IM BANN DER KONJUNKTUR
Entstehung und Institutionalisierung der Konjunkturbeobachtung in der Schweiz, 1932 – 1980
Marion RoncaIm Bann der Konjunktur
Entstehung und Institutionalisierung der Konjunkturbeobachtung in der Schweiz, 1932–1980
Schwabe Verlag
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© 2024MarionRonca,veröffentlichtdurchSchwabe VerlagsgruppeAG,Basel,Schweiz AbbildungUmschlag:SchweizerWoche «Konjunkturwielangenoch?»,1947 Korrektorat:AnnaErtel,Göttingen
Cover:iconabaselgmbh,Basel
Layout:iconabaselgmbh,Basel
Satz:3w+p,Rimpar
Druck:Hubert& Co.,Göttingen
PrintedinGermany
ISBNPrintausgabe978-3-7965-5052-2
ISBNeBook (PDF)978-3-7965-5053-9
DOI10.24894/978-3-7965-5053-9
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Für Lior und Louis
innerer Zerstrittenheit und politischer Bedeutungslosigkeit:die ersten Jahre der Kommission für
1.5 Die Gründung der Konjunkturforschungsstelle: Konjunkturforschung im Auftrag der Wirtschaft ..
1.5.1 Konjunkturforschung unter Ausschluss der Öffentlichkeit ... 93
2ImKreislauf
2.1 Die KbK während der Kriegsjahre:neues Selbstverständnis, methodische Dissonanzen und verwaltungsinterne Konkurrenz ... . 101
2.1.1 Eine wissenschaftliche Anleitung der Wirtschaftspolitik ..
2.1.2 Statistik als «objektiver»Diener der Wirtschaftspolitik ..
2.1.3 Der umstritteneZweck einer Schweizer Produktionsstatistik 109
2.2 Vonder Krisenerwartung zur «Überkonjunktur». ..
2.2.1 «Überkonjunktur»statt Deflation ..
2.2.2 Ein Stabilisierungsausschuss für die «Überkonjunktur».
2.3 Vonder «Normalisierungder Überkonjunktur» zur «normalen»Hochkonjunktur
2.3.1 Ein krisenpolitisches Gutachten zur «Normalisierung» der Konjunktur
2.3.2 Eine Rückkehr der «Überkonjunktur »?
2.3.3 Institutionelle Aufgabenteilung und Konkurrenzverhältnis zwischen KbK und DAB
2.3.4 Der Beratende Ausschuss für Konjunkturfragen von 1957 und die umstritteneDeutung der Hochkonjunktur
2.4 Auf der Suche nach dem «Gesamtbild».
2.4.1 Volkseinkommensreihen und Aussenhandelsindizes als Konjunkturindikatoren
2.4.2 Vomobjektivenzum subjektiven Gesamtbild.
2.4.3 Ein langfristiger Plan der Wirtschaftspolitik
2.4.4 Vom«Konjunkturbewusstsein» zum «Entwicklungsbewusstsein».
3ImWandel
3.1 Konjunktur oder Wachstum
3.1.2 Wachstum als historisches Ereignis
3.1.2 Die KbK und das Wachstumsziel der OECD
3.1.3 «Wachstum»als neue Sinngebung der Prosperität und das Ende der korporatistischen Konjunkturpolitik
3.2 Die Konjunkturbeobachtung zwischen staatlichen, wissenschaftlichen und politischen Ansprüchen ...
3.2.1 Die Nationalökonomie als politische Wissenschaft
3.2.2 Ein Schweizer Institut für Konjunkturforschung
3.2.3 Die Pluralisierung der Konjunkturmeinungen innerhalb der Bundesverwaltung 213
3.3 Die «lange Frist»inden volkswirtschaftlichen Expertenberichten der 1960er-Jahre ..
3.3.1 Infrastrukturausbau als Investition in die Zukunft
3.3.2 Die langfristige Schätzung der Bundesfinanzen durch die Kommission Jöhr 222
3.3.3 Die Entwicklungsperspektiven der Schweizer Volkswirtschaft
3.4 Konjunktur und Wachstum als konkurrierende Sinngebungen in der Wirtschaftskrise von 1975
3.4.1 Wachstumsverlangsamung, Konjunkturrückgang oder Strukturwandel?.
3.5 Wem gebührt die Deutungshoheit über die Konjunktur?.
3.5.1 Ein Schweizerisches Institut für Konjunkturforschung
3.5.2 Das
Jedes Buch braucht seine Zeit, jede Forschung hat ihren Kontext undihre Wegbegleiter_innen.Ohne die Wirtschaftskrisevon 2008/09wäre «ImBann der Konjunktur»wohl nicht entstanden,zeigte dieKrise doch erneut undauf unvergleichlicheWeise, dass die Wirtschaft undihr Werden beiallen verfügbarenDaten, Theorien undModellen unvorhersehbar bleiben – und damit einen gleichermassen faszinierenden wie komplexen Forschungsgegenstand bilden. Im Rahmen eines Seminars zuJohn Maynard Keynes, dasich 2010 bei Tobias Straumannbesuchte, gewann ich einen ersten Eindruck von derungeheuren Transformationskraftder Weltwirtschaftskrise undihren Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.Die auch heute nochbestehenden Schwierigkeiten, dieUrsachender Krise zu bestimmen, wecktenmein Interesse für dieKonjunkturbeobachtung, ihre Bedingungen und ihrenWandel.
Monika Dommann, die meine Dissertation als Erstbetreuerin begleitete, möchte ich dafür danken, dass sie eine Finanzierung meiner Dissertation möglich machte, ohne die das vorliegende Buch nicht existierenwürde. Auch bin ich ihr für ihre kritischen Fragen und Einwände sehr dankbar. Sie haben mich und mein Forschungsvorhaben weitergebracht.
Tobias Straumann, der meine Dissertation als Zweitbetreuer begleitete, bin ich zu besonderem Dank verpflichtetfür die fruchtbare Streitfrage, ob die drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine einzige Konjunkturphase bildeten oder einen Wachstumsprozess. Sie brachte mich auf eine zentrale Problematik meines Forschungsgegenstands.
Die Dissertation entstand als Teil des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Sinergia-Projekts «Medien der Genauigkeit». Der Austausch mit Lisa Cronjäger, Larissa Dätwyler, Monika Dommann, Alexander Honold, Aurea Klarskov, Lucas Knierzinger, Markus Krajewski, Pascal Noirjean, Jonas Schädler, Antonia von Schöning,Ralph Ubl und Mario Wimmererlaubte mir, neue und bereichernde Perspektiven auf meine Forschung einzunehmen. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Einen besonderen Dank möchteich ausserdem Verena Halsmayer, Monika Wulz, HarroMaas, Catherine Herfeld, Peter-Paul Bänziger, Laura Rischbieter, Roman Köster, Laetitia Lenel, Thierry Rossier,Florian Müller, Andrej Markovic, Catherine Davies, Karin Schraner, Ursina Klauser und Gianna Weber für ihr In-
teresse an meiner Arbeit und ihre wertvollen Rückmeldungen im Rahmen von Tagungen, Workshops oder anderweitigen Zusammenkünften aussprechen.
Nach der Verteidigung ist vor der Publikation:Einen grossen Dank möchte ich Caspar Hirschi, Karen Lambrecht, Florian Schui, Roman Rossfeld, Caspar Pfrunder, Maxim Keller und Dana Brahm aussprechen für ihre aufmerksame Lektüre meiner Texte im Rahmen des Kolloquiums des Fachbereichs Geschichte an der Universität St. Gallen. Das mir entgegengebrachte Wohlwollen und ihr Interesse motivierten mich sehr während der Überarbeitung des Manuskripts.
Dem Schwabe Verlag, Fabrice Flückiger, Harald Liehr und Ruth Vachek möchte ich herzlich für die Unterstützung bei der Buchproduktion danken.
VonHerzen möchte ich schliesslich meiner Familie danken, die mich und meine Dissertation mit Geduld und Humor über die langen Jahre begleitete und meinen grossen Zeit- und Energieaufwand auch dann nicht in Frage stellte, als er auf ihre Kosten ging.
Als Hans Würgler, Leiter der Konjunkturforschungsstelle (KOF)der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), 1988 anlässlich des 50-jährigen Bestehens der KOF ein Referat über die Konjunkturforschung in der Schweiz und über ihre Bedeutung für die Wirtschaftspolitik hielt, blickte er selbst nicht nur auf drei Jahrzehnte Forschungstätigkeit, sondern auch auf keine geringeZahl von Kontroversen, Polemiken und Missverständnissen zurück, die das Verhältnis von Wissenschaft und Politik geprägt hatten. Würgler schloss sein Referat mit dem Fazit:
«Ich habe mich schon oft gefragt, ob schweizerische Wirtschaftspolitiker vielleicht nichts Genaues oder zumindest nichts Hinreichendes wissen wollen, um dann mit Vorurteilen, Vermutungen und Halbwissen ein leichteres Spiel in ihrer Interessenverfolgung zu haben. Eine solche Haltung ist kurzsichtig und kommt langfristig teuer zu stehen. Die volkswirtschaftlichen Kosten falscher Unternehmensplanung wie falscher Wirtschaftspolitik sind erwiesener Massen [sic!] auch in der Schweiz enorm. Deshalb sollte es evident sein, dass ein grösserer Aufwand sich lohnt für eine ‹permanente Konjunkturforschung im Dienste von Wirtschaft und Politik›.»1
In den späten 1970er-Jahren hatte HansWürgler versucht, die KOF als massgebende Institution für die Beratung der Konjunkturpolitik des Bundes und der Wirtschaft zu etablieren, nachdem sie immer stärkerden Rückhalt jener Industriellen verloren hatte, die sie 1938 ins Leben gerufen und ihre Forschungstätigkeit finanzierthatten. Doch anstatt der KOF die Deutungshoheit über die Konjunktur zu übertragen, hatten Bundesrat und Bundesverwaltung auf eine eigene, verwaltungsinterne Lösung gesetzt, bei der nicht die Wissenschaft, sondern der Staat mit einer laufendenBeobachtungder Konjunktur beauftragt wurde. Damit starben nicht nur Würglers Pläne einer wissenschaftlichangeleiteten Konjunkturpolitik, sondern auch die Konjunkturbeobachtungals wissenschaftliche und politische Streit- und Sinngebungspraxis, wie sie seit den frühen1930er-Jahren Bestand gehabt hatte und in der sich nicht nur die Unergründlichkeit des Konjunkturphänomens, sondern auch die politische Bedingtheit der öffentlichen Sinngebungendes Wirtschaftswandels zeigten. Würglers Kritik an der «falschen
1 Würgler, Hans:Permanente «Konjunkturforschung»imDienste von Wirtschaft und Politik, 27. 05. 1988, KOF-Archiv Archivalien SGK.
Wirtschaftspolitik»war dabeiAusdruckseiner Enttäuschung über die wachsende Vereinnahmungder Konjunkturbeobachtungdurch Politik und Staat. Dabei verkannte Würgler aber, dass die Wissenschaft ebenso oft in das Hoheitsgebiet der Politik vorgedrungen war, ja dass Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik sich nicht nur gegenseitig bedingten und legitimierten, sondern nur als wissenschaftlich-politische Streit-und Sinngebungspraxis bestehen konnten.
In den letzten 50 Jahren haben die Konjunktur und die Frage nach ihrer Beeinflussbarkeit durch politischeMassnahmen an Bedeutung verloren. Die Konjunktur, wenn sie denn überhaupt noch als eigenständige Erscheinung begriffen wird, hat dadurch ihr Odium eines schicksalhaften Zusammenspiels aller Wirtschaftskräfte eingebüsst. Sie steht heute hauptsächlich für einequantifizierbare Momentaufnahme der wirtschaftlichen Verhältnisse und ruft kaum noch Konjunkturpolitiker_innen zur «Steuerung»der Wirtschaft auf den Plan. Entsprechend klar erscheinen die Zuständigkeiten von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaften geregelt:Die Wissenschaft beschreibt und erklärt die Funktionsweise der Wirtschaft, während die Politik entscheidet, wann und auf welche Weise vom Gebotder Handels- und Gewerbefreiheit abgewichen werden soll.
Als Adam Smith vor rund 250 Jahren «The Wealth of Nations»schrieb, existierte noch keine vergleichbare Trennung zwischen dem Wissen über die Märkte und der Wirtschaftspolitik. Oder, wie es der deutsche Soziologe Max Weber ausdrückte, es gab keine «prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des ‹Seienden› und des ‹Seinsollenden›».2 Vielmehr waren Smiths Vorstellungeneines wie durch eine «unsichtbare Hand» sich selbst regulierenden Marktes und seine Forderungen nach einer wirtschaftsliberalen Ordnung, bei der weder Könige noch Minister die Wirtschaft überwachen würden, ineinander verschränkt.3 Weil der Markt sich selbst regulierte, brauchte es keine staatliche Korrektur, und weil der Staat nicht eingriff, war der Markt imstande,sich selbst zu regulieren. Wie der Statistikhistoriker Alain Desrosières im Hinblick auf die Entsprechung von wirtschaftspolitischem Regime und statistischen Erhebungen schreibt,handelte es sich dabei um eine «Ko-Konstruktion», bei der die Beschreibung der Wirtschaft und das herrschaftliche Handeln zur Übereinstimmung gebracht wurden.4
2 Weber, Max:Die «Objektivität»sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in:Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1), 1904, S. 22–87.
3 Smith, Adam:AnInquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, New York 187719,S.277–278, 354.
4 Im Falle des Liberalismus beschränkte sich die «Ko-Konstruktion»auf die Einschränkung der staatlichen Handlungskompetenzen und die Beschreibung des Marktmechanismus und beinhaltete keinen statistischen Apparat, da Marktinformationen gemäss der liberalen Lehre frei zirkulieren und der liberale Staat keine Verwendung für diese hatte. Desrosières, Alain:Managing the Economy, in:Porter, Theodore M.; Ross, Dorothy (Hg.): The Modern Social Sciences, Bd. 7, Cambridge 2008 (The Cambridge History of Science), S. 557–558.
Die klassische Theorie und die liberale Staatsordnung gerieten angesichts wiederkehrender Wirtschaftskrisen und des Aufkommens der sozialen Frage spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Druck. «Das Seiende»entsprach nicht mehr zwangsläufig dem «Seinsollenden», wodurch sich zwei Fragen stellten:Wie war das «Seiende»durch staatliche Intervention so zu gestalten, dass es dem «Seinsollenden» entsprach?Und wie liess sich der Eingriff in das «Seiende»mit einer neuen wissenschaftlichen Ordnung rechtfertigen?Die Kritik an den herrschenden sozialen Bedingungen und das Versagen der Wissenschaft, die Wechsellagen der Wirtschaft zu erklären, trennten Wissenschaft und Politik, und weil keine Wiedervereinigung möglich war, stellte sich die Frage, wie die noch herrschende liberale Ordnung legitimiert werden konnte.5
Die meisten Krisentheorien des 19. Jahrhunderts versuchten, die Wechsellagen der Wirtschaft innerhalbdes klassisch-liberalen Ordnungverbundes zu erklären, ohne die Annahme eines sich selbst regulierenden Marktes und des wirt-
5 Einen interessanten Fall bildet dabei Grossbritannien. Im Kontext der Überarbeitung des Poor Law und der Frage, ob und inwieweit der Nahrungsspielraum ausreichte, um die Bevölkerung zu ernähren, entbrannte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Nationalökonomen ein Streit über die Gültigkeit der deduktiv gewonnenen klassischen Lehre. Die politischen Ökonomen David Ricardo und John Stuart Mill sahen dabei das Problem der sinkenden Erträge und das damit verbundene Armutsrisiko als Folge des Grundbesitzes der Aristokratie und der Church of England und plädierten deshalb für kapitalistische Investitionen in neue Industrien. Der Philosoph William Whewell hingegen befürchtete, dass Ricardos Überlegungen den revolutionären Tendenzen Auftrieb geben und auch in England eine politische Radikalisierung begünstigen könnten. Um Ricardo zu diskreditieren, versuchte Whewell, die politische Ökonomie als empirische Wissenschaft in der Tradition von Francis Bacon zu institutionalisieren, indem er ausschliesslich induktive, auf Statistik basierende Praktiken als wissenschaftlich anerkannte und die Gründung der Statistical Society in London veranlasste. Durch seine Definition der «wissenschaftlichen»politischen Ökonomie versuchte er diese von der Politik zu trennen, also den Ordnungsverbund zwischen Politik und Wissenschaft aufzulösen. Mit seinem Aufsatz «Onthe Definition of Political Economy;and on the Method of Philosophical Investigation in that Science»gelang es John Stuart Mill jedoch, die deduktive Methode zur Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu legitimieren, indem er theoretische Überlegungen als «Gedankenexperimente»mit naturwissenschaftlichen Laborexperimenten gleichsetzte. Gemäss Mill waren diese Gedankenexperimente der empirisch-induktiven Methode überlegen, weil sie imstande waren, Gesetzmässigkeiten innerhalb der komplexen sozialen Realität zu identifizieren. In Grossbritannien geriet also der klassisch-liberale Ordnungsverbund nicht primär durch den Sozialismus, der sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formieren sollte, unter Druck, sondern durch das britische Establishment, das den aristokratischen Grundbesitz zu erhalten suchte. Die soziale Frage und das Krisen- bzw. Konjunkturphänomen, die durch den Kapitalismus deutlich in Erscheinung traten, bildeten gleichwohl den Ausgangspunkt für die Kritik am klassisch-liberalen Ordnungsverbund. Zur Kontroverse zwischen Ricardo, Whewell und Mills und der Definition der politischen Ökonomie als Wissenschaft siehe Maas, Harro:Economic Methodology. Ahistorical introduction, Abingdon, New York 2014, S. 8–14.
schaftlichen Liberalismus in Frage zu stellen. Da jedoch keine dieser Theorien das Aufkommen von Wirtschaftskrisen gesamthaft erklären konnte, bildete sich zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Krisenforschung heraus, die die Wechsellagen der Wirtschaft nicht mehr theoretisch, sondern empirisch, also ausgehend von verfügbarenStatistiken zum Wirtschaftsleben zu ergründen versuchte.6 Diese Krisenforschung, aus der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die empirische Konjunkturforschung hervorgehen sollte, wies gegenüberden Krisentheorien mehrere Vorteile auf. Da sie auf empirischen Beobachtungen baute, erfüllte sie –zumindest vorderhand – den Anspruch einer objektiven, also werturteilsfreien Erkenntnis. Da sie nicht primär allgemeingültige Erkenntnisse anstrebteund sich oft damit begnügte, den Verlaufvon spezifischen Wechsellagen zu erklären, ergab sich eine grössere Übereinstimmung zwischen der Erklärung und der Wirtschaftslage, wie sie von den einzelnen Akteur_innen wahrgenommen wurde. Die spezifischeBestimmung der Wirtschaftslage erlaubte schliesslich ein punktuelles Abweichen des Gebots der Nicht-Intervention, da sie eine Erklärungfür das zeitweilige Aussetzen des Gleichgewichts lieferte, ohne es grundsätzlich in Frage zu stellen.7 Dadurch brachte die Konjunkturforschung die wissenschaftliche und die wirtschaftliche Ordnung vorübergehend wieder in Einklang.
Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und die Erfahrung einer länger andauernden Arbeitslosigkeitsetzten den klassisch-liberalen Ordnungsverbund, die Gleichgewichtsannahme und das Gebot der staatlichen Nicht-Intervention in die Wirtschaft mehr denn je unter Druck. Mit John Maynard Keynes’ «Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes», die erstmals eine überzeugende Erklärungfür das Phänomen wiederkehrender Wirtschaftskrisen und das Andauern derselben lieferte, entstand ein neuer wissenschaftlich-politischer Ordnungsverbund,der das Potenzial hatte, den klassisch-liberalen Ordnungsverbund dauerhaft zu ersetzen. Keynes verwarf in seiner «Allgemeinen Theorie»die Idee des Marktgleichgewichts als Normalzustand der Wirtschaft
6 Mitchell, Wesley C.: Business Cycles, Berkley 1913, S. 3–4.
7 In der Schweiz legten erst die Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung von 1947 die Grundlage für eine reguläre Gesetzgebung zur Bekämpfung drohender oder bereits eingetretener Wirtschaftskrisen. Die Arbeitsbeschaffungsmassnahmen der Wirtschaftskrise von 1920–1923 erfolgten auf Grundlage der kriegsbedingten Vollmachten des Bundesrats. Ausserhalb des Notrechts waren Massnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur auf dem Weg des dringlichen Bundesbeschlusses durch die Bundesversammlung möglich. Sprechakten wie Verweisen auf eine stark gestiegene Arbeitslosigkeit kam bei der Legitimierung der Massnahmen deshalb eine besondere Bedeutung zu. Fahrni, Dieter:Die Nachkriegskrise von 1920–1923 in der Schweiz und ihre Bekämpfung, unveröffentlichte Lizenziatsarbeit, Basel 1977, S. 53–83. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Unterstützung der Arbeitslosen, in:Bundesblatt 3(22), 1919, S. 338–382.
und beschrieb dieses vielmehr als Ausnahmezustand.8 Dadurch, dass er plausibel erklären konnte, warum eine ungleichgewichtige Wirtschaft die Norm darstellte, lieferte Keynes eine Legitimation für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zum Erhalt der Nachfrage.9 Der Zweite Weltkriegund die aufrüstungsbedingte Ausdehnung der Staatsausgabenerbrachten vorübergehend den Nachweis, dass die Arbeitslosigkeitdurch defizitäre Nachfragesteuerung erfolgreichbekämpft werden konnte.10
Anders als erwartet und von der keynesianischen Lehre vorausgesagt, stieg nach dem Krieg infolge des Rückbaus der staatlichen Nachfrage durch die Demobilisierung die Arbeitslosigkeit nicht.11 Vielmehr zeichnetensich die Nachkriegsjahrzehnte bis Mitte der 1970er-Jahre durch einen ausgeprägten Nachfrageüberschuss aus. Da die Arbeitslosigkeit, wenn sie denn überhaupt gegeben war,viel geringer ausfiel als während der Weltwirtschaftskrise, fand Keynes’ Empfehlung einer defizitären Nachfragesteuerung zunächst keinenAnwendungskontext, der es erlaubt hätte, ihreWirksamkeit und ihren Erklärungswert zu prüfen. Die meisten europäischenLänder und die USA beschäftigten sich, ungeachtetder Frage, ob, in welchem Mass und mit welcher Politik sie sich konkret zum Keynesianismus bekannten, in den drei Jahrzehnten nach dem Kriegsende stärkermit Fragen der Preisstabilität und der Modernisierung des Produktionsapparates zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit als mit Fragen der Arbeitslosigkeitsbekämpfung durch staatliche Arbeitsbeschaffung.12
8 Keynes, John Maynard:The General Theory of Employment, Interest and Money, Bd. VII, Cambridge 20133 (The Collected Writings of John Maynard Keynes), S. 3.
9 John Maynard Keynes vertrat zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg eine differenzierte Haltung bezüglich der Anwendung einer antizyklischen Finanzpolitik als Mittel zur Senkung oder Verhinderung der Arbeitslosigkeit. Er empfahl Budgetdefizite als letztes Mittel zur Aufrechthaltung des Konsums. Zu Keynes’ Verständnis der Fiskalpolitik als Mittel der Globalsteuerung siehe Peden, Kevin D.: Keynes and British economic policy, in:Backhouse, George C.; Baterman, Bradley (Hg.): The Cambridge Companion to Keynes, Cambridge 2006, S. 115–116. 10 Besonders eindrücklich bildeten sich die Arbeitslosenzahlen in den USA zurück. Betrugen diese bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 rund 17 %der arbeitstätigen Bevölkerung, beliefen sie sich in den Jahren 1943, 1944 und 1945 auf weniger als 2%.Saland, Walter S.: The Spread of Keynesian Doctrines and Practices in the United States, in:Hall, Peter A. (Hg.): The Political Power of Economic Ideas:Keynesianism across Nations, Princeton 1989, S. 45. In der Schweiz sank die Arbeitslosigkeit von 2,1 %1939 auf 0,3 %inden Jahren 1943–1945. Degen, Bernard:Arbeitslosigkeit, in:Historisches Lexikon der Schweiz, 09. 12. 2013. Online:https:// www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/013924/2013-12-09/, Stand:20. 01. 2022.
11 French, Michael:U.S. Economic History Since 1945, Manchester, New York 1997, S. 39. Nützenadel, Alexander:Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, S. 64–66, 72–73. 12 Keynes’ «Allgemeine Theorie»und die daraus resultierenden Politikempfehlungen erfreuten sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg internationaler Beliebtheit, ihre Anwendungen unterschieden sich je nach Land teilweise erheblich. So fanden in den USA noch wäh-
Die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegszeit trug auch dazu bei, dass die empirische Konjunkturforschung fortbestand. Wie die Wirtschaftskrisen war sie nach Kriegsende unerwartet eingetreten, aber im Gegensatz zu diesen liess sie sich nicht mit Keynes’ «Allgemeiner Theorie»erklären.13 Die laufende Analyse
rend der Weltwirtschaftskrise bereits protokeynesianische Ideen einer fiskalischen Nachfragesteuerung in politischen Kreisen Anklang und in einem gewissen Rahmen auch Anwendung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nach dem Krieg konnte sich jedoch der Entwurf eines «Full Employment Acts»nicht durchsetzen. Der «Employment Act»von 1946 sah zwar eine Maximierung der Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft vor, präzisierte aber nicht die Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollten, weshalb der Historiker Saland die Akzeptanz der keynesianischen Grundsätze in den USA als limitiert erachtet. Die Arbeitslosigkeit beschäftigte die Behörden zwar auch in der Nachkriegszeit, sie war jedoch insgesamt viel weniger stark ausgeprägt als während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Saland:The Spread of Keynesian Doctrines and Practices in the United States, 1989, S. 47. French:U.S. Economic History Since 1945, 1997, S. 39–45. In Grossbritannien verhinderte zunächst die Verwaltungspraxis der Treasury eine breite Rezeption von Keynes’ Ideen während der Weltwirtschaftskrise. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Wirtschaftsplanung und Nationalisierung an Zustimmung verloren, etablierte sich der Keynesianismus erst 1947, als die regierende Labour-Partei von Nationalisierung der Wirtschaft und Planung als wirtschaftspolitischen Gestaltungswerkzeugen Abstand nahm und Stabilisierung zu ihrer zentralen Zielsetzung machte. Weir, Margaret:Ideas and Politics:the Acceptance of Keynesianism in Britain and the United States, in:Hall, Peter A. (Hg.): The Political Power of Economic Ideas:Keynesianism across Nations, Princeton 1989, S. 68–69. In Frankreich setzte sich der Keynesianismus hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext des Marshall-Plans und unter dem starken Einfluss der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC)durch. Wie Pierre Rosanvallon argumentiert, gingen der Wiederaufbau des Landes und Keynes’ makroökonomisches Rahmenkonzept dabei eine strukturelle Verbindung ein, die Variablen wie Wachstum, Beschäftigung und Kaufkraft zu wirtschaftspolitischen Zielsetzungen machte. Rosanvallon, Pierre:The Development of Keynesianism in France, in:Hall, Peter A. (Hg.): The Political Power of Economic Ideas:Keynesianism across Nations, Princeton 1989, S. 187–188. Deutschland bekannte sich mit dem Stabilitätsgesetz von 1967 nicht nur spät zum Keynesianismus, sondern verabschiedete damit eine im internationalen Vergleich besonders vielseitige Ansammlung an volkswirtschaftlichen Instrumenten. Das Land fand relativ schnell aus der Rezession von 1967 heraus, schaffte es aber trotz antizyklischer Fiskalpolitik in den 1970er-Jahren, der Inflation Herr zu werden, weshalb das keynesianische Experiment zu Beginn der 1980er-Jahre zum Erliegen kam. Nützenadel:Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, 2005, S. 310. Gaul, Claus-Martin:Konjunkturprogramme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland:Einordnung und Bewertung der Globalsteuerung von 1967 bis 1982, in:InfoBrief (WD5–3010–009/09), 2009, S. 10–15. Zum deutschen Versuch einer volkswirtschaftlichen Globalsteuerung und der Verwissenschaftlichung der Bundespolitik siehe auch Schanetzky, Tim:Die große Ernüchterung:Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007.
13 Hoover, Kevin D.: Doctor Keynes:economic theory in adiagnostic science, in:Backhouse, Roger E.; Baterman, Bradley (Hg.): The Cambridge Companion to Keynes, Cambridge 2006, S. 78–97.
und Beurteilungder Wirtschaftslage auf der Grundlage von empirischen Daten behielt deshalb auch nach dem Aufkommen des Keynesianismus als neuer wissenschaftlich-politischer Ordnungsverbund die Funktion einer punktuellen Überbrückung der theoretischen und politischen Inkongruenzen. Die punktuelle Bestimmungder Wirtschaftslage erlaubte dabei, die Interventionskompetenz des Staates zu erhalten, auch wenn sich die Verhältnisse nicht genau so entwickelten, wie es die «Allgemeine Theorie»voraussagte. Die Konjunkturbeobachtung lieferte dabei eine Interpretation der Wirtschaftslage, vergleichbar mit der von den Symptomen ausgehendenmedizinischen Diagnosestellung. Die Verabreichung der «Therapie», der konjunkturpolitischen Massnahmen, erfolgte entsprechend diskretionär.Gleichzeitig erlaubte die Konjunkturforschung, die Gültigkeit und Erklärungskraft der Keynes’schen Lehre zu überprüfen und die Makroökonomie, die sich als wirtschaftswissenschaftliches Fach nach Kriegsende herausgebildet hatte, weiterzuentwickeln.14
Die Konjunkturforschung und die Konjunkturbeobachtung in Politik und Wirtschaft forderten und förderten nach dem Zweiten Weltkriegdie Entstehung und internationale Verbreitung von makroökonomischen Kennzahlen, wie sie insbesondere in der nationalen Buchhaltung Eingang finden.15 Insbesondere die
14 Milton Friedman und Anna Jacobson Schwartz forschten am National Bureau of Economic Research (NBER)inden 1950er-Jahren zu den monetären Ursachen wirtschaftlicher Wechsellagen und lieferten mit ihrem Buch «A Monetary History of the United States, 1867–1960»von 1963 eine belastbare These zum Ursprung der Weltwirtschaftskrise, deren Ursachen sie nicht primär im Rückgang der Nachfrage, sondern in geldpolitischen Entscheiden orteten. Friedman und Schwartz legten damit einen Grundstein für den Monetarismus, der zusammen mit der Lucas-Kritik in den 1970er-Jahren den Keynesianismus stark unter Druck setzen und seine Stellung als makroökonomische Orthodoxie in Frage stellen sollte. De Vroey, Michel:A history of macroeconomics from Keynes to Lucas and beyond, New York 2016, S. 4. Friedman, Milton;Jacobson Schwartz, Anna:A Monetary History of the United States 1867–1960, Princeton 1963, S. 534–545.
15 In seinem Aufsatz «How to pay for the war»von 1940 hatte Keynes sich mit der Frage auseinandergesetzt, welchen Einfluss die Rüstungsausgaben auf den privaten Konsum haben würden. Keynes erachtete dabei die Staatsausgaben als Endprodukt, die ebenso in das Volkseinkommen einfliessen sollten. Damit unterschied sich Keynes’ Ansatz fundamental von zeitgenössischen Konzepten der Volkseinkommensberechnung wie jenem seines Landsmanns Colin Clark und jenem von Simon Kuznets, der die staatlichen Ausgaben nur als Transferzahlungen erachtete und sich bei seiner Berechnung des Volkseinkommens auf das Einkommen beschränkte, das den Privathaushalten zur Verfügung steht. James Meade und Richard Stone entwickelten in der Folge Keynes’ Konzept zu einer Vorstufe des späteren Kontensystems weiter. Da auch in den USA während des Zweiten Weltkriegs die Frage vorherrschte, welchen Einfluss die Staatsausgaben auf den privaten Konsum haben würden und ob sie das Volkseinkommen vermindern würden, priorisierte das Department of Commerce nach Beratungen mit Keynes 1941 die Berechnung des Bruttosozialprodukts, in das die Ausgaben des Staates einflossen, gegenüber den Volkseinkommensberechnungen von Simon Kuznets, weil sich auf diese Weise das
Einführung des standardisierten Kontensystems System of National Accounts (SNA)durch die Vereinten Nationen 1953 begünstigte den Ausbau der staatlich erhobenen Wirtschaftsstatistiken und verbesserte die internationale Vergleichbarkeit der Volkswirtschaften.16 Gleichzeitig stärkte die Verbreitung der nationalen Buchhaltung und ihre internationale Standardisierung den Keynesianismus und die Idee des Staates als Regulator der Volkswirtschaft,17 da erst das Vorhandensein von makroökonomischen Zahlen zur volkswirtschaftlichen Produktion, zum Konsum und zum Einkommen eine Steuerung der Gesamtnachfrage, wie sie der Keynesianismus vorsah, möglichmachte und auch legitimierte. Mit der wachsenden Bedeutung des Bruttosozialprodukts(BSP)wurden die Wechsellagen der Wirtschaft in der Wirtschaftspolitik immer öfter als volkswirtschaftliche Expansions- oder Kontraktionsprozesse gesehen. Damit erfuhrdie Konjunktur eine volkswirtschaftlich-buchhalterische Formatierung. Nationale Buchhaltung und Keynesianismus bildeten zusammen ein «diagnostisch-therapeutisches» Dispositiv, bei dem die Bestimmung der Wirtschaftslage direkt mit politischen Massnahmen zu ihrer Korrektur verknüpft war.18 Die wissenschaftliche und die politische Ordnung bedingten und legitimierten sich als Ko-Konstruktionen auf
wirtschaftliche Kriegspotenzial der USA berechnen liess. Lepenies, Philipp:Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts, Berlin 2013, S. 69, 73, 99, 105–109. Siehe auch Tily, Geoff:John Mayard Keynes and the Development of National Accounts in Britain, 1895–1941, in:Review of Income and Wealth 55 (2), 06.2009, S. 331–359.
16 Der internationalen Vergleichbarkeit waren jenseits der Messung und Berechnung der volkswirtschaftlichen Aggregate Grenzen gesetzt. Bereits in den 1940er-Jahren, als die internationale Verbreitung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nach dem Kontensystem der UNO einsetzte, kritisierte die britische Ökonomin Phyllis Dean, dass diese nur für hochentwickelte Volkswirtschaften sinnvoll war, in denen der Markt die meisten wirtschaftlichen Transaktionen regelte. Das Kontensystem liess sich gemäss Dean nur begrenzt, wenn überhaupt, auf Länder mit Subsistenzwirtschaft als primärem Produktionsmodus anwenden. Speich Chassé, Daniel:Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013, S. 124.
17 Zur Entstehung des SNA und der Rolle der OEEC bei seiner Verbreitung siehe Schmelzer, Matthias:The hegemony of growth:the OECD and the making of the economic growth paradigm, Cambridge 2016, S. 94–95, 109. Ruggles, Nancy D.; Ruggles, Richard:The System of National Accounts:Review of Major Issues, in:National Accounting and Economic Policy. The United States and UN Systems, Cheltenham, Northampton 1999, S. 346–348.
18 Hansjörg Siegenthaler zufolge gilt es bezüglich des «diagnostisch-therapeutischen Keynesianismus»zwischen John Maynard Keynes und den späteren Verfechtern seiner Lehre zu unterscheiden. So habe beispielsweis der niederländische Pionier der ökonometrischen Modellierung Jan Tinbergen viel kompromissloser als Keynes die Auffassung vertreten, dass sich der Zustand der Wirtschaft feststellen und therapieren lasse. Siegenthaler, Hansjörg:Das Ende des Keynesianismus als Gegenstand Keynesianischer Interpretation, in:Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte /Economic History Yearbook 43 (I), 2002, S. 237.