reflexe 83: Brune, Strengmann-Kuhn (Hg.). Menschenwürde und Existenzminimum

Page 1

JENS PETER BRUNE, WOLFGANG STRENGMANN-KUHN (HG.)

Menschenwürde und Existenzminimum

REFLEXE

Schwabe reflexe

Band 83

Jens Peter Brune

Menschenwürde und Existenzminimum

Schwabe Verlag

DiesePublikation wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaftgefördert

Open Access:Wonicht anders festgehalten, istdiese Publikationlizenziert unterder Creative-Commons-LizenzNamensnennung,keine kommerzielleNutzung,keine Bearbeitung4.0 International (CCBY-NC-ND4.0)

Jede kommerzielleVerwertungdurch andere bedarf dervorherigenEinwilligungdes Verlages

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothekverzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024bei den Autor:innen; Zusammenstellung © 2024 Jens PeterBrune, Wolfgang Strengmann-Kuhn, veröffentlicht durch Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Gestaltungskonzept:icona basel GmbH,Basel

Cover:Schwabe Verlag Berlin

Layout:icona basel GmbH, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5105-5

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5106-2

DOI 10.24894/978-3-7965-5106-2

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Jens Peter Brune und Wolfgang Strengmann-Kuhn : Menschenwürde und Existenzminimum.

Eine Einleitung ...

Roland Kipke: Benachteiligt, missachtet, erniedrigt. Zum Zusammenhang von Armut und Menschenwürde ..

Sebastian Muders: Ist Armut eineVerletzung der Menschenwürde ?.

Wolfgang Strengmann-Kuhn : Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums

Jens Peter Brune: ‹Property-OwningDemocracy›: eine radikale Alternative zur ‹Grundsicherung›?.

Inhalt
... ... .. .. ... .. .. .. .. ... .. .. ... . 7
... ... ... .. .. .. .. ... .. .. ... . 27
.. .... ... .. .. ... .. .. ... ... .. .. . 57
... ... .... ... . 99
.. .. . 135
.. ... ... ... .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. . 179 5
Die Autoren

Menschenwürde und Existenzminimum

Eine Einleitung

Wer die beidenLeitbegriffe in einen sinnvollen Zusammenhang bringen möchte, stößt auf eine Reihe von Unterschieden, ja auch auf gewisse Spannungen: ‹Menschenwürde› wird mit etwas Erhabenem, Unantastbarem assoziiert, ‹Existenzminimum› dagegen mit Ärmlichkeit, Elend, gar nacktem Überleben. Das eine gilt als universell,kommt allen Menschen ungeachtet ihrer Eigenarten zu, das andere scheint Einzel- oder Gruppenschicksal zu sein. Daran reihensich Assoziationsketten, die einen Ausgangspunkt auch in offiziellen Dokumenten finden. Wenn in der Präambel der UNO-Menschenrechtsdeklaration von der «Anerkennungder allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde» die Rede ist, wird der universelle Aspekt betont.Und Art. 1Abs. 1des Grundgesetzes hebt die Unantastbarkeit menschlicher Würde hervor.Hingegen zielt die Rede von ‹Regelbedarfen›, ‹individuellerBedarfsprüfung› und ‹Mehrbedarfen› bei der Bestimmungder Höhe des Existenzminimums im Jargon des deutschen Sozialwesens auf Partikulares und Kontingentes: Familien, Haushalte, Einzelpersonen und deren besondere Lebenslagen.

Weitere konzeptionelle Unterschiede sind, dass die Idee der Menschenwürde im Sinne der UNO-Deklaration und des Grundgesetzes kein Mehr oder Weniger zulässt (Nicht-Graduierbarkeit), weder durch Eigen- noch Fremdverschulden eingebüßt werden kann (Unverlierbarkeit)und als solcheallen Men-

7

schen gleichermaßenzukommt (Egalität).1 Diese Bestimmungen stellen die Idee der Menschenwürde in einemaßgeblich an Samuel Pufendorf und Immanuel Kant knüpfende Traditionslinie (vgl. Wildfeuer 2002, 43 f., 63 f.), die insbesondere in puncto ‹innerweltlicher› Gleichheit über jene hinausweist, die etwa von Seiten der Theologie gerne mit der Lehre der Gottesebenbildlichkeit (imago dei)des Menschen als ideengeschichtliches Kernelement des Menschenwürdebegriffes angeführt wird: Gottesebenbildlichkeit als Grundlage menschlicher Würde anzunehmenerhebt den Menschen zunächst nur über die nichtmenschliche Natur der Fauna und Flora, ist also in ersterLinie ein Exklusionskonzept. Zur Achtung des – bei allen natürlichen Ungleichheiten dennoch – gleichen Würdestatus aller Menschen nicht nur vor Gott, sondern untereinander ist es von hier aus noch ein großer Schritt (vgl. Stoecker 2008, 2.3;Hartlieb 2013, 265 f.).

Was hingegenals Existenzminimum Einzelner gelten sollte, kann je nach klimatischen Gegebenheiten, persönlichen Merkmalen und nach sozioökonomischem Niveauder Gesellschaft schwanken:Ineiner kalten Region wird man andere Ansprüche an die Unterkunft stellen als in einer warmen, eine erwachsene Person braucht mehr Nährstoffe als ein Kleinkind, eine Person mit Handicap hat gegenüberPersonen ohne Handicap spezifische ‹Mehrbedarfe›.Die existenzsichernde Kaufkraft richtet sich beispielsweise nach dem jeweiligen Preisniveau in einer Volkswirtschaft oder Region, aber auch nach dem Maß an soziokultureller Teilhabe, die Bedürftigen gewährt wird. Art und Umfang dieser Teilhabe ist nämlich von kulturellen Gepflogenheitenund der Qualität der öffentlichen Infra-

1 Diese und weitere Merkmale des Begriffes der Menschenwürde finden sich auch beispielsweise bei so unterschiedlichen Theoretikern wie bei Wildfeuer (2002, 35 f.), Birnbacher (2011) und Horn (2011).

8

struktur abhängig. Das Existenzminimum ist mithin alles drei: graduierbar, verlierbar und ungleich.

Es liegt nun nahe, beide Begriffe so zusammenzuführen, dass Menschenwürde das Existenzminimumzueinem ‹menschenwürdigen Existenzminimum› qualifiziert. Die Rede von einem ‹menschenwürdigen Existenzminimum› ist ebenso üblich wie die von einem ‹menschenwürdigen Leben› oder von ‹menschenwürdigen Lebensbedingungen›,deren Gegenstück wir in ‹menschenunwürdigen Lebensbedingungen› oder ebensolchen ‹Verhältnissen› sehen. Zu Letzteren können beispielsweise solche in Pflegeeinrichtungen oder in Haftanstalten zählen, sofern sie ungeachtet des Wohlstandes der ihnen Anvertrauten gewisse Mindeststandards unterlaufen. Hier interessieren aber vor allem Phänomene der Armut und Deprivation, so dass es sich anbietet, ein menschenwürdiges Existenzminimum semantisch an der Nahtstelle zwischen (relativer)Armut und (relativem)Reichtum anzusetzen, um die Schwelle zu markieren, die zu überschreitenaus tatsächlicher Armut herausführt. Die Garantie eines menschenwürdigenExistenzminimums wäre dann zugleich die Garantie eines armutsfesten Existenzminimums. Als Mittel einer solchen Existenzsicherung kommt das in Frage, was in Deutschland ‹Grundsicherung› genannt wird und materialiter neben dem sogenannten ‹Bürgergeld› noch weitere steuerfinanzierte soziale Leistungen für diejenigen Menschen umfasst, die ihre Hilfsbedürftigkeit nachweisen können (vgl. Strengmann-Kuhn, in diesem Bd., 102–108;Brune, in diesem Bd., 142–145). Ähnliche Sicherungssysteme gibt es in den meisteneuropäischenStaaten – freilich auf recht unterschiedlichem Niveau.

Im Ausgang von dieser recht einfachen semantischen Verknüpfung der Leitbegriffe ‹Menschenwürde› und ‹Existenzminimum› unter Einbeziehung eines Konzeptes der ‹Armut› eröffnet sich ein breites Spektrum an Fragen mit explikativer bis

9

kritischer Stoßrichtung. Sie zielen (a)unmittelbar auf die Festlegung der Schwelle eines menschenwürdigen, armutsfesten Existenzminimums, sodann auf mehr oder weniger implizite Hintergrundannahmen, die (b)die Bedeutung des Begriffes der Menschenwürde und (c)die jeweils vorausgesetzte Armutskonzeption betreffen.

(a) Nahtstelle zwischen Armut und Nicht-Armut: Unmittelbar auf der Hand liegt die Frage, wo die Nahtstelle zwischen Armut und Nicht-Armut anzusetzen ist und was genau das Adjektiv ‹menschenwürdig› in dieser Frage austragen kann. Offensichtlich geht es ja nicht nur um das nackte Überleben, sondern um die materiellen Voraussetzungen ‹menschenwürdiger Lebensführung›:Welche Lebensbereiche muss die Grundsicherung in welcher Höhe berücksichtigen, um den Anforderungen an ein nicht nur physisches, sondern ein menschenwürdiges Minimum zu genügen?Welche weiteren Anforderungen sollten berücksichtigt werden?Von hier aus ist es nur ein kurzer Schritt in das Gewirr sozial- und arbeitsmarktpolitischer Stimmen, die konträre politische, sozialethische, ja auch religiöse oder eben säkulare Hintergrundüberzeugungen mit ihren Traditionssträngen zum Ausdruck bringen.

Einige Beispiele aus dem Stimmengewirr: Die einen fordern, dass sich ‹Arbeit› lohnen solle, und wollen die Nahtstelle auf Abstandwenigstens zum bestehenden Mindestlohn setzen. Allerdings sind auch die Mindestlöhne nicht in Stein gemeißelt, sondern lassen sich im Prinzip auf der Nicht-Armutsseite der Nahtstelleverschieben. Zudem gerät bei einer Fixierung auf den Mindestlohn leicht aus dem Blick, dass dieser ein Stundenlohn ist. Bei diesen vereinfachten Überlegungen wird also von der Fiktion einer abhängigen Vollzeitbeschäftigung ausgegangen. Nun ist erstens gar nicht unbedingt sicher, dass ein Mindestlohn bei Vollzeiterwerbstätigkeit über dem Existenzminimum liegt. Zweitenswird vernachlässigt, dass es bei Teilzeiterwerbs-

10

tätigkeit und selbständiger Beschäftigungauch trotz eines existenzsicherndenMindestlohnes (bei Vollzeiterwerbstätigkeit) nicht existenzsicherndeArbeit geben kann, und außerdem, dass unsere Volkswirtschaft auf einem breiten Sockel an unbezahlter Care-Arbeit aufbaut. Die nächsten verweisen auf eineVariante des Subsidiaritätsprinzips, demzufolge Bürger:innen für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zunächst selber einzutreten hätten (‹Selbstverantwortung›), bevor Steuergelder fließen. Beide Parteien können recht gut mit einem Konzept des «Förderns und Forderns»leben, das das Fordern betont und die Gewährleistung des ‹menschenwürdigen Minimums› mit der Bedürftigkeitsprüfung, der Bereitschaft Bedürftiger zu einem standardisierten ‹Profiling› auf marktgängige Fähigkeiten (Oschmiansky 2020)und sanktionsbewehrten Mitwirkungspflichten bei Schulungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt an eine Bedingungskaskade knüpft.

Dagegen wird beispielsweise geltend gemacht, dass Menschen zu Selbstverantwortung zuallererst in die Lage versetzt werden müssten. Somit ist auch die Garantie eines Existenzminimums durchaus mit dem Subsidiaritätsprinzip im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe vereinbar (vgl. Opielka/Strengmann-Kuhn 2007, 23). Vorallemaber würden derart bedarfsgeprüfte Sozialleistungen einen großen Anteil der Bedürftigen gar nicht erreichen. Es sind die Ängste vor Stigmatisierung aufgrund von Transfers, die mit dem sichtbaren Marker eines minderwertigen sozialen Status verbunden sind, ferner bürokratische Hürden und generelle Unkenntnis der eigenen Rechte, die zur Nichtinanspruchnahme der Grundsicherung und damit zu verdeckter Armut führen. Davon sind nach Schätzungen des IAB und des DIW etwa 43 Prozent aller ehemals Hartz-IV-anspruchsberechtigten Haushalte betroffen, bei der Grundsicherung im Alter sogar 60 Prozent (Bruckmeier/Wiemers 2018; Buslei et al. 2019;Friedrichsen/Schmacker 2019). Unter der

11

normativ hochrangigen, vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 in Sachen «Hartz IV» in den Rang eines subjektiv einklagbaren Grundrechtes gerückten Prämisse, dass Bedürftige einen Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums haben (vgl. BVerfG 1BvL 1/09, 1), sehen manche gerade in der verdeckten Armut ein Argumentdafür, dass ein Grundeinkommen ohne Bedarfsprüfung der bessere Weg sei, tatsächlich ‹allen› ein armutsfestes Existenzminimum zu garantieren (siehe Strengmann-Kuhn in diesem Band).

(b) Einschlägige Hintergrundüberzeugen und Traditionsstränge: Die Diskussion über sozialpolitische Strategien der Gewährleistung eines ‹menschenwürdigen Existenzminimums› setzt ihrerseits mehr oder weniger implizit Antworten auf notorisch umstrittene Fragen etwa nach der Bedeutung, dem Bedeutungsspektrum oder einem Bedeutungskern des Menschenwürdebegriffes und dessen Begründung voraus.Die angegebenen drei Bestimmungen der Nicht-Graduierbarkeit, Unverlierbarkeit und Gleichheit sind da nur einevon mehreren,teils gegensätzlichenAlternativen, die mal in «kontingente»und «inhärente»(Wildfeuer 2002), mal in «heteronomische»und «autonomische»(Tiedemann 2012, Kap. 2.3.1 sowie Kap. 3 und 4) und dann wieder in «verletzbare»und «unverletzbare» (Horn 2011) Würdetypen eingeteilt werden. In unserem Zusammenhang müssen drei Hinweise genügen.

Erstens gehört die oben an Hand der drei Bestimmungen eingeführteKonzeption stets zur zweiten Sorte, trägt also in irgendeiner Weise Züge einer «inhärenten», «autonomischen » und «unverletzbaren »Würde. Zum Gegentypus der «kontingenten», «heteronomischen»und «verletzbaren»Würde zählen die genanntenAutoren Ausprägungen dessen, was mit dem Rollenverständnis eines Menschen in der jeweiligenmehr oder weniger partikularen, jedenfalls historisch-kulturell geprägten

12

Gemeinschaftund deren jeweiliger (Binnen‐)Öffentlichkeit zusammenhängt:Die heute anachronistische ‹Würdedes Adels› bzw. ‹des Standes› findet hier ebenso ihren historischen Platz wie die durchaus noch zeitgenössische ‹Würde des Amtes› (des Bundespräsidenten, der Verfassungsrichterin). Dieser Typus kann traditionell als angeboren aufgefasst oder durch Verdienst erworben sein und nimmt außerhalb illustrer Kreise die allgemeinere, ja gesellschaftsweite, jeweils subkulturell geformte Gestalt des individuellen sozialen Ansehens oder Prestiges an. Soweit ein intaktes Selbstverhältnis (das Selbstwertgefühl, die Selbstachtung )inseiner sozialpsychologischen Genese und Aufrechterhaltung von dieser Art ‹Würde› als sozialem Ansehen abhängt, ist es empfindlich für und verletzbar durch Beschämung, Demütigungen und Herabsetzungen. Ihren festen Platz in der Diskussion der Armutsproblematik hat diese Art der Würde spätestensseit der viel zitierten Beobachtung von Adam Smith (1723–1790), nach der sich zu seiner Zeit in England «achtbare Tagelöhner schämen»mussten, in der Öffentlichkeit ohne ein Leinenhemd und ohne lederne Schuhe zu erscheinen. Daher, so Smith, sei dies eine notwendige Ausstattung und gehöre zu den «lebenswichtigen Gütern» (Smith 1776, 747). Doch schon für Smith war klar, dass sich eine Ausstattung, mit der sich schamfrei in der Öffentlichkeit leben lässt, je nach sozioökonomischem und kulturellem Umfeld –und nicht zuletzt nach den «üblichen Regeln der Schicklichkeit»[«the established rules of decency»], wie Smith (1776, 748)sagt – deutlich unterscheidet.

Zweitens ergebensich gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten, die ohne zusätzlichenormative Kriterien kaum zu bewältigen sein dürften:Sosind die natürlichenÜbergänge zwischen dem, was wir als gesellschaftliches ‹Ansehen› oder ‹Prestige› bezeichnen, und Vorstellungen von ‹Ehre›,die innerhalbkrimineller Kreise die Form der Ganovenehre annehmen, fließend

13

(vgl. die entsprechenden Unterscheidungsbemühungen bei Margalit 1997, Kap. 3). ‹Ansehen› oder ‹Prestige› teilen gewisse Familienähnlichkeiten auch mit – in ihrer Aktualität nicht zu unterschätzenden – Ehrvorstellungen, die beispielsweisein tribal geprägten Gemeinschaften bis heute streng nach Geschlechterrollen differenzieren, indem sie die männliche ‹Ehre› als etwas betrachten, das durch die sexuelle Enthaltsamkeit der weiblichen Familienmitglieder generiert wird (Frick 2021, 143), womit die ‹Ehre› der Frauen von entsprechenden Verhaltensweisen abhängt:«Honor is traditionally somethingthat men possess, and that women pay the price for», wie ein Rezensent des Buches «Why honor matters»von Tamler Sommers lapidar festgestellt hat (Kirsch 2018). Sofern Konzeptionen der Menschenwürde,die von Phänomenen der Demütigungund Stigmatisierungausgehen, auf Anleihen bei einem Würdeverständnis im Sinne des sozialen Ansehens angewiesen sind, begeben sie sich auf eineGratwanderungzwischen einer normativen und einer deskriptiven Verwendung des Begriffes und müssen damit rechnen, dass sich in der Festlegung der Nahtstelle zwischen Armut und Reichtum kontingente Annahmen über die subjektive Resilienz möglicher Betroffener niederschlagen. Dennoch dürfte sich die Rede von einem ‹menschenwürdigen Existenzminimum› kaum angemessenkonkretisieren lassen, ohne solche Aspekte einzubeziehen.

Drittens ruft der Gebrauch des Adjektivs ‹menschenwürdig› in den Formulierungen ‹menschenwürdige Lebensbedingungen› und ‹menschenwürdige Verhältnisse› Assoziationen einer eher aristotelischen oder auch aristotelisch-thomasischen Tradition hervor (vgl. Wildfeuer 2002, 24, 34), sofern solche Bedingungen und Verhältnisse an Vorstellungen des guten oder gelingenden Lebens bemessen werden. In dieser Tradition sah sich ursprünglich Martha Nussbaum, wenn sie die der menschlichen ‹Natur› angemessenen Lebensverhältnisse als diejenigen

14

betrachtet hat, in denen Menschen ihrespezifischen Fähigkeiten entwickeln können (vgl. Nussbaum 1990;1992). Spätestens seit Women and Human Development (Nussbaum 2000)geht sie aber auf eine gewisse Distanzzum aristotelischen Essentialismus und möchteein grundlegendes soziales Minimum dadurch bestimmt sehen, dass es Menschen befähigt, ein Lebenzu führen, «that ist worthy of the dignity of the human being» (Nussbaum 2000, 5).Nun sei ein Leben «commensurate with human dignity»(Nussbaum 2006, 44)inTermini von zentralen Fähigkeiten auszubuchstabieren (vgl. Brune/Werner2018, 119–125). Bei allenSchwierigkeiten, die die notwendige Festlegung auf Schwellenwerte der Entwicklungund Förderung von Fähigkeiten mit sich bringt, dürfte eine angemessene Konzeption eines ‹menschenwürdigenExistenzminimums› und seiner Voraussetzungen ohne expliziten oder impliziten Bezug auf menschliche Fähigkeiten kaum gelingen.

(c) Armutskonzeptionen : Antworten auf die Frage, wie ein armutsfestes menschenwürdiges Existenzminimumgarantiert werden kann, sollten auf einer Vorstellung davon beruhen, was Armut als Begriff kennzeichnet und wie Armut im Blick auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und/oder Einzelne empirisch festzustellen ist. Sollte ein Begriff ‹absoluter› Armut Verwendung finden, der auf ein Konzept vermeintlich konstanter menschlicher ‹Grundbedürfnisse › aufbaut, die natürlich über das physiologisch Notwendige hinausgehen können,oder eher ein ‹relativer›,der Armut als Mangel an Ressourcen oder Fähigkeiten im Vergleichzum sozialen Umfeld eines Menschen konzipiert?Wenn, wie weithin angenommen wird, für entwickelte Volkswirtschaftenein relativer Armutsbegriff angemessen ist (soauch Kipke, in diesem Band, 28 f.), lässt sich dieser mit Peter Townsendals «relative deprivation»hinsichtlich des durchschnittlichen Lebensstandards einer bestimmten Population auffassen (Townsend1962), eine Deprivation, die die Be-

15

troffenen von sozial üblichen Lebensgewohnheitenausschließe (Townsend 1979, 31). Bemerkenswert an diesem schulbildenden Vorschlag ist wenigstens zweierlei:Erstens wird Armut zu einem Konzept der Ungleichheit,das zweitens durch die Koppelung an einen sich wandelnden Lebensstandard zu einem dynamischen wird und mit Hilfe einer Liste von Indikatoren (vor allem Gebrauchsgüter)jederzeit der empirisch zu erfassenden sozioökonomischen Entwicklung angepasst werden kann. Damit könnte der Vorschlag die Existenz von absoluter Armut gänzlich in Frage stellen. Schon das obige Zitat von Adam Smith macht deutlich, dass die Frage, was nötig ist, um «die Grundbedürfnisse»zuerfüllen, immer vom gesellschaftlichen Umfeld abhängig ist. Insofern scheint Armut immer relativ zu sein. Für eine Auflösung dieses Widerspruchs von absoluter versus relativer Armut eignet sich das Konzept der Exklusion von Verwirklichungs- qua Teilhabechancen.

Nach Amartya Sen leiden mittels Güter (commodities) oder auch Einkommen indizierte Armutsbestimmungen grundsätzlich an einem blinden Fleck. Güter, Einkommen, ja materielle Ressourcen generell hätten nur einen instrumentellen Wert und dienten dem eigentlichen Zweck der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten qua Verwirklichungschancen («capabilities»). Daher sollte nicht der Mangel an Ressourcen, sondern der Mangel an Fähigkeiten im Zentrum der Aufmerksamkeit der Armuts- und Entwicklungsforschungstehen (vgl. Sen 1987; ders. 2009). Aus dieser Sicht zeige sich, dass ein relativer Mangel an Gütern, Einkommen und Ressourcen zu einem absoluten Mangel etwa an gesellschaftlicher Teilhabe führen könne (Sen 1983;dazu Brune 2018). Während Townsend die Rede von ‹absoluter Armut› überhaupt in Frage stellt, verbindet Sen beide:Armut, gemessen an verfügbarenRessourcen (Einkommen, Vermögen, Gütern),ist stets relativ zum sozioökonomischen Niveau der jeweiligen Gesellschaft, die Möglichkeit, Lebensvor-

16

stellungen zu verwirklichen, ist aber in gewisser Weise absolut abhängig von den individuell verfügbaren Ressourcen. Die Pointe von Sens Ansatz besteht oberflächlich darin, die Rede von absoluter/relativer Armut zusammenzuführen, in der Tiefe aber gerade darin, die klassische utilitaristische Grundlegung der Ökonomieauf der Basis von Ressourcenumzupolen auf Verwirklichungschancen. Dabei spielen selbstverständlich Ressourcen eine wichtige Rolle, aber eben nicht die Rolle von Zwecken, sondern notwendigen Mitteln zu den eigentlichen Zwecken.

Ein Vorschlag zum Vorverständnis:

Menschenwürde als (zurechtfertigende) Ansprüche

Wenn wir Menschenwürdeverletzung als Missachtungvon moralischen oder juridischen Ansprüchen konzipieren, sind es eigentlich nicht phänomenale Umstände oder Zustände, auch nicht ärmliche oder gar fehlende Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten, die die Menschenwürde verletzen. Wer sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, wohlinformiertund aus freien Stücken zu einer interplanetaren Reise aufmacht und am Zielort lebensfeindliche Bedingungen vorfindet,sollte sich nicht über ‹menschenunwürdige› Umstände vor Ort beschweren. Menschenunwürdig hingegen wäre es, Menschen durch Täuschung oder Zwangdorthin zu verfrachten. Auf unseren Kontext übertragen:die durchaus übliche Rede von der ‹Armut, die die Menschenwürde verletzt›,wäre metonym. Die in einer Notlage befindlichen Opfer einer Naturkatastrophe sind nicht per se auch Opfer einer Menschenwürdeverletzung. Anders verhält es sich, wenn diese Naturkatastrophe von Menschen gemacht oder auch ihre absehbaren Folgen fahrlässig in Kauf genommen 17

wurden. Dann wurde bereits zuvor von den Präventionsansprüchen der Opfer abgesehen. Auch verletzten diejenigen die Menschenwürde, die die Opfer sich selbst überlassen und damit zum Verbleib in ihrer Notlage zwingen, obwohlsie in der Lage wären, zu helfen.Hier werden berechtigte Ansprüche auf Hilfe übergangen. Rainer Forst drückt diesen Zusammenhang so aus:

«[W]as die Würde von Menschen in erster Linie verletzt, ist, dass sie in Armut leben müssen,das heißt dazu gezwungen sind, und zwar durch Menschen, die diesen Zustand verursacht haben bzw. zumindest beheben könnten und dies nicht tut – indem sie die Ansprüche der Betroffenen schlichtweg übergehen oder darauf unzureichend antworten.» (Forst 2005, 590)

Gewiss knüpft auch einesolche Auffassung der Menschenwürde und ihrer Verletzung phänomenal an unerwünschte, üble oder gar skandalöse Zustände, individuelle Umstände und Lebensverhältnisse an, geht aber stets von intersubjektiven, in der Regel gesellschaftlichen Verhältnissen und Strukturen aus und wendet die Begriffe der Missachtungvon Ansprüchenauf diejenigen an, die mit ihren Verhaltensweisen die Verhältnisse und Strukturen herbeiführen oder nicht ändern,obwohl sie dazu in der Lage sind (Forst 2009, 121). In einem ähnlichen Sinne untersucht Sebastian Muders, ob und unter welchen Bedingungen «das Belassen in Armut eine Menschenwürdeverletzung»darstellt (indiesem Band, 58, 81–90). Adressiert werden kann der Verletzungsvorwurfals Missachtungsvorwurf grundsätzlich an Einzelpersonen, juristische Personen wie Firmen, Organisationen und Vereine, aber auch an Gesetzgeber und Organe der Judikative und Exekutive. Trotz (oder wegen)dieser Unbestimmtheit hatdiese recht abstrakte Bestimmung menschlicher Würde und ihres Zusammenhanges mit Armut als Ausgangspunkt zu wählen im Wesentlichen zwei Vorzüge.

18

Sie präjudiziert einerseits nicht, dass Verletzung der Würde als Missachtungvon (moralischen, juridischen)Ansprüchen auf (moralisch oder juridisch)falschesVerhalten gegenüber anderen beschränkt ist. Vielmehr lässt sie es offen, ob aus der Menschenwürde auch Pflichten gegen sich selbst erwachsen können. Das jedenfalls vertreten prominente Theoretiker:innen der Würde jenseits und diesseits des Atlantiks (Dworkin 2011; Schaber 2013), findet sich auch in Kants Tugendlehre (vgl. Kant 1797, 434 ff.), von wo aus die Spuren bis zum facettenreichen dignitas-Begriff der mittleren Stoa führen, an dem besonders Cicero das selbstverpflichtende Moment der Mäßigung und Selbstdisziplin in Bezug auf die eigenen Neigungen und Triebe als Ingredienzder praktischen Vernunftnatur des Menschen hervorgehoben hat (vgl. Stoecker/Neuhäuser 2013, 90 f.; Rothhaar 2015, 110–114). Solche Pflichten, die traditionell die innere (animalische)Natur des Menschen im Zaum halten sollen, ließen sich in einer diskursiven Struktur als Ansprüche ‹meinerseits› gegenüber meinem ‹alter ego› rekonstruieren. Allerdings wäre damit das semantische Feld eines anderen Würdekonzeptes betreten:Zwar von Cicero allen Menschen als Personen zugesprochen (und insofern universell), kann sich doch jede:r von ihnen als mehr oder weniger ‹würdig› (Graduierbarkeit)und auch als gänzlich ‹unwürdig› erweisen (Verlierbarkeit).

Andererseits ist die Bestimmung auf ihrer phänomenalen Seite kombinierbar mit unterschiedlichen Vorschlägendafür, was als menschenwürderelevantes Übel gelten sollte. Kreisen wir das Bedeutungsfeld auf ‹Existenzminimum› und ‹Armut› ein, kann – negativ gesprochen – ein Leben in Armut und Deprivation, in gesellschaftlicher Exklusion als ‹menschenunwürdig› verstanden werden, sofern dies nicht aus freien Stücken gewählt wurde.Letzteres etwa lässt sich in der Regel den Mitgliedern eines Mendikanten-Ordens unterstellen, deren Bit-

19

ten um Almosen auch nichts Erniedrigendesanhaftet(vgl. Muders, in diesem Band, 83). Armut hingegen, die «Isolation», subjektiv empfundene «Wertlosigkeit»oder «Aussichtslosigkeit und Leere»(vgl. Kipke, in diesem Band, 33), womöglich Krankheit oder frühere Sterblichkeitinduziert (vgl. Muders, in diesem Band, 88 ff.), lässt sich sehr wohl als ‹menschenunwürdig› verstehen. Eine Verletzung der ‹Würde› von Menschen aufgrund der Missachtung ihrer berechtigten Ansprüche kommt in dem Moment ins Spiel, wo andere das Übel oder die Misere herbeiführenoder trotz deren Kenntnis und ihrer eigenen Möglichkeiten keine Abhilfe schaffen, also ihr Verhalten gegenüber den Betroffenen als denjenigen, deren Ansprüche tangiert sind, nicht etwa damit rechtfertigen könnten, dass sie selber mittellos, hilflos oder unfähig sind.

Zu den Beiträgen

Die Beiträgezudiesem Band sind aus einem Workshop hervorgegangen, der im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten und an der Universität Greifswald angesiedelten Forschungsprojektes «Menschenwürde und Existenzminimum»imJahr 2023 stattgefundenhat. Vordem einleitend breit gespannten Problemhorizont sind die Beiträge vor allem auf zwei Ausschnitte gerichtet.Während Roland Kipke und Sebastian Muders insbesondere Fragen des Verständnisses des Menschenwürdebegriffes und dessen Zusammenhang mit Armut in den Vordergrund stellen, rücken Wolfgang Strengmann-Kuhn und Jens Peter Brune eher das Wie der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in den Fokus.

Roland Kipke eröffnet seinen Beitrag «Benachteiligt, missachtet, erniedrigt. Zum Zusammenhang von Armut und Men-

20

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.