zur Neuzeit darum bemühthat,auchauf religionspolitischer
14 Zu Bäli vgl. den Beitrag von Maria Lissek im vorliegenden Band, sowie Immenhauser,Hans Bäli.
15 Vgl. den Beitrag von Martin Sallmann im vorliegenden Band.
16 Dazu Tremp-Utz,Kollgiatsstift St. Vinzenz, besonders 35.
Ebene eine selbstbestimmteVormachtstellung einzunehmen17 – eine Bemühung, die mit derAnnahme der Reformation 1528ihren Höhepunkt undAbschluss fand:Von nunanhatte die BernerObrigkeitauch in Religionsfragen aufihrem Territorium dasalleinige Sagen.18 So sehr sichHeiligenverehrung und Reformation inhaltlichzuwidersprechenscheinen,deutetsichdaher aus derallgemeinerenPerspektive derpolitischenEntwicklungenan, dass sie als unterschiedliche Facettendes einen BemühensumAutonomie und Einfluss verstandenwerdenkönnen.
Aber hat die ‹Vincentiusfreundlichkeit› dem spätmittelalterlichen Bern oder auch der Vinzenz-Landschaft Schweizdamit eine spezifische Prägung verliehen, die auf die Präsenz des Heiligen und eine vertiefte Kenntnis seiner Legende zurückzuführen wäre?Die vorliegenden Beiträge zielen nicht darauf ab, mentalitätsgeschichtliche Rückschlüsse zu ziehen.19 Immerhin machen sie aber aus unterschiedlichenPerspektiven deutlich,dass Vinzenz hierzulande vor allem als siegreicher Märtyrer interessierte. Diesen Siegesaspekt haben auch schon Prudentius und Augustin – unter Ausschmückung des Namens, der vom lateinischen vincere («siegen») kommt – in Vinzenz’ Martyrium hervorgehoben,20 doch während er später etwa im Burgund (nicht zuletzt aufgrund des Klangs seines Namens)vor allem als Patron der Winzer verehrt und entsprechend auch mit Weinstock oder Rebe dargestellt werden sollte,21 werden im Relief in Basel ebenso wie auf den Berner Chorbehängen die wiederholten Siege des gemarterten Heiligen über die diversen Drangsale dargestellt, denen er ausgesetzt ist, und das typische Emblem, das ihn hierzulande durchgehend ausweist, ist die Märtyrerpalme als Siegeszeichen22 .
17 Vgl. Leuzinger,Berns Griff nach den Klöstern.
18 Vgl. Sallmann,Reformation in Bern, 150.
19 Dies kann auch gar nicht Ziel der ‹Heiligengeografie› sein, vgl. Flachenecker,Patrozinienforschung, 150–152.
20 Vgl. den Betrag von Dominik Bärsch im vorliegenden Band; Maria Lissek zeigt in ihrem Beitrag auf, wie sehr dieses Motiv auch noch in der legenda aurea aufgegriffen wurde.
21 Dazu der Beitrag von Bertrand Marceau im vorliegenden Band;imTirol, wo Vinzenz als Patron der Holzarbeiter Verehrung fand, wurde er oft mit einer Flösserstange oder einer Axt dargestellt, vgl. Beitl,Verehrung des hl. Vinzenz, 243–248.
22 Vgl. die Beiträge von Maria Lissek, Rolf Hasler und Martin Sallmann im vorliegenden Band.
Ob ihn das im aufstrebenden Bern zu einem besonders attraktiven Heiligen gemacht und es das allgemeine Bestreben beförderthat, seinen Kult in Bern weiter zu stärken, lässt sich aus den hier vorgestellten Quellen allerdings nicht sagen. Entsprechendmachen die Erhellungen des vorliegenden Bandes auch deutlich,was weiterhin im Dunkeln liegt. Dass bloss eine Auswahl an Vinzenz-Orten, ‐Darstellungen und ‐Vergegenwärtigungen besprochen werden kann, ist bereits hervorgehoben worden. Für die Frage nach der Bedeutung des Heiligen für die Landschaft wäre insbesondere auch eine eingehendere Untersuchung der Vinzenz-Liturgien interessant, die in den verschiedenen Bistümern auf dem Gebiet der heutigen Schweiz in Gebrauchwaren,23 und vor allem wäre zu fragen, wie der Heilige in spätmittelalterlichen Predigten in Erinnerunggerufen wurde, um einen Eindruck von der inhaltlichen Ausgestaltung der Vinzenz-Frömmigkeit in Bern und der Schweiz zu erhalten.24 Bereits so hoffen wir aber, mit dem vorliegenden Band und den verschiedenen Einblicken, die seine Kapitelindie Verehrung des heiligen Vinzenz in Bern, der Schweiz und darüber hinaus bieten, eine schillernde Heiligenfigur samt ihrer Bedeutung für die besprochenen Regionen zum Leuchten gebracht zu haben.
3. Vinzenz-Dankbuch:Zur Verwirklichung dieses Bandes
Im Jahr 1448 beginnt der Berner Schultheiss, Thüring von Ringoltingen (1415–1483), die Auflistung aller ausstehenden Schulden zur Finanzierung des Berner Münsterbaus. Dieses Werk ist in die (Berner)Geschichte als das ‹St. Vinzenzenschuldbuch› eingegangen, da die Betroffenen zu Ehren des
23 Ursprünglich war auch ein Beitrag zur Berner Vinzenz-Liturgie vorgesehen, der bedauerlicherweise nicht realisiert und in den Band aufgenommen werden konnte. Zu den historischen Bistümern auf dem Gebiet der heutigen Schweiz vgl. den Beitrag von Ueli Zahnd;zueinigen liturgischen Texten vgl. oben Anm. 13.
24 Eine kurze Erwähnung findet Vinzenz beispielsweise in den Ablasspredigten, die 1476 der berühmte Prediger Johannes Heynlin von Stein († 1496)inBern hielt, um Geld für den Münsterbau zusammenzutrommeln, vgl. von Greyerz,Ablasspredigten, 133 fund 147–152.
Kirchenpatrons zur Kasse gebeten wurden.25 Im Lichte von Vinzenz stehen auch die Herausgebenden dieses Bandes in der Schuld, und zwar mit Worten des Dankes an jene, die an Entstehungund Realisierung dieses Projektes beteiligt waren.
Ein solches Vinzenz-Dankbuch beginnt an erster Stelle mit dem Dank an die Autor_innen des Bandes. Sie haben sich nicht nur auf das Projekt eingelassen und ihre jeweiligen Expertisenzur Frage nach der spätmittelalterlichen Vinzenz-Verehrung zur Verfügung gestellt. Vielmehr haben sie in einem zweistufigen Entstehungsprozess Anteil gehabt an der Entstehung: Der Finalisierung der Beiträge ging ein zweitägiger Workshop voraus, in dem gemeinsam die jeweiligen Zugänge und Thesen diskutiert wurden, um so die Kohärenz des Bandes zu erzielen, Verbindungen zu ziehen und Lücken aufzudecken. Auch im Nachgang standen die Autor_innen miteinander in Kontakt, sodass dieser Band ein besonderes Gemeinschaftsprojekt darstellt. Wir danken allen Beteiligten für ihre Offenheit für diesen Prozess und ihr Mitdenken über die Bedeutungdes spätantiken Märtyrers im Gebiet der heutigen Schweiz.
Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle an Adriana Basso Schaub, die nicht nur die Ergebnisse ihrer Masterarbeit für die Fragestellungdes Bandes fruchtbar gemacht hat, sondern als damals noch studentische Hilfsassistenz den Autor_innen-Workshopbetreute und die hilfreiche sowie umsichtige Redaktionsarbeit an den Texten vornahm.
Auch ein Vinzenz-Dankbuch kommt ohne den Bezug zum Monetären nicht aus. Die Finanzierung des Bandes geht auf die Unterstützung vieler Institutionen zurück. Wir sind ihnen zu grossem Dank verpflichtet, dass so nicht nur der Vorbereitungsprozess ermöglicht wurde, sondern auch die Publikation im Open-Access-Format. Gerade mit Letzterem erhoffen wir uns ein breites Lesepublikum, um den populärenSchweizer Heiligen in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Der grosse Dank für die finanzielle Unterstützung gilt dem Institut für Historische Theologie der Universität Bern (Prof. Dr. Katharina Heyden und Prof. Dr. Martin Sallmann), der Faculté autonome de théologie protestante und dem Institut d’histoire de la Réfor-
25 Auf das Vinzenz-Schuldbuch gehen die Beiträge von Richard Němec-Tobler und Maria Lissek in diesem Band ein. Ausführliche Darlegungen zu dieser Quelle finden sich bei Gerber,Stifter und Stifterinnen.