Martin Bondeli. «Gegen Reinhold bist Du ein Verächter Kants ...»

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«Gegen Reinhold bist Du ein Verächter Kants ...»
Friedrich Schiller unter dem kantischen Einfluss

Karl Leonhard Reinholds

«GegenReinhold bist Du ein Verächter Kants …»

Friedrich Schiller unter dem kantischen Einfluss

Karl Leonhard Reinholds

Schwabe Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung,Basel.

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AbbildungenUmschlag:Peter Copmann: Porträt Karl Leonhard Reinhold, Pastell 1821 (Wieland-Museum, Biberach); Ludovike Simanowiz:Porträt Friedrich Schiller, 1794 (Deutsches LiteraturarchivMarbach)

Korrektorat:Eva Lienemann, Pulheim

Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel

Cover:Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert& Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5122-2

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5123-9

DOI 10.24894/978-3-7965-5123-9

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1. Schillers Weg über Reinhold zur kantischen Philosophie

a) Die erste Begegnung mit Reinhold. Anfang und Entwicklung einer distanzierten Freundschaft

b) Eine Kritik Reinholds an Schillers geschichtsphilosophischer Abschlussideedes

3. Das Vergnügen als Fundament des Geschmacksvermögens und das umstrittene Verhältnis

b) Schiller über das moralrelevante Vergnügen an tragischen Gegenständen.

c) Reinhold gegen ein falsch verstandenes moralisches Vergnügen

d) Schillers Anerkennung der Vernunftmoral und die Verteidigung ästhetischer Triebfedern der Moral.

e) Schillers Wende in der Triebfederfrage und die grenzziehende Stärkung des ästhetischen Standpunktes.

Inhalt Vorwort .. .. .. ... .. .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 7 Einleitung .. .. ... .. .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. ... . .. .. .. .... 13
17
.. ... .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... 17 b) Schillers Rezeption von Schriften Kants und Reinholds 29 2. Gang und Ziel der Geschichte derMenschheit ... ... .... ... .... 37 a) Ideen Reinholds in Schillers Geschichtsdenken .... ... .... ... .... 37
Wohlwollens ... ... ... .. .. .... ... .... ... .... 42
Naheliegende EmpfehlungenReinholds an den Moralund Geschichtsdenker Schiller 48
c)
von
und Moral .. ... ... .... 51 a) Reinholds Theorie des Vergnügens ... ... .. .. ... .. .. .... ... .... 53
Ästhetik
.. ... ... ... .. .. ... .. .. .... ... .... 61
68
.. .. ... .. .. ... . 73
.. ... ... .. .. .... ... ... . 77

4. Die Trieblehre im Bannkreis von Reinholds Theorie des Begehrungsvermögens

a) Schillers Trieblehre vor der Abfassung der ästhetischen Briefe

b) Die Trieblehre in den ästhetischen Briefen

c)

d) Schillers Anschluss an Reinholds Verhältnis von Trieb nach Form und Trieb nach Stoff

5. Freiheit in kantischem Geist und die ästhetische Transformation von Reinholds Begriff des freien Willens

a) Bausteine eines kantischen Freiheitsverständnisses

b) Reinhold über Freiheit im Kontextaufklärerischer und systematologischer Streitlagen

c) Reinholds Theorie der Willensfreiheit

d) Schiller über Freiheit als Aufmerksamkeit und die Suche nach einer höheren Freiheit

e) Schillers Freiheitsdenken unter Berücksichtigung der kantischen Philosophie

6. Soziale Veränderung und das zukünftigeStaatswesen.

d) Schiller über einen Staat der Freiheit, Revolution und Staatsveränderung

.. ... ... .... ... .... ... .... 81
.. .. . 82
.. .. ... .. .. .. .. ... ... . 85
.. ... ... .... ... .... ... .... 87
Reinholds Trieblehre als Hintergrund
91
.. ... . 101
.. .. .. .. ... ... . 102
... ... .. .. .... ... .... ... .... 107
112
.. ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 117
.. ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 122
Schillers Auffassung von
Freiheit
die Transformation von Reinholds Theorie der Willensfreiheit .. .. . 127
f)
ästhetischer
und
Ethischer oder ästhetischer Staat? .. .... ... .... ... .... ... .... 137 a) Reinholds Ideen zu einem aufgeklärten Staat 137 b) Reinholds Plädoyer für den moralischen Staatszweck .. .. .. ... ... . 142
Reinholds moralischer Bund 146
c)
.. .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 148
Schillers ästhetischer Staat ... ... .. .. ... .. .. .... ... .... .. .. ... 154 Schlussbemerkung .. ... .. .. ... .. .. ... .... ... .... ... .... .. .. .. . 163 Literatur .. ... .. .. ... ... .... .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. 167 Primärliteratur .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... ... .. .. .. .. 167 Sekundärliteratur .. .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... ... .. .. .. .. 168 6 Inhalt
e)

«Gegen Reinhold bist Du ein Verächter Kants, denn er behauptet, daß dieser nach 100 Jahren die Reputation von Jesus Christus haben müsse.» Es schreibt dies der Dichter und Denker Friedrich Schiller dem Freund,Gönnerund KantLeser Christian Gottfried Körner am 29. August 1787. Vorausgegangen ist eine Reise Schillers von Weimar nach Jena, die ihn zu einer denkwürdigen Begegnung mit dem Kantianerund soeben an der dortigenUniversität zum Professor der Philosophie ernannten Karl Leonhard Reinhold geführt hat.

Die Äußerungist repräsentativ für einen mit beträchtlichen Ambitionen und hohen Erwartungen einhergehendenDiskurs zum KönigsbergerPhilosophen Immanuel Kant, wie er in den Jahren vor und nach dem Ausbruch der FranzösischenRevolution unter prominenten Aufklärungsdenkern gang und gäbe ist. Interessanterweise ist sie aber auch Zeugnis von Schillers erstmaliger Beschäftigung mit Kant, einer Beschäftigung, die sich in den Folgejahren zu einem veritablen moralisch-ästhetischen Philosophieren kantischen Zuschnitts ausweiten wird. Und nicht zuletzt legt sie den Eindruck nahe,dass der aufstrebende Professor Reinhold, der seit seiner Mitarbeit beim Teutschen Merkur und der dort unternommenen Veröffentlichung von Briefen über dieKantische Philosophie im Ruf eines erfolgreichen Schriftstellers steht, in Schillers Aneignung und Fortbildung der Philosophie Kants wohl eine mehr als nur episodische Rolle gespielt hat.

Dieser Eindruck trügt nicht. In der Tat ist es kein anderer als Reinhold, der Schiller kurz nach dessen Eintreffen am Weimarer Gelehrtenhof in eindringlicher Weise die Lektüre der kleinenSchriften Kants über Aufklärung und Geschichte der Menschheit ans Herzlegt. Und es ist wiederum Reinhold, der Schiller, für den sich nach anfänglichen persönlichen und beruflichen Querelen die Perspektive einer Jenaer Professur eröffnet, bei der erforderlichen Rezeption von Lehrstücken aus den Hauptschriften Kants und von Standardwerken des damaligen Kantianismus zur Seite steht. Nach Schillers Amtsantritt entspannt sich eine freundschaftliche Beziehung der beidenKollegen. Sie stehen als akademische Lehrer in einer Konkurrenz, die stets produktiv bleibt und auf Kooperation bedacht ist. Beide sind gleichermaßen bestrebt, ihre Schülerschaft von dem wohltätigen Wirken des Aufklärers und Geschichtsdenkers Kant zu überzeugen. Beide halten Vorlesungen zu einer an Einsichten der kritischen Vernunft anschließenden Geschmackslehre und erachten es als sinnvoll, Reflexionen zum Gefühl des

Vorwort

ästhetischen Vergnügens in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei sind von Reinhold ausgehende Initiativen nicht unerheblich für Schillers Annäherung an ein echtes, kantisches Verständnis von moralischer Vernunft und für eine tiefere Auseinandersetzung mit der Frage, welche Verfassung dem Konzept einer ästhetischen Vernunft zukommen müsse, um eine moralfördernde Funktion zu erfüllen. Und wenn Schiller nach einiger Zeit von Unzulänglichkeiten und Grenzen der Moral spricht und Respekt gegenüber den autonomen Zwecken der Ästhetik anmahnt, so zielt er in erster Linie gegen seinen Mitstreiter Reinhold, der ihm die Interessen der richtig verstandenen moralischen Vernunft allzu einseitig geltend zu machen scheint.

Ist Schiller bei seinem 1791 einsetzenden Studium von Abschnitten aus Kants Kritik der Urteilskraft sodann auch wesentlich durch Zugänge und Problemstellungen Körners beeinflusst, orientiert er sich im Kernbereich seines philosophisch-ästhetischen Schaffens dennoch weiterhin an systematischen Vorgaben Reinholds, und zwar vor allem an den 1789 mit dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens bereitgestellten Protoentwürfen zu einem System der gesamtenkritischen Vernunft, einem System der «Philosophie überhaupt». Diesesvor allem unter dem Namen einer «Elementarphilosophie»bekannt gewordene System beinhaltetausführliche Theorien des Vorstellungs- und Erkenntnisvermögens und schließt mit Grundlegungen zu einer Theorie des Begehrungsvermögens, die sich sowohl durch eine markante Triebund Freiheitslehre als auch durch eine Reihe von Definitionen und Erörterungen zu einem Ideal moralisch-religiöser Gemeinschaftauszeichnet. Von1789 bis zum Auftreten von Fichtes Wissenschaftslehre im Jahre 1794 gilt Reinholds System als die fortschrittlichste und innovativste Fortentwicklung des kantischen Denkparadigmas. In seinerarchitektonischen Komposition wird es richtungweisend für die frühen Systementwürfe des Deutschen Idealismus und damit verwandter Versuche eines nachkantischen Prinzipien- und Systemdenkens.1 Im Blick auf Schiller sind es die Hauptinhalte der Theorie des Begehrungsvermögens, die sich als die entscheidenden Inspirationsquellen erweisen.

Man darf so sehr wohl schlussfolgern, dass Reinhold für Schiller über mehrere Jahre hinweg ein anregungsreicher und dabei selbst auch lernwilliger Gesprächspartner in Bezug auf Fragen zur Rezeption und Fortentwicklung der kantischen Philosophie ist. Und es ist auch nicht zu übersehen, dass der Universitätslehrer Schiller in Reinhold einen freundschaftlichen Mitstreiter hat, der sich um das Wohl seines Kollegen sorgt und ihm bei organisatorischen Aufgaben behilflich ist. Dank Vermittlungen Reinholds kommt Schiller Anfang1792 nach einer schweren gesundheitlichen Krise in den Genuss eines vom dänischen Hof gewährten Stipendiums. Es ist diese Unterstützung, die es Schiller denn auch

1 Zur Wirkung von Reinholds kantischem System siehe M. Bondeli:Die Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds und ihre Folgen.

8 Vorwort

überhaupt ermöglicht, seine philosophisch-ästhetischen Grundgedanken in einem größeren Umfang auszuführen und in eine bündige Gestalt zu bringen. Schiller gründet Mitte der 1790er-Jahre die Zeitschrift Die Horen und veröffentlichte darin seine legendär gewordenenBriefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen.

Mit der folgendenStudie präsentiere ich das Resultat meiner Bemühungen, auf die hier summarisch umrissene Fakten- und Diskussionslage in der Beziehung zwischen Reinhold und Schiller mit der nötigen Detailliertheit einzugehen. Nach einer Schilderung der anfangs zuweilen spannungsvollen persönlichen und beruflichen Beziehung zwischen den beiden Persönlichkeitenund nach einer Übersicht zu Schillers Rezeption kantischer Schriften wende ich mich der philosophischen Dimension der Beziehung zu. Grundtenor meiner Darstellungsind die signifikantenGemeinsamkeiten und Erkenntnisfortschritte, aber auch die mit Potential zu Kontroversen einhergehendenVerästelungeninder philosophischen Gedankenwelt der beiden. Es wird aufgewiesen, dass die Diskussionsbasis Reinholds und Schillers erstaunlich breit und vielschichtig ist. Die vereinten Denkanstrengungen drehensich um Ideen zur Aufklärung und Geschichte der Menschheit, um das Gefühl des ästhetischen Vergnügens, das als Fundament des menschlichen Geschmacksvermögens gelten kann, schließlich um Fragen zur Beschaffenheit, Veränderbarkeit und Möglichkeit der Kultivierungder menschlichen Triebstruktur. Gerungen wird in beidenFällen um die Herausmodellierung von Idealen der moralischen und ästhetischen Vernunft und um eine Verständigung über das Wesen und die Beschaffenheit der menschlichen Willensfreiheit. Zur Debatte steht damit in der Quintessenz die Frage, welche Gemeinschaftsvision als die adäquate zu betrachten ist. Ist dem Ideal des vernünftigen und freien Menschen primär, wie Reinhold annimmt, ein moralisch-religiöses Gemeinwesen angemessen?Oder ist nicht vielmehr mit Schiller die Idee eines ästhetischen Staates in Erwägung zu ziehen?

Entstanden ist die vorliegende Studie im Anschluss an eine jüngere Untersuchung meinerseits zu den Einflüssen Reinholds auf das philosophische Schaffen Friedrich Hölderlins.2 Im Zuge dieser Untersuchung drängte es sich auf, auch Schiller als Konstellationsfigur ausführlicher zu porträtieren. Ein entscheidender Impetus, die Studie in Angriff zu nehmen, ging zudem von dem seit längerem geäußerten Forschungsdesiderat aus, die persönliche und philosophische Beziehung zwischen Reinhold und Schiller gezielt aufzuarbeiten.

Hinsichtlichder Forschungslage konnteich bestehendenSpuren folgen und so zuvor vage gebliebene Ansichten festigen oder korrigieren. Dank diverser Recherchen, die ich im Rahmen der Edition von «Reinholds Gesammelten Schrif-

2 Siehe M. Bondeli:ImGravitationsfeld nachkantischen Denkens.

Vorwort 9

ten»betrieben hatte,gelang es mir aber auch, neue Fährten zu entdecken. In jüngerer Zeit habe ich in drei Publikationen3 in selektiver Weise auf Erträge, die ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Reinhold und Schiller werfen, hingewiesen. Mit der vorliegenden Studie können diese Erträge nun in integraler Gestalt, in manchen Punkten vertiefet und durch neue Einsichten komplettiert, wiedergegeben werden.

Die Tatsache, dass Schiller sich im Essay Ueber Anmuth und Würde und in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen philosophisch nicht nur an Kant und Fichte, sondern auch an Reinhold, so besonders an dessen Trieblehreund Auffassung zur Freiheit des Willens, angelehnthaben dürfte, wurde in der betreffenden Literatur da und dort erwähnt,jedoch kaum dokumentiert und nur sehr beschränkt interpretatorisch ausgeschöpft. Die vorliegende Studie soll dieses Defizit beheben. Mit ihr wird der Nachweis für die These angetreten, dass Schiller sowohl dem Grundkonzept nach als auch in vielen Einzelheiten von Reinholds Ausführungen zu einem moralphilosophischen Axiom von Form- und Stofftrieb sowie zum Begriff des freien Willens als Vermögen, zwischen Forderungen konträrer Triebe zu entscheiden, ausgeht und diese Ausführungen in einem Prozess der Rekonstruktion an die eigene Denklage heranführt und entsprechend transformiert.

Dass neben der Klärung von Fragen zu den Grundtrieben und zur Willensfreiheit des Menschen auch eine aufhellende Erörterung des Begriffs des ästhetischen Vergnügenszuden basalen Zielsetzungen in der intellektuellen Gemeinschaft zwischenReinhold und Schiller zu zählen ist, blieb in der einschlägigen Literatur hingegen zu gut wie unbeachtet. In dieser Hinsicht betrete ich Neuland und verteidige mit der vorliegenden Studie die Ansicht, dass Schiller mit seinem aus der Jenaer Vorlesungstätigkeit erwachsenen Thalia-Aufsatz Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen eine Thematik behandelt, die auf eine markante Diskussionslage Reinholds gleichsam zugeschnitten ist. Es gilt zu vergegenwärtigen, dass Reinhold sich seit 1788 mit einem geschmackstheoretischen Fundamentalbegriff des ästhetischen Vergnügensbefasst und diesen Begriff fortan auch gegen Widerstände Kants, der Vergnügen für ein urteilsloses Gefühl des Angenehmen hält, ins Zentrum seines Verständnisses von ästhetischer Vernunft gerückt hat. Indem Schiller in dem besagten Aufsatz das ästhetische Vergnügen für den Hauptzweck der Kunst erklärt, stellt er sich de facto hinter Reinhold, fordert diesen aber gleichzeitig auf, zu den Möglichkeiten, mittels Kultivierungdes ästhetischen Vergnügens auf Moralinförderlicher Weise einzuwirken, Stellung zu nehmen. Interessanterweise lässt sich hieraus am Ende ersehen, dass die beiden Protagonisteneinem bestimmten Interaktionsmuster folgen.

3 Es handelt sich um M. Bondeli:Sachtrieb, Formtrieb und die Suche nach einem harmonischen Verhältnis der beiden Grundtriebe;Schillers zwei Arten der Freiheit;Karl Leonhard Reinhold’sInfluence on Schiller’sReception of Kant.

10 Vorwort

Es spricht vieles für die Annahme, dass Reinhold Schiller in wiederholter Weise auffordert, in der jeweils behandelten Sache den kantischen Standpunkt einer moralischen Vernunft akkurat und nicht nur einer allgemeinen Tendenz nach zu berücksichtigen. Schiller seinerseits nähert sich, worauf die Indizienlage ebenfalls schließen lässt, sukzessiveden als kantisch eingestuften Auffassungen Reinholds, dies jedoch nicht ohne einezuweilen trotzig wirkende Antwort bereitzuhalten. Schiller unterbreitet die revidierte Wiedergabe der jeweiligen Sachverhalte zugleich mit einer neuen ästhetischen Pointe. Dies offenbart sich im Falle der Trieb- und Freiheitslehre mit der Einführung eines dritten, ästhetischen Triebes, im Falle des sozialpolitisch bedeutsamen Aufklärungsdenkens mit dem Standpunkt eines Primats ästhetischer vor moralischer Erziehung. Schiller ist bei aller Parteinahme für einemoralrelevante Form von Ästhetik erklärtermaßen Vertreter einer ästhetischen Aufklärung, währendReinhold unter vergleichbarer Bedingung die ästhetische Aufklärunglediglich als Vorhof der moralischen betrachtet. Neue Aufschlüsse, die der Studie zugutekommen, ließen sich ferner mit einer Einbeziehung von Schillers anthropologischem Schaffen aus den Stuttgarter Studentenjahren, das in diversen Monographien zum jungen Schiller eindrücklich dokumentiert ist,4 sowie von philosophischenTexten Schillers, die aus der Zeit unmittelbar vor seinem Aufenthalt in Weimar und Jenastammen, gewinnen. Die Vergegenwärtigung von Schillers Wissensstand und Problembewusstsein zur Zeit seiner Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen lässt den Schluss zu, dass er über gute Voraussetzungen für einen konstruktivenAnschluss sowohl an moral- und geschichtsphilosophische Denkfiguren Kants als auch an die Trieb- und Freiheitslehre Reinholds verfügte. Aber sie lässt ebenso erahnen, dass Schiller, um im kantischen KlimaJenas zu reüssieren, fortan einige intellektuelle Hürden zu überspringen hatte. So wurde es für ihn offenbar nötig, metaphysisch-kosmologische Ideen der Vollkommenheit, Freundschaft und Liebe, die allesamt einen neuspinozistischenAnstrich der Richtung Herders aufweisen, zu hinterfragen. Zudem wurde ihm vor Augen geführt, dass seine vormalige Befürwortung der von der englischen Philosophie des moral sense und in der deutschen Philosophie von Christian Garve hochgehaltenen Moral des Wohlwollens mit der Systematik des kantischen Moraldenkens kaum kompatibel ist.

In jüngerer Zeit ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass es beachtliche Koinzidenzen in Reinholds und Schillers Behandlung geschichtsphilosophischer Ideen gibt. Schiller hat auf Texte Reinholds, die von frühen Phasender Menschheitsgeschichte handeln, Bezug genommen und, wie Jan Assmann dokumentiert hat, mit dem Aufsatz Die Sendung Moses dem Publikum Reinholds Vorlesungen über Die Hebräischen Mysterien in Form einer eingängigen Nacherzählung prä-

4 Hilfreich ist hier insbesondere W. Riedel:Die Anthropologie des jungen Schiller.

Vorwort 11

sentiert.5 In der vorliegenden Studie können wir weitere Affinitäten im geschichtsphilosophischen Denken unserer beiden Hauptakteure offenlegen. So wird transparent gemacht, dass sowohl bei Reinhold als auch bei Schiller der Anspruch besteht, eine Methode der Geschichtsschreibung zu verfolgen, die als philosophisch reflektiert gelten kann.

Nicht ausgespart wird in der vorliegenden Studie schließlich der Versuch, zu dem in der Literatur zur Epoche der Aufklärungzuweilen erwähnten Befund Stellung zu nehmen, dass Reinhold und Schiller zu einem Personenkreis gehören, der Interesse an einem Aufklärungsdenken bekundet, das mit Aktivitäten im Freimaurerorden der Illuminaten verknüpft ist. Reinhold war in seinen Wiener Jugendjahren ein Zögling der Barnabiten, der die religionstolerante Politik Josephs II. begrüßte und sich in der Folge im örtlichen Kreis der Illuminaten engagierte. Später zählte Reinhold zu einer illuminatischen Avantgarde, welche sich der Reorganisationdes Ordens im gesamten deutschen Kulturraum verpflichtet sah.6 Was Schiller betrifft, wird mit unserer Studie die Ansicht vertreten, dass in der Tat auch in seinem Falle das Stichwort ‹Freimaurertum› angebrachtist. Es ist belegt, dass Schiller seit seinen Stuttgarter Ausbildungsjahren Kontakte zu den Illuminaten unterhieltund Treffen mit führenden Personen des Bundes stets als attraktiv empfand.7 Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass die Personen am dänischen Hof, die Schiller in den 1790er-Jahren unterstützten, einer illuminatisch imprägnierten Sozietät angehörten, die für moralische und sozialpolitische Reformen plädierte. Vondaher häufen sich die Anzeichen, dass im Verhältnis zwischen Reinhold und Schiller ebenfalls ein freimaurerisches Bindeglied existierte. Ob Schiller organisatorisch in den Orden eingebunden oder lediglich Sympathisantdesselben war, bleibt umstritten.Klarheit können hier vermutlich künftige Forschungen zur Geschichte der Freimaurerei bringen.

Ein Dank gilt an dieser Stelle der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Berta Hess-Cohn Stiftung für den großzügigen Beitrag an die Druckkosten der Studie.

Martin Bondeli, Januar 2024

5 C. L. Reinhold:Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, hg. und kommentiert von J. Assmann.

6 Zu Reinholds Wirken im Dienst der Aufklärung finden sich neue Aufschlüsse in dem von Sabine Röhr unter Mitwirkung von Silvan Imhof herausgegebenen Band 6/1 der Gesammelten Schriften Reinholds.

7 Dazu umfassend H.-J. Schings:Die Brüder des Marquis Posa.

12 Vorwort

Nachdem Friedrich Schiller gegen Mitte des Jahres 1787 zum Abschluss der Buchfassung des Don Carlos gekommen war, verstrichen rund zehn Jahre bis zu einer speditiven Ausführung des Plans zu seinemnächsten legendären Bühnenstück, dem Wallenstein. Während dieser Pause als Dramenautor blieb Schiller aber keineswegs untätig.Sowandte er sich jetzt intensiviert seinem epischen und lyrischen Werk zu, trieb Arbeitenander eigens initiierten Theaterzeitschrift Thalia voran, nahm die Niederschriftfälliger Artikel und Rezensionen in Angriff. Darüber hinaus stellte der Dichter sich neuen intellektuellen Herausforderungen. Er wechselte in die Rolle des Historikers, publizierte Studien zum Abfall der Niederlande von Spanien sowie – in Gedanken an sein kommendes dramatisches Großprojekt, den Wallenstein – zum dreißigjährigen Krieg.

Und damit nicht genug. Hinzu kam ein philosophisch-ästhetischer Schaffenszweig,der ihm Gelegenheit bot, an der Entfaltung der von Kant begründeten neuesten deutschen Philosophie mitzuwirken, und der ihm nicht zuletzt akademische Ehren einbringen sollte. Vorübergehend konnte Schiller als Professor an der Universität in Jena wirken und an dieser Lehrstätte des Kantianismus Vorlesungen zu Universalgeschichte und Ästhetik halten. Im Laufe der 1790er-Jahre meldete er sich mit vielbeachteten Aufsätzen moralisch-ästhetischen und kunstphilosophischen Inhalts zu Wort, wobei die um 1795 in seiner neuen Hauszeitschrift Die Horen publizierten Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen,mit dem eine ästhetische Anschlussgestalt zum «praktischen Theil des Kantischen Systems» geliefert wird8,den offensichtlichen Höhepunkt bildete.

Es ist unverkennbar, dass Schiller mit seinem philosophisch-ästhetischen Denken der 1790er-Jahre einen in die Ausbildungsjahre zurückreichenden Arbeitsstrang wiederaufnahm. Als ‹Eleve› der Herzoglichen Militärakademie in Stuttgart und spätererMilitärarzt hatte sich der dichterisch ambitionierte junge Schiller juristischen, medizinischen sowie philosophisch fundierten physiologischen und anthropologischen Studien zugewandt.9 Angeregt durch anthropologische und empirisch-psychologische Lehrstoffe insbesondere von Seiten seines

8 Schiller:Die Horen, 1795, Bd. I, 1. Stück, 8f.

9 Zur Bedeutung von Schillers Stuttgarter Studium für seine damaligen und kommenden philosophischen Grundeinsichten siehe den informativen Überblick bei L. A. Macor:The Development of Schiller’sPhilosophical Attitude, 73–82.

Einleitung

Philosophielehrers Jakob Friedrich Abel, resultierte daraus die Dissertation Versuch über den Zusammenhangder tierischen Natur des Menschen mit seinergeistigen. Diese 1780 veröffentliche Abschlussarbeit nimmt mit ihren Überlegungen zu den Grundtrieben des Menschen Aspekte der späteren moralisch-ästhetischen Trieblehrevorweg. Im Weiteren besteht kein Zweifel über die wegweisende Bedeutung der ab 1786 verfassten Philosophischen Briefe,die einen Gedankenaustausch Schillers mit dem langjährigen Freund, Mentor und Förderer Christian Gottfried Körner spiegeln. Die dort bekenntnishaft zu Papier gebrachtenanthropologischen und kosmologischen Ideen der Vollkommenheit und Liebe sollten sich in geläuterter Gestalt als anschlussfähig für ein kommendes Philosophieren im Bunde mit den Kantianern erweisen. Doch versteht sich zugleich, dass Schiller jetzt von einer weit umfassenderen und versierteren Denkdynamik ergriffen wurde und zu ganz anderen intellektuellen Höhenflügenansetzte. Seit einiger Zeit befand er sich nicht mehr in herzoglichen Diensten, die seinemdichterischen und philosophischen Streben Grenzen gesetzt und zu Fluchtversuchen genötigt hatten. Abererlebte nun auch nicht mehr lediglich in jener Welt, die ihn danach als Schriftsteller und Theaterautor, besonders mit den Räubern und mit Kabale und Liebe,erste größere Erfolge feiern ließ. Er machte jetzt Bekanntschaft mit dem berühmten Gelehrtenkreis der Weimarer Klassik um Christoph Martin Wieland,Johann GottfriedHerder und Johann Wolfgang Goethe, mit dem gleichermaßen als revolutionär wie systemisch ausgefeilt geltenden Jenaer Kantianismus um Christian Gottfried Schütz, Gottlieb Hufeland, Carl Christian Erhard Schmid und Karl Leonhard Reinhold, in der Folge ebenso mit dem für energische und erfinderische Geister attraktiven Zirkel um Johann Gottlieb Fichte und seine frühromantischen Anhänger.ImDezember 1788 auf Initiative des Weimarer Hofs zum Professor in Jena ernannt,sog Schiller nicht nur den dortigen philosophischen Aufklärungs- und Erneuerungsgeist ein, er sah es offenbar auch als seine Aufgabe und Pflicht, sich mit der Philosophie Kants intensiver zu befassen. Als neuer Jenaer Universitätslehrer konnte er nicht umhin, sich mit Kants Schriften und mit der kantianischen Lehrprogrammatik, die hauptsächlich durch Schütz, den Begründer der Allgemeinen Literatur-Zeitung,etabliert worden war, auseinanderzusetzen.

Zwar keineswegsdie einzige Person, die Schiller damals mit Kant und dem Jenaer Kantianismus in Berührungbrachte, aber offenbar jene, die ihn am entschiedenstenund mit der nachhaltigsten Wirkung an diese Strömung heranführte, war der bis 1786 vor allem als Schwiegersohn und Mitarbeiter Wielands sowie als Verfasser vielbeachteterTexte zur kantischen Philosophie wahrgenommene, ab 1787 dann mehr und mehr als neue Lichtgestalt der Jenaer Universität geltende Reinhold. Wenige Wochennach seiner Ankunft in Weimarzog Schiller nach Jena und verbrachtedort einige Tage im Hause Reinholds. Es ergabsich umgehend ein Gespräch mit dem Hausherrn über Kant und die kantischePhilosophie, das Schiller nicht unbeeindruckt ließ. Es war der Auftakt einer längeren Beschäf-

14 Einleitung

tigung Schillers mit einem durch Einsichten und Ansätze Reinholds geprägten kantischen Denken. Neben Grundansichten aus Kants kleinenAufsätzen,die in der Berlinischen Monatsschrift erschienen waren, und zentralen Abschnitten aus der Kritik der Urteilskraft waren es Resultate Reinholds zum Begriffdes Vergnügens, zu den Triebendes Begehrens sowie zum menschlichen Willens- und Freiheitsvermögen, die Schiller als Vorlage und Inspirationsquelle seiner philosophisch-ästhetischen Reflexionen dienten. Davon abgesehen hegte Schiller eine Reihe von Ansichten zu Begriff und Methode der Aufklärung und zu den möglichen Perspektiveninder neuesten Entwicklungder Menschengeschichte, über die er sich mit Reinhold passend verständigen konnte. Wir wollen im Folgenden auf diese Zusammenhänge näher eingehen. Wirbeginnen mit einigen Betrachtungen zu Schillers Aneignung der kantischen Philosophie, die auch das persönliche Verhältnis zwischenSchiller und Reinhold10 beleuchten sollen, und richten unsere Aufmerksamkeit danach auf die denkerische Beziehung der beiden.

10 Mit diesem Verhältnis hat sich bisher einzig Sabine Röhr näher befasst (siehe S. Roehr: Zum Einfluß K. L. Reinholds auf Schillers Kant-Rezeption).

Einleitung15

1. Schillers Weg über Reinhold zur kantischen Philosophie

Schiller fand im Juli 1787, nach Aufenthalten in Dresden und Leipzig, wo er Körner und dessen Freundeskreis besucht hatte,den Weg nach Weimar und Jena. Weimar war für Schiller keine unbekannte Adresse. Ende 1784 hatte der thüringische Landesherr Herzog Carl August ihn nach einer Lesung des ersten Aktes des Don Carlos zum Weimarer Rat ernannt.Eine wohlwollende Aufnahme in dortigen Gelehrten- und Literatenkreisen war demnachsogut wie sicher. An diesem Ort konnte Schiller außerdem seine langjährige Dichterfreundin Charlotte von Kalb wiedersehen. Sehr bald traf er Herder, mit dem er philosophisch-literarische Gespräche, so unter anderem zum Verhältnis von Liebe und Selbstheit, führte, danach Wieland,der den Dichterkollegen freundlich in seinem Hause aufnahm und ihn über eine längere Zeitspanne beherbergte. Goethe befand sich auf einer Italienreise, der ersehnte persönliche Kontakt zu ihm konnte erst Ende 1788 aufgenommen werden. Auch zu einer geplanten Zusammenkunft mit Johann Christoph Bode, der sich als Nachfolger Adam Weishaupts um die Führung und Reorganisation des seit 1784 offiziell verbotenen, im Geheimen aber weiterhin regsamen Freimaurerordens der Illuminaten bemühte, sollte es zu einem späterenZeitpunkt kommen.

a) Die erste Begegnung mit Reinhold. Anfang und Entwicklung einer distanzierten Freundschaft

Nicht lange nach dem Eintreffen in Weimar, im August 1787, begab sich Schiller mit Charlotte von Kalb und WielandsTochter Sophie, der Frau Reinholds, in den Nachbarort Jena. Schiller verbrachte sechs Tage im Hause Reinholds, der wenige Monate zuvor von Weimar in die Saalestadt umgezogenwar und sich auf seine im Herbst beginnende neue Tätigkeit als Professor der Philosophie vorbereitete. Schiller führte mit Reinhold, von dessen literarischer und aufklärerischer Tätigkeit er im Vorhinein durch Körner wusste, Gespräche über Kant, unternahm in Begleitung Reinholds kleinere Ausflüge, knüpfte Kontakte zu weiteren Gelehrten des Ortes, darunter zum Personenkreis um die Allgemeine LiteraturZeitung. An Freund Körner, mit dem Schiller philosophische Gedanken über den

Gang der «erwachenden und fortschreitenden Vernunft»ausgetauscht11 und von dem er kurz zuvor einevon Herders Gespräch Gott handelnde Beurteilung erhalten hatte,12 in welcher Kants Kritik an den klassischen Gottesbeweisen für richtig befunden und Kants von unnötigen Spekulationenbefreites Philosophieren allgemein gelobtwird, schrieb Schiller am 29. August 1787 zu seinem Jenaer Aufenthalt:

Gegen Reinhold bist Du ein Verächter Kants, denn er behauptet, daß dieser nach 100 Jahren die Reputation von Jesus Christus haben müsse. Aber ich muß gestehen, daß er mit Verstand davon sprach, und mich schon dahin gebracht hat, mit Kants kleinen Aufsätzen in der Berliner Monatschrift anzufangen, unter denen mich die Idee über eine allgemeine Geschichte ausserordentlich befriedigt hat. Daß ich Kanten noch lesen und vielleicht studieren werde scheint mir ziemlich ausgemacht. In kurzem sagt mir Reinhold wird Kant eine Critik der praktischen Vernunft oder über den Willen – und dann auch eine Critik des Geschmacks herausgeben. Freue Dich darauf.13

Der kantisch-reinholdische Funke, der bei diesem Treffen auf Schiller überging, ist unbestreitbar. Den nachträglichen Schreiben14 zufolge wurde von beidenauch das persönliche Zusammensein als angenehmund inspirierend empfunden. Es bestand das Interesse an einer Fortsetzung der Gespräche. Doch machten sich ebenfalls Vorbehalte bemerkbar, dies jedenfalls in ersichtlicher Weise bei Schiller, der gegenüberKörner sogleich auch seine polarisierenden Impressionen schilderte und zu verstehen gab, was ihn charakterlich von Reinhold trenne und eine engere Zusammenarbeit mit diesem wohl erschwere:

Reinhold kann nie mein Freund werden, ich nie der seinige, ob er es gleich zu ahnden glaubt. Wir sind sehr entgegengesetzte Wesen. Er hat einen kalten klar sehenden tiefen Verstand, den ich nicht habe und nicht würdigen kann;aber seine Phantasie ist arm und enge und sein Geist begränzter als der meinige. […]Erwird sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal, noch in der Wirklichkeit erheben, und das ist schlimm. Ich kann keines Menschen Freund seyn, der nicht Fähigkeit zu einem dieser beiden, oder zu beiden hat.15

In der Folge sollte für Schiller nicht nur das gegensätzliche Naturell, sondern auch die berufliche und verwandtschaftliche Stellung Reinholds im Hause Wielands ein Hindernis für eine engere oder unbefangene Beziehung mit dem Jenaer Philosophen darstellen. Schiller hatte in seinen Umzug nach Weimarnicht wenige Erwartungen gesetzt. Er versprach sich neue intellektuelle Höhenflüge, erhoffte sich aber auch einen Ausweg aus seinen finanziellen Nöten, die ihn seit länge-

11 Siehe Schiller:Thalia, 1786, 3. Heft, 101.

12 Siehe Körner an Schiller. 19. August 1787. Schiller:NA31/1, 138–141.

13 Schiller an Körner. 29. August 1787. Schiller:NA24, 143.

14 Siehe Reinhold:Korrespondenzausgabe 1, 254 f., 259 f.

15 Schiller an Körner. 29. August 1787. Schiller:NA24, 144.

zur kantischen Philosophie
18 1. Schillers Weg über Reinhold

a) Die erste Begegnung mit Reinhold. Anfang und Entwicklung einer

rem plagten. Er suchte nach einer festen Anstellung und bürgerlichen Lebensbasis. Genährt wurde seine diesbezüglicheHoffnung sodann vor allem durch den mit Wieland ausgehandelten und Ende 1787 öffentlich mitgeteilten Plan einer Neuorganisation von dessen renommierter Zeitschrift Der Teutsche Merkur, 16 für die seit einiger Zeit auch Reinhold redaktionelle und organisatorische Arbeit leistete. Schiller sollte diesem Plan zufolge an der Herausgeberschafteiner verstärkt überregional ausgerichteten Fortsetzung des Teutschen Merkur beteiligt werden, dies unter der Voraussetzung eines Zusammenschlusses mit der Thalia, 17 die dadurch als gesondertesOrgan nicht mehr weiterexistieren sollte. Schiller nahm diesen Vorschlag mit Optimismus auf und glaubte,dass sich hiermit «meine ganze Existenz sicher stellen»lässt.18 Er verkehrte unterdessen rege im Hause Wielands und war vorübergehend nicht abgeneigt, in die Familie einzuheiraten.

Die Schritte zur Umsetzungdes erweiterten Publikationsprojekts folgten dann abernur zögerlich. Man wollte vorerst erproben, wie sich unter den gegenwärtigen Bedingungen die gemeinsam in Angriff genommenen redaktionellen und schriftstellerischen Arbeiten entwickeln. Gegen Ende des folgendenJahres stellte sich heraus,dass eineNeuorganisationdes Teutschen Merkur aufgrund der zur Verfügung stehenden Geldmittel kaum in dem geplanten Maßezurealisieren war.19 Schiller sah einen triftigen Grund für das absehbare Scheitern in dem schlechten Einfluss der Schwiegersöhne Wielands. Angesprochen war damit insbesondere Reinhold, der nach Meinung Schillers seinem Schwiegervater «offenbar auch mehr geschadet als genutzt»habe.20 Dem war sicherlich nicht so, hatte Wieland in Reinhold doch einen durchaus kompetenten und umsichtigen Mitbetreuer des Teutschen Merkur. Unter anderem war es Reinhold und seinen Aufsätzen, so vor allem den Briefen über die Kantische Philosophie,zuverdanken, dass das Organ besonders auch bei einem neueren philosophischen Publikum an Bedeutung gewann.

Was Schiller tatsächlicherzürnte und gegen Reinhold aufbrachte, war eine als überhöht empfundene monetäre Vergütung von dessen redaktionellen Tätigkeiten im Zusammenhang des Teutschen Merkur. Reinhold bezog, wie Schiller in Erfahrung gebracht hatte, in Jena als Extraordinarius seit Beginn seiner Lehrtätigkeit ein bescheidenes Gehalt.21 Daneben sollte Reinhold, wie Wieland in Eigenregie bestimmte, das bisherige jährliche fixe Salär für der Zeitschrift dienliche publizistische und redaktionelle Tätigkeiten auch in den kommenden Jahren er-

16 Siehe Wielands Erklärung in:Der Teutsche Merkur, 1787, Dezember, 286 f.

17 Siehe Schiller an Körner. 14. Oktober 1787. Schiller:NA24, 165 f.

18 Schiller an Huber. 26. Oktober 1787. Schiller:NA24, 171.

19 Siehe Schiller an Körner. 14. November 1788. Schiller:NA25, 132–134.

20 Schiller an Körner. 14. November 1788. Schiller:NA25, 134.

21 Siehe Schiller an Körner. 25. Dezember 1788. Schiller:NA25, 168.

distanzierten Freundschaft 19

halten.22 Schiller wurde damit klar, dass unter diesen Umständen sein Ziel, sich mit einer Beteiligung am Teutschen Merkur finanziellabzusichern, in weite Ferne gerückt war. Und es erschien ihm deshalb ratsam, sich für die Linderung seiner Geldnot nach anderen Möglichkeiten umzusehen. Diese Situation führte nach anfänglichen Rivalitäten mit Reinhold nun eine Zeitlang ebenfalls zu manchen Anfeindungen.

Einen Bruch mit Wieland und Reinhold wollte Schiller in Folge aber nicht herbeiführen. Er blieb weiterhin freier Mitarbeiter beim Teutschen Merkur (ab 1790 Neuen Teutschen Merkur), schrieb Rezensionen für die Allgemeine Literatur-Zeitung und betreute nach wie vor seine bei Göschen erscheinende Thalia (ab1792 Neue Thalia). Zudem eröffnete sich für ihn umgehend eine andere berufliche Perspektive,mit der in absehbarer Zeit auf eine verbesserte Lebensgrundlage zu hoffen war. Bereits unmittelbar nach Schillers Ankunft in Weimar wurde darüber diskutiert, ihn auf eine außerordentliche Professur an der Jenaer Universität zu berufen.23 Dieser Vorschlag wurde nun Ende 1788 aufgegriffen und durch Goethe und den Weimarer Regierungsrat Christian Gottlob Voigt offiziell in die Wege geleitet.24 Es wurde erwartet, dass Schiller an der Philosophischen Fakultät über «Geschichte»dozieren wird.25 1790 ergab sich dann aber auch der Plan einer flankierendenVorlesung zu Ästhetik.Schiller solltedamit auf einem Lehrgebiet weitere Akzente setzen können, dem sich bisher Schütz und Reinhold in ihrer Weise gewidmet hatten.

Im Mai 1789 konnteSchiller als neuer Jenaer Professor der Philosophie seine – in der Folge sowohl im Teutschen Merkur als auch separat abgedruckte –Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? halten und in dem folgendenSemester die vorgesehene Lehrtätigkeit in

22 Siehe T. C. Starnes:Christoph Martin Wieland, Band 2, 158;sowie Schiller an Körner. 14. November 1788. Schiller:NA25, 132 f.

23 Vonder Möglichkeit einer Berufung Schillers nach Jena ist schon bei seinem ersten Treffen mit Reinhold die Rede. So liest man im Brief Schillers an Körner vom 29. August 1787: «Hätte ich einen Plan nach Jena, so versichert mir Reinhold, daß ich keine Schwierigkeit finden würde. Ich soll, sagte er, ohne ein Wort zu verlieren, noch vor dem Frühjahr einen Ruf dahin bekommen.» (Schiller:NA24, 148)Anfang 1788 spricht Schiller erneut von einem möglichen Ruf nach Jena als Professor für Geschichte, der dann Ende 1788 auch erfolgt. Man darf vermuten, dass neben Goethe und Voigt auch Reinhold diesen Berufungsplan unterstützt hat. Jedenfalls stand Reinhold von vorneherein einer Zusammenarbeit mit Schiller positiv gegenüber. In einem Brief an Schütz von Ende März 1787 schreibt Reinhold in Bezug auf Schiller und dessen Juliusbriefe, «daß die Kantische Philosophie an diesem Kopfe eine gute Aquisition machen würde»(Reinhold:Korrespondenzausgabe 1, 207).

24 Man beachte das Schreiben Goethes vom 9. Dezember 1788 an das Geheime Concilium in Weimar, in:D.Germann:Ich habe dir also von Schiller zu erzählen, 6.

25 Siehe ebd. – Siehe ebenfalls Schillers Antrag vom 28. April 1789 an die Philosophische Fakultät, in:ebd., 8.

20 1. Schillers Weg über Reinhold zur kantischen Philosophie

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