Niccolò Raselli, Hans Niklas Kuhn (Hg.). Peter Benary

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PETER BENARY

Komponist, Musikwissenschafter, Publizist und Dozent

Niccolò Raselli
Hans Niklas Kuhn ( Hg.)

Niccolò

Raselli, Hans Niklas Kuhn (Hg.)

Peter Benary

Komponist, Musikwissenschafter, Publizist und Dozent

Schwabe Verlag

Die Publikation des Buches und das Konzert anlässlich der Buchpräsentation werden in verdankenswerter Weise unterstützt von:

Ueli Schlageter Stiftung

Edwin Fischer-Stiftung

Victorinox-Stiftung

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Sektion Luzern der SMG

Heidi Isaak, Christian Liniger, Giulia Raselli Barde

Lucia Raselli, Guido Steudler

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

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© 2024 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Abbildung Umschlag:Peter Benary 1991, Max Kellenberger

Korrektorat:Thomas Lüttenberg, München

Cover:icona basel gmbh, Basel

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert &Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965- 5109-3

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5110-9

DOI 10.24894/978-3-7965-5110-9

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Peter Benary 1991 (Foto:Max Kellenberger)

IPeter Benary (1931–2015)

Niccolò Raselli: Ein Leben in garstiger Umwelt ..

II Erinnerungen

Peter Gülke: Treue, schwierige, fast 70-jährige Freundschaft ..

Dimitri Ashkenazy: Betrachtungen eines Freundes

Grazia Wendling: Erinnerungen an Peter Benary.

Andrew Watkinson: Peter Bernary, the man and the composer.

Pawlo Dlaboha: Lebenslange Freundschaft.

Peter Reidemeister: Peter Benary als Prüfungsexperte in Basel

III

Komponist

Thüring Bräm: Über Peter Benary

Ivo Haag: Peter Benary – Annäherungen an sein Klavierwerk

Michel Roth: «Hörend erkennen und erkennend hören».

Die Vermittlung des Indeterminierten in Peter Benarys

Zweitem Streichquartett

Alfred Zimmerlin: Labyrinthische Konversation mit P. B. für Klavier

IV Musikwissenschafter, Dozent und Publizist

Alois Koch: Musiker und Denker. Der Musikwissenschafter

Peter Benary ..

Hans Niklas Kuhn: Peter Benary – beim Wort genommen. ..

Simon Gaudenz im Gesprächüber Peter Benary ..

Felix Diergarten: Fort mit dem falschen Heiligenschein!

Peter Benary und Bruckner

Erich Singer: Keine vordergründigen «Deutungen». Peter Benary als Autor von Texten zu Programmen des Lucerne Festival (IMF). ... 179

Rudolf Bossard: Peter Benary:Auch ein Mann des Wortes –ein Versuch

VWerk- und Schriftenverzeichnis

David Koch: Das Werk- und Schriftenverzeichnis von Peter Benary

«Verklärung, höre ich Dich sagen, sei gut für Opernschlüsse, nicht hingegen für Erinnerungen an Momente gelebten, genossenen, erlittenen Lebens. Falls ich mit ‹de mortuis nihil nisi bene› parieren will, führest Du dazwischen: Wozu Erinnern, wenn nicht als Versuch, Tote aus der Entrückung herauszuholen, sie weniger tot sein zu lassen, mit ihnen wie einst zu lachen, zu hadern, eins und uneins zu sein ohne Rücksicht darauf, dass sie sich nicht mehr wehren können»(Peter Gülke in seinem Beitrag).

Peter Benary war eine Persönlichkeit, die das musikalischeLeben in Luzern als Pädagoge, Wissenschafter, Publizist und Komponist während Jahrzehnten geprägt hat. Nach prekär verlebten Jahren in zwei Diktaturen und Flucht aus der DDR unterrichtete Peter Benary am Konservatorium Luzern eine ganze GenerationStudenten und Studentinnen in Musiktheorie, Musikgeschichte und Kammermusik. Sein kompositorisches Schaffen, das Sinfonik, Kammer-, Klavier-, Orgel- und Chormusik umfasst, wurde mit mehreren nationalen und internationalenPreisen ausgezeichnet. 1987 wurde Peter Benary der Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern verliehen.

Ehemalige Studenten, Kollegen und Freunde von Peter Benary haben sich zusammengetan, um die Erinnerungandiese ausserordentlichePersönlichkeit wachzuhalten. Die Schrift enthält eine biographischeSkizze, persönliche Erinnerungen, eine Würdigung des musikalischen Schaffens sowie der wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit von Peter Benary, ferner ein Verzeichnis seiner Kompositionen und seines publizistischen Wirkens.

In seinem Beitrag schreibt Ivo Haag, mit Peter Benary sei ein Komponist wieder zu entdecken, «der abseits aller Moden stand, aber für Luzern und die Schweiz eine wichtige Rolle spielte. Dass er sich aller Ismen enthielt, kann heute vielleicht sogar als Vorzug verstanden werden.Jedenfalls ist er ein Komponist mit einer starken eigenen Stimme, der Werke von höchster geistiger und handwerklicher Qualität schuf. Dass sich in seiner Biographie

und in seinem Werk die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts auf spezifische Weise spiegeln, kann sogar von zusätzlichem Interesse sein.»

Es ist denn auch das Ziel dieser Schrift, nebst der Persönlichkeit von Peter Benary dessen musikalischeWerke der Vergessenheitzuentreissen.

Im Sommer 2024 Niccolò Raselli und Hans Niklas Kuhn (Herausgeber)

IPeter Benary (1931–2015)

Ein Leben in garstiger Umwelt

«Wenn es mir gelingt, mit meiner Musik etwas zum Ausdruck zu bringen, was ich nur durch sie ausdrücken konnte, dann ist es auch möglich, dass jemand meiner Musik hörend etwas entnimmt, was er nur ihr entnehmen kann. Darin würde sich ihr Sinn erfüllen. Mehr zu erwarten oder zu erhoffen, wäre Anmassung.»1

Begegnungen mit Peter Benary

Peter Benary habe ich als Musikstudent kennen gelernt. Nach Abschluss der juristischen Studien wollte ich mich der Musik und meinem Instrument, der Bratsche, widmen, welchen Weg ich allerdingseinige Jahre später wieder verliess. Ich schrieb mich damals am Luzerner Konservatorium ein, wo bereits mein jüngerer Bruder Francesco sich zum Hornisten und Organisten ausbilden liess. Bei Peter Benary hatte ich Einzelunterricht im Tonsatz und hörte ich Formenlehre.Seine Vorlesungen waren hochinteressant, spannend und formvollendet. Als Dozent verfügte er über natürliche Autoritätund Ausstrahlung. Gleichzeitig fürchteten ihn nicht wenige, konnte er doch sarkastisch, seine Kommentaregnadenlossein. Dem waren die jungen Leute oft nicht gewachsen, was er vermutlich nicht realisierte. Ich war damals Mitte zwanzig, während die meisten Studenten und Studentinnen deutlich jünger waren. Das mochte mit ein Grund dafür sein, weshalb ich zu Peter Benary einen etwas anderen Zugang hatte.

Ich war Mitglied eines von meinem früh verstorbenen Bruder gegründeten Kammerensembles (Camerata Luzern). Peter Benary schrieb für uns ein Oktett (inder Besetzung von Franz Schuberts Oktett), das wir am 5. Mai 1971 in Olten zur Uraufführungbrachten.Peter Benary begleitete unsere letzten Proben. Da zeigte er sich durchaus von einer anderen Seite als im

1 Peter Benary, Angenommen (siehe dazu Fn. 2)

Unterricht. Der Tonfall war liebenswürdig,beinahe kollegial. Später verloren wir uns während Jahren aus den Augen. Ich könnte nicht einmal sagen, wann genau wir uns wiedersahen. Es war wohl Mitte der 1980er Jahre. Ab diesem Zeitpunkt pflegten wir, wenn auch nicht sehr häufig, so doch regelmässig Kontakt, sei es, dass wir uns zu gemeinsamem Essen in einem Luzerner Restaurant trafen, sei es, dass meine Ehefrau Marie-Luise und ich Peter zu uns aufs Land einluden.

Es war Ende der 1990er Jahre, als Peter Benary mir mehrere mit Maschine beschriebene Seiten «Autobiographisches»zukommen liess. Einen Teil hatte er ein Jahr, einen anderen etwa 10 Jahre zuvor verfasst. In der das Manuskriptbegleitenden Notiz schrieb er, ein Echo sei nicht nötig, obwohl es ihn interessieren würde, und sinngemäss:Mach damit, was Du willst, meinetwegen in den Papierkorb. Das Manuskript hebt wie folgt an:

«Vermutlich würde ein Leser, der mich nicht kennt, aus diesen Blättern nur wenig über mich erfahren. Eben dies mag mich zu deren Form veranlasst haben. Worüber ich schreibe, lässt nicht erkennen, worüber ich nicht schreibe. Weder Tagebuch noch Essaysammlung;mehr Alibi, Ersatz und Spiegelung als Portrait, Bekenntnis oder gar ‹coeur mis ànu› (Ch. Baudelaire). Dass ein Leser sich ein Bild von mir machen würde, ist unvermeidbar. Dass es ein falsches wäre, kümmert mich nicht, zumal ich mit keinem Leser rechne. Zudem bezweifle ich, der Leser bekenntnishafter Selbstdarstellungen erhalte vom Autor ein zutreffendes Bild; allenfalls ist es schärfer konturiert».

Bei einer anderen Gelegenheitübergab mir Peter Benary ein längeres Manuskript mit der Überschrift «Angenommen», ein 128 Seiten umfassendes Konvolut, im Jahr 1950 begonnene Aufzeichnungen.2 Diesen stellte er voran: «Den Vergangenheitshintergrund bilden eine behütete Kindheit und Jugend in Erfurt und Meiningen, wobei jüdische Vorfahren, Hitler und Krieg das Wort ‹behütet› relativieren. Den Gegenwartshorizont bilden meine Studienjahre in Weimar und Jena (1950–1956), die beiden Jahre,

2 Die meisten Passagen aus Autobiographisches stammen aus dem viel umfangreicheren Manuskript Angenommen, sind gewissermassen aus diesem herausdestilliert.

die ich unfreiwillig als ‹Freischaffender› in Rudolstadt verbrachte, bis zur Flucht in den Westen im Mai 1958;zur unvorhergesehenen Zuflucht wurde die Schweiz:zunächst drei Jahre in St. Gallen und seit 1961 in Luzern. […]Nur zögernd kam der Gedanke auf, meine oft wochenlang unterbrochenen Notizen könnten für andere lesenswertsein, anregend wirken oder nützlichen Widerspruch hervorrufen.»

Im Zuge dieser biographischen Skizze werde ich nebst persönlichen Erinnerungen aus diesen Texten zitieren;ferner aus einem 1969 erschienenen Selbstportrait von Peter Benary3,aus dem von Henning Gloege, einem Freund von Peter Benary seit Kindertagen, verfassten Nachruf sowie aus einem Briefwechsel mit Gloege. Endlich weiten die in dieser Schrift zusammengetragenen Erinnerungen an Peter Benary den Blick auf andere Facetten dieser faszinierenden Persönlichkeit. In seinem Testamentverfügte Peter Benary, dass alles Handschriftliche und Maschinenschriftliche (Noten, Texte, auch Kopien davon), welches bei ihm in der Wohnung war, zu vernichten sei. Es versteht sich von selbst, dass die Klausel bedeutungslos ist für Manuskripte, die Peter Benary Freunden zu Lebzeiten ausgehändigt hat.

Es war mit Peter Benary nicht immer einfach. Gelegentlich konnte er launisch, ja ruppig sein. Eine Episode ist mir noch präsent:Bei der Lektüre von Fritz Sterns monumentaler Doppelbiographie über Otto von Bismarck und seinen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder4 war ich auf den Namen Viktor Benary5 gestossen. In der Annahme,Peter könnte das interessieren, kopierte ich die fraglichen Seiten und schickte sie ihm. Wenige Tage später traf seine lakonische Reaktion ein:Interessiere mich nicht für meine Verwandtschaft, Punkt. Wenige Tage später erreichte mich dann doch noch eine Antwort. Er teilte mir mit, dass es sich dabei um einen entfernten ledigen Verwandten seines Grossvaters mit Gemäldesammlung handelte.

3 Der Komponist Peter Benary – ein Selbstportrait,Schweizerische Musikzeitung (SMZ)1969, S. 274–277.

4 Fritz Stern, Gold und Eisen – Bismarck und sein Bankier Bleichröder,Reinbek bei Hamburg, 1999.

5 Ebd., S. 67 und 127 f. Viktor Benary war vereidigter Makler an der Berliner Börse und Agent der Reichsbank (Michael Buchner, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Finanzmarktregulierung,in: Archiv für Sozialgeschichte 56, 2016, S. 196, Fn. 33). Ein Leben

Peter Benary schenkte mir immer ein Exemplar seiner Schriften. In einem dieser Bücher (Leise – aber deutlich. 100 Splitter und Balken zu Geschichte, Praxis und Theorie der Musik), in welchem er sich in aphoristischer Kürze zu aktuellen Themen äussert, findet sich zu Gustav Mahler eine eigentliche Polemik, die im Satz gipfelt:«Dass Mahler Jude war, hat ihm nach 1945 Kredit eingebracht.»6 Das irritierte mich dermassen, dass ich einige Zeit Mühe bekundete, ihn wiederzusehen. Als ich ihn nach einer Weile wieder traf, wollte ich wissen, ob die fragliche Passage nicht einen antisemitischen Unterton habe, was ich von ihm nicht erwartet hatte. Und er – mit fragendem Blick – zu mir:Duweisst doch, wie ich heisse. Und langsam, fast buchstabierend:Ben (lange Pause)Ary. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war dann auch der Moment, von dem an er mir gelegentlich aus seiner Kindheit,von seinen Eltern und seinen persönlichen Erfahrungen in zwei Diktaturenerzählte.

Was Peter Benarys Verhältnis zur Musik von Gustav Mahler anbelangt, stelle ich mir vor, dass der Purist und Verehrer «reiner»Musik eines Johann Sebastian Bach und eines Johannes Brahms nicht verstehen konnte, wie die Imitation von Tierlauten (Beginn des 1. Satzes der ersten Sinfonie), Kletzmermusik (Fernorchester im 5. Satz der zweiten Sinfonie), süssliche Melodien (das Posthorn im 3. Satz der dritten Sinfonie), Schläge mit dem Holzhammer (imFinale der sechsten Sinfonie)und Militärmusik Eingang in sich als seriös verstehende Musik finden konnten.7 Ich hätte mit Peter Benary vermutlich ebenso wenig über Charly Parker, geschweige denn über Giacomo Puccini reden können. Aber Johannes Brahms war in unseren Gesprächen bis zuletzt immer präsent.

6 Peter Benary, Leise – aber deutlich. 100 Splitter und Balken zu Geschichte, Praxis und Theorie der Musik, Aarau 1994 (Wege, musikpädagogische Schriftenreihe, Bd. 6), S. 24.

7 «Die Musik von Gustav Mahler war mir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schon immer und ist mir nach wie vor fremd. Ich verstehe sie nicht, insofern ich keinen Zugang finde zu dem, was jenseits ihrer blossen Klanglichkeit liegen muss, soll sie rechtens als bedeutend gelten»(«Angenommen»).

Kind in einer rätselhaften Welt8

Peter Benary kommt am 17. September 1931 in Erfurt zur Welt. Es ist die Zeit der «Grossen Depression».Mit dem Zusammenbruch führender Banken und der um sich greifenden Arbeitslosigkeit steuert die Wirtschaftskrise in Deutschland ihrem Höhepunkt zu. Ein Jahr davor haben die Nationalsozialisten ihren ersten grossen Wahlsieg davongetragen.9 Mit dem Sturz von Reichskanzler Brüning Ende Mai 1932 beginnt Deutschlands autoritäre, offen antidemokratische Phase, die Hitler den Weg an die Macht ebnet. Am 30. Januar 1933 wird er von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Damit ist das Ende der WeimarerRepublik besiegelt und Deutschland hört auf, ein Rechts- und Verfassungsstaat zu sein. Gleichwohl scheint das Leben der assimilierten Familie des angesehenenDoktors Curt Justus Heinrich Benary zunächstnoch keinen Einschränkungen unterworfen und die Lebensweltdes kleinen Peter kaum belastet zu sein.

«Auf der Suche nach meinen frühesten Erinnerungen gelange ich zu zwei Bildern,von denen ich weder weiss, ob sie tatsächlich die frühesten sind, noch wie sie sich zeitlich zueinander verhalten. Beide sind mir weniger als konkrete Situationen erinnerlich als dank der mit ihnen verbundenen Gefühlsintensität, ihrer emotionalen Färbung. Das eine:Ich gehe unter den Rotdornbäumender Erfurter Burgstrasse nach Hause. Ein Gewirr aus Fragen:Bin ich, der ich bin?Was ist das Ich, das ich bin oder zu sein glaube?Bin ich das Ich, das ich bin? – Das sind natürlich heutige Formulierungen. Das andere:Ich spiele im Garten mit einem Holzbaukasten. Ebenso plötzlich wie intensiv wird mir die Unwiederholbarkeit des soeben erlebten Augenblicks bewusst, – die Einmaligkeit eines jeden Augenblicks. Auch hier weniger Gedankenals Empfindungen, die ich damals nicht hätte formulieren können. Doch gerade weil der intellektuelle Filter einer Formulierung fehlt, konntendiese beiden Erinnerungsbilder mir bis heute in ihrer Gefühlsintensität erinnerlich

8 Zwischentitel und Fussnoten, einschliesslich jener innerhalb von Zitaten, wurden vom Autor (Niccolò Raselli)eingefügt.

9 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens:Die Zeit der Weltkriege 1914 –1945,München 2011, S. 555 ff.

bleiben […]Ich erinnere mich, wie ich als Kind einmal in einer melancholischen Abendstunde auf einem Schrank sass und einen grossen Schlüssel, den ich an einen Bindfaden gebunden hatte, in immer grösseren Schwüngen hin und her pendeln liess, bis er in bedenkliche Nähe des Glaseinsatzes einer Tür geriet. Diese Tür hatte ein Gesicht, das ich nicht mochte. Ich sah es kommen, ich wusste, dass nur noch wenig fehlte, bis der Schlüssel ins Glas schlüge. – Was zwang mich, den Schlüssel noch weiter ausschwingen zu lassen?Erschlug ins Glas. Die melancholische Stimmung schlug ins Dramatischeum. Die Tür verlor ihr Gesicht – für immer, denn gleiches Glas wie in der heil gebliebenen anderen Türhälfte war nicht zu beschaffen. Sympathischer wurde sie mir nicht; nun schielte sie […]

Meine Faszination durch Zahlen begann in kindlichem Alter und diesem entsprechend. Die Zahlen erschienen mir teils wohlwollend sympathisch,teils feindlich unsympathisch, unterschieden zudem durch Farben, die ich ihnen zuordnete, manche auch durch ihre Vokale. So bildeten Acht, Aund Blau ein sympathisches Ensemble, Sieben, iund Gelb ein unsympathisches. Fünf und ügehörten dank üzusammen, ebenso, wenn auch ohne Vokalanklang, dafür aber vielleicht mit Zustimmung Sigmund Freuds Sechs und Rot. Es blieb mir die Vorliebe für Blau in allen Schattierungen, während Rot, Grün und Braun mir nur in dunkler Tönung sympathisch sind. Gelb, Beige und Rosa mochte und mag ich nicht. Es gab einen von mir heute als bedenklicherachteten Knabenwunsch nach einem eigenen Zimmer mit schwarzen Wänden und dunkelblauen Möbeln. Irgendwann wurde die Teilbarkeit der Zahlen ein Aspekt, der die Tagesdatenfreundlich und unfreundlich färbte. Beispielsweise bedeutete der 14. März die Zahl 143, deren Teilbarkeit durch 11 und 13 sie in ein sympathisches Licht rückte;eine Spielerei, die ich mir noch heute, wenn auch (fast)ohne Orakelgläubigkeit, zuweilen erlaube. […]Das war früher weniger Anschauungs- als Abstraktionsunterricht. Aus der Irritation ging Skepsis den Zahlen gegenüber und aus dieser mein Interesse an ihnen hervor … Als Kind hat es mich oft verwirrt, wenn von Erde im Sinne von Welt die Rede war und von Welt im Sinne der Erde. Man sagte ‹auf der ganzen Welt›,wenn doch offenbar nur die Erde gemeint war. Und wieso sagt man Erde, wenn doch die Meere mitgemeint waren?Und dann

sollte Erde auch noch ein Element sein, obwohl doch Stein, Holz und Metall und nicht nur Luft, Feuer und Wasser sich von der Erde unterscheiden… Das Wasser war und blieb mir ein feindliches Element. Als ich es als Kind zum ersten Mal in Massen sah – die Elbe bei Dessau –weinte ich, bis es hinter mir lag – und vor mir Ferien an der Ostsee!… Anders die Luft, von mir geliebt. […]Ausnahmsweise war ich, vielleicht achtjährig, allein zu Hause. Wenn es an der Tür läutet, soll ich nicht aufmachen.Esläutet an der Haustür. Die Neugier siegt. Ich erschrak: eine Frau, schon betagt, dunkler Teint, bunte Kleidung, schwarz funkelnde Augen, weniger furchterregendals märchenhaft.Obdie Mutter daheim sei?Nein. Zeig mir mal deine Hand. Ich gehorche, und sie studiert gründlich den Handteller;dann den der anderen Hand. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Dann sagt sie – ja, allzu gern wüsste ich, was sie gesagt hat. Erinnerlich ist mir so etwas wie Kopf und Herz, vermutlich später von mir mit Verstand und Gefühl übersetzt. Jedenfalls von Gegensätzen war die Rede, friedlich oder im Wettstreit. Ein Orakel, an das ich nicht glaube, das sich aber bewahrheitete. Warum wurde mir denn sonst die coincidentia oppositorum während vieler Jahre zu einer zentralen Idee?[…]

Der jüngere zweier Brüder zu sein, habe ich als Kind jahrelang als Belastung und Nachteil empfunden. Nicht-Arier zu sein, wurde mir jahrelang als Makel vorgehalten.Weder autofahren noch tanzen zu können, weder zu einer lockeren Konversationfähig zu sein noch eine Fremdsprachezubeherrschen, führte zu einem Bewusstseindes Ungenügens.»10 «Bei der Suche nach dem, worin mein Elternhaus mich nachhaltig, in manchem bis zum heutige Tag geprägt haben mag, kommt mir der Verdacht, alles dabei Erinnerte betreffe mehr oder weniger nur Äusserliches, während das angeeignete Wesentliche sich der Objektivierung entziehe, die es zum Gegenstand der Erinnerung werden lässt, – oder es verberge seine Zukunft. Woher wir kommen, wissen wir;worin wir Kinder unserer Herkunftsind, glauben wir zu wissen;doch ist es ein unzuverlässiges und unvollständiges Wissen.»11

10 Peter Benary, Autobiographisches.

11 Peter Benary, Angenommen.

Jüdische Vorfahren

Peter Benarys Vater Curt Justus Heinrich Benary (1894–1976), verheiratet mit Elisabeth Merkel (1902–1976), ist Arzt und Medizinalrat. Die Benarys haben zwei Kinder:Arne (1929–1971)12 und Peter (1931–2015). Deren Ururgrossvaterwar Bankier und hiess ursprünglich Salomon Levy (1770–1828). Verheiratet mit Jette Samuel (1730–1780), nahm er 1807 im Rahmen der unter Jérôme Napoleon erfolgten jüdischen Emanzipation den Namen Benary an (Sohn des Löwen). Sein Sohn Ernst Benary (1819–1893), Peters Urgrossvater,gründete 1843 in Erfurt einen Saatzuchtbetrieb von internationalem Renommee. 1847 wurde ihm das Erfurter Bürgerrecht verliehen. Der Benary-Platz in Erfurt ist nach ihm benannt.13 Aus seiner Ehe mit Bella Jonassohn gingen sieben Kinder hervor. Fünf Kinder traten zum Christentum über.14 Ernst Benarys Sohn bzw. Peter Benarys Grossvater Friedrich Benary (1850–1917), verheiratet mit Rose Eggert (1863–1941), führte den von seinem Vater gegründeten Saatzuchtbetrieb in der zweiten Generation weiter und war seines Zeichens Kommerzienrat.

«Mein Grossvater, 1917 gestorben, war Jude. Ich erfuhr es, als den Juden befohlen wurde, den Davidstern zu tragen und sich Sarah oder Israel zu nennen. Um mir zu erklären, was es damit auf sich hatte, war von Blut die Rede. Das Wort Rasse fiel vermutlich nicht. Was aber in diesem

12 Arne Benary studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Leipzig und war ab 1955 am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften tätig. Sein Engagement für eine demokratische sozialistische Selbstverwaltung brachte ihm den Vorwurf des Revisionismus und ein Parteiverfahren ein. Nach dem endgültigen Scheitern der wirtschaftlichen Reformbestrebungen in der DDR beging er am 10. Oktober 1971 Suizid (https://de.wikipedia.org/wiki/Arne_Benary,abgerufen am 26. 02. 2024). Dazu eingehend:Hans-Georg Draheim, Fritz Behrens und Arne Benary als kritische Vordenker einer sozialistischen Wirtschaftstheorie, UTOPIE kreativ, H. 144, Oktober 2002, S. 920–932.

13 Für seine Verdienste um den Gartenbau und das Wirken für seine Heimatstadt Erfurt erhielt Ernst Benary vielfältige Auszeichnungen. Zu seinem 70. Geburtstag 1889 wurde er zum «Königlich-Preussischen Geheimen Kommerzialrat»ernannt. 1891 erhielt er durch König Albert von Sachsen das Ritterkreuz des Albrechtsordens erster Klasse. 14 https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Benary(abgerufen am 26. 02. 2024).

ZusammenhangBlut zu bedeuten habe, war mir in beunruhigender Weise unklar.»15

PetersVater istnach nationalsozialistischer Terminologie sogenannterMischling ersten Grades.Mischlingebleiben letztendlich biszum Kriegsendeweitgehend vorradikalen Verfolgungsmaßnahmengeschützt,wenngleichdie Pläne dazu nie ganz aufgegeben werden und siedurch eine Reihevon BestimmungenerheblicheEinschränkungen erfahren.16 Emigration seifür seinen Vater kein Themagewesen,erzähltemir Peter.ImVerlaufedes Kriegessei derVater nachdem Zusammenbruchder Ostfront als Chirurgeingesetztworden.

Kindheit in einer prekären Umwelt

Im Jahr 1935 ergehen die Nürnberger Rassengesetze, deren Ziel es ist, Deutsche und andere Einwohner Deutschlands, die aus Sicht der Nationalsozialisten «rassisch»nicht zur «Volksgemeinschaft»gehören, auszugrenzen. Betroffene sind Menschen,die als Juden, Zigeuner oder Schwarze kategorisiert werden, sowie deren Angehörige. Menschen mit einem jüdischen Großelternteil (sog. «Vierteljuden»)werden als sog. «Geltungsjuden»definiert, wenngleich getaufte «Vierteljuden» als sogenannte «Mischlinge zweiten Grades»der «deutschblutigen Volksgemeinschaft»zugerechnet werden.17 Während sog. Mischlinge ersten Grades vom Beginn des Schuljahres 1942/43 an nicht mehr in die Schulen aufgenommen bzw. aus diesen ausgestossen wer-

15 Peter Benary, Autobiographisches.

16 Ende 1938 bestimmte der Reichsärzteführer, dass «innächster Zeit»kein jüdischer Mischling als Arzt bestellt werden dürfe. Eine gewisse Hoffnung, dem beruflichen Ruin zu entkommen, wurde nur jüdischen Kassenärzten zugestanden, «Mischlinge 1. und 2. Grades»eingeschlossen, die durch Dokumente nachweisen konnten, dass sie während des Weltkrieges entweder aktiv als Soldat gekämpft oder als approbierter Arzt «ander Front oder in einem Seuchenlazarett»Dienst getan hatten «oder wenn ihre Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind»(Cornelia Essner, Die «Nürnberger Gesetze»oder:Die Verwaltung des Rassenwahns 1933 – 1945,Paderborn 2002, S.385 f. und 419 f.).

17 Joseph Walk [Hrsg.], Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung,Heidelberg/München, 2013, S.127–129;Essner [Fn. 16], S. 171 f. und 194 f.

den,18 bleibt der Zugang für sogenannte Mischlingezweiten Grades weiterhin offen, kann aber an die Bedingung ausreichend vorhandenen Platzesgeknüpft werden. Einschränkungengibt es ab Mitte 1942, wobei die Zulassungsmöglichkeit den Rektoren, allerdings nur mit Zustimmung der Parteistellen, überlassen wird.19

«Als das Gerücht aufkam, das sich dann nicht bestätigte, Mischlinge zweiten Grades wie ich – dies die offizielleTerminologie – würden nicht mehr zum Gymnasiumzugelassen, bekam ich Privatunterricht, um ein Jahr früher ins Gymnasiumzukommen. Einmal aufgenommen, werde man mich vielleicht nicht wieder hinauswerfen. Also ging ich zweimal wöchentlich zu Fräulein Schlomka.Inder ersten halben Stunde machte ich Knoten in die goldenen Fransen der roten Tischdecke, die auf dem Tisch lag, an dem wir uns gegenübersassen;inder zweiten halben Stunde löste ich sie wieder auf. Trotzdem bestand ich die Aufnahmeprüfung und blieb zeitlebens dankbar dafür, dass mir der Rassenwahn der Nazis ein Jahr Schule erspart hat. Auf der Suche nach dem ‹arischsten› Knaben nahm man an einem Jahrgang der Erfurter Schüler Kopfmessungen vor. Man wurde fündig:Zwillingsbrüder, schlank, blond und blauäugig, – eine Wonne für die Rassenkundler. Man fotografierte sie;sie kamen in die Zeitung. Nur hatte man vergessen, sie nach ihren Vornamen zu fragen. Die betreffende Zeitung war im Nu vergriffen… Einmal gab es einen Jungvolk-Appell, bei dem uns ein neuer Personalausweis ausgehändigt wurde. Dabei die übliche Frage: Arisch?Meine Antwort:Nein. Grosses Aufsehen!Dahatte einer jüdische Vorfahren!Man sah mich an, als sei ich ein Schimpanse. Der Grossvater väterlicherseits zählte ein Viertel;hinzu kam mein Ururgrossvater mütterlicherseits, der Anatom Jakob Henle20.Das ergab zusammen 6/16. Mit Rotstift wurde dieses rassische Defizit in meinen

18 Ebd., S. 386 f.

19 Ebd., S. 379.

20 Jakob Henle (1808–1885)wurde 1840 als Professor für Anatomie und Physiologie an die Universität Zürich berufen. Er galt als ein Meister am Mikroskop und brachte die junge Wissenschaft der Histologie entscheidend voran (https://de.wikipedia.org/wiki/ Jakob_Henle, abgerufen am 26. 02. 2024).

Ausweis eingetragen. Je länger der Krieg dauerte, desto häufiger wechselten unsere Lehrer. Eines Tages bekamen wir einen neuen Mathematiklehrer namens Speerschneider, Träger des goldenen Parteiabzeichens, ein ‹alter Kämpfer› also. Er nahm die Namen der Klasse auf. Vormir sass Manfred Holtschmitt, – schlank, blond, blauäugig. Er nannte seinen Namen. Darauf Speerschneider entsetzt:Wie bitte?Manfred wiederholte:Holtschmitt. Speerschneider:Na, Gott sei Dank!Ich hatte Goldschmidt verstanden. – Das kann ja heiter werden, dachte ich, erfahren in den Schmerzen, wird einem die Haut des eigenen Namens abgezogen. Ich nannte meinen Namen. Doch statt den erwarteten hämischen Bemerkungen meinte Speerschneider:Ah, sehr gut, Achsenmächte!Gegen das i, mit dem er meinen Namen geschrieben haben dürfte, erhob ich keinen Einwand. Gelitten habe ich unter diesen oder ähnlichen Vorkommnissenund Erfahrungen nicht. Aber sie haben mich geprägt.»21

«Peter erwähnte sein eigenes Judentum auf dem Schulweg, wenn überhaupt,mit lächelnder Ironie und hochgezogenen Augenbrauen, fast verächtlich.[…]Daß ihm Juda bis zuletzt ein Tabu war, fern von 1945 und als freiem weltoffenem Schweizer, empfand ich als herkunftsvergessen und für einen solchen Geist religiös verklemmt.».22

Freundschaft

«Wir lernten uns mit acht Jahren, 1940, zu Beginn des 2. Weltkrieges, kennen. Es war in deiner Geburtsstadt Erfurt. Dein Vater war Frauenarzt, meiner Pfarrer. Deine Mutter war gross und wohlwollend, die meine klein und liebenswert. Da wir Eigenbrötler waren und keine Schulfreunde hatten, entschieden die Mütter, wir beide sollten uns einmal besuchen. Zuerst machte ich mich auf und klingelte an Eurem Gartentor. Ihr wohntet in einer Villa mit einem verlassenen Tennisplatz, aber mit getäfelten Wänden und Musikzimmer, das Cello des Vaters in der Ecke. Und ein Klavier!Duspieltest mir ein Stück darauf vor. Beim Gegenbesuch in meiner Dachkammer zeigte ich dir meine kleinen Kriegs-

21 Peter Benary, Autobiographisches.

22 Henning Gloege, Brief an den Autor vom 20. Mai 2016.

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