Wolfgang W. Müller
Eine Kulturgeschichte
Wolfgang W. Müller
Musik der Engel
Eine Kulturgeschichte
Schwabe Verlag
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Abbildung Umschlag: Fra Angelico, Verherrlichter Christus im Gericht des Himmels (1423)
Lektorat: Anna Ertel, Göttingen
Korrektorat: Anja Borkam, Langenhagen
Cover: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg i. Br.
Layout: Andreas Färber, mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
Satz: Daniela Weiland, textformart, Göttingen
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5128-4
ISBN eBook 978-3-7965-5129-1
DOI 10.24894/978-3-7965-5129-1
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Meinen Nichten und Neffen gewidmet Julius, Meret, Leon, Bianca und Till
1. Intermezzo
Das um 1597 entstandene Bild «Riposo durante la fuga in Egitto» von Caravaggio (1571–1610) zeigt ein weihnachtliches Motiv: Die Heilige Familie befindet sich auf der Flucht nach Ägypten und wird bei einer Rast unter einem Baum dargestellt (Abb. 1). Maria und das Kind schlafen, der Esel ist an dem Baum festgebunden. Joseph erscheint ein Engel. Caravaggio malt diesen Boten in atemberaubender und androgyner Schönheit. Durch seine Platzierung und seine Leuchtkraft ist der Engel die zentrale Gestalt des Bildes. Joseph blickt ihm mit ernster Miene ins Gesicht und hält ihm ein Notenblatt hin, dessen Melodie der Engel auf seiner Violine zum Klingen bringt. Auch der Esel scheint
der Musik zu lauschen, die Maria und das Kind in den Schlaf gespielt hat. Die Noten zeigen sehr genau einen dreistimmigen Instrumentalsatz – man vermutet, dass es sich um den Anfang der Oberstimme der Motette «Quam pulchra es» des Komponisten Noël Bauldewijn (um 1480 – um 1530) handelt, auf dem Notenblatt stehen einige Zeilen aus dem Hohenlied des Alten Testaments. Die Landschaft im Hintergrund orchestriert das Setting des Bildes, sie ist in zwei Hälften geteilt. Der Engel steht in der Mitte. Auf der Seite Mariens mit dem Kind sieht man eine paradiesische Landschaft als Hintergrund. Auf der anderen Bildhälfte sieht man Joseph mit Gepäck und einem Esel als Lasttier. Diese Anordnung der Landschaft scheint für Caravaggio untypisch, andererseits ist sie symbolisch zu verstehen.1 Die «marianische» Bildhälfte verweist als Abbild auf das Reich Gottes, während die andere Bildhälfte die Realität des irdischen Lebens verdeutlicht. Die Heilige Familie ruht sich auf ihrer Flucht nach Ägypten aus. Der Engel fungiert bei der Anordnung der beiden Landschaftshälften in seiner lichterfüllten Position als Verbindung dieser beiden Hälften: hier die irdische Welt, dort die göttliche Welt. Obwohl auf dem Bild Windstille herrscht, wird der Körper des Engels mit einem flatternden Tuch gezeigt. Es kann eine Anspielung auf den Text der Mottete sein, denn die Braut im Hohenlied bittet: «Nordwind, wach auf, und Südwind, komm! Weh durch meinen Garten, Durchwehe meinen Garten! Seine Balsamdüfte sollen verströmen!» (Hld 4, 16).
Weitere Details fallen auf: Eine der vier Saiten der Violine ist gerissen und hängt herunter. Obwohl ein Lob- und Wiegenlied für Maria und das Kind gespielt wird, ist der Engel Joseph zugewandt. Joseph und der Esel (!) schauen fasziniert auf den Engel. Der Garten, in dem die Szene spielt, wurde von Caravaggio detailgetreu gemalt, die musikalischen Angaben sind hingegen
1 Ebert-Schifferer: Caravaggio. München 2021, S. 30.
Die vorliegende Studie geht der Frage nach, welche Bedeutung und Funktion das Bild der musizierenden Engel sowohl für das religiöse Bewusstsein als auch für das Verständnis von Musik haben kann. Wie sprechen Musik und Religion vom Unaussprechlichen?
Musikalisch versteht sich ein Intermezzo als ein eingeschobenes Zwischenstück. Die Rede über Engel, die Angelologie der drei monotheistischen Religionen ist ein solches Element, das zwischen die grundsätzlichen Themen der Gottes- und Schöpfungslehre, der Soteriologie und der Eschatologie eingeschoben wird und sich als ein verbindendes Zwischenstück im interreligiösen Gespräch erweisen kann. Anhand von ausgewählten Themenkreisen und Musikbeispielen geht das vorliegende Buch der Gestalt der Engel in theologischer, interreligiöser und musikalischer Perspektive nach.
2. Die Rede von den Engeln
Das Interesse der modernen Gesellschaft am religiösen Phänomen der Engel wird, wie bereits erwähnt, in der Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Dabei wird der Aspekt der musizierenden Engel nicht berücksichtigt. Ein Beispiel für diese Unterlassung ist der Lexikonartikel Herbert Vorgrimlers (im Artikel über Engel), der von der metaphorischen Bedeutung der Engel für die Künste im Allgemeinen spricht, die Musik dabei aber unerwähnt lässt.3
Die theologische Rede von den Engeln kennt seit Jahrhunderten widerstreitende Positionen. Das Unbehagen der Theologie gegenüber der klassisch-scholastischen Lehre über die Engel kann theologiegeschichtlich an zwei Punkten festgemacht werden: zum einen an dem theologischen Einspruch der Reformation gegenüber einer metaphysisch argumentierenden Angelologie, zum anderen an der radialen Kritik der Aufklärung an dem Aberglauben der Engel.
Im Gegensatz zu diesen beiden radikalen Widerständen von theologischer und philosophischer Seite erlebte die katholische Reform im Anschluss an die Reformation ab dem 17. Jahrhundert einen großen Aufschwung der Angelologie. In dieser Zeit entstanden die populären Michaels- und Engelsbruderschaften. Das zuerst in Spanien gefeierte Schutzengelfest wurde 1609 von Rom gesamtkirchlich zugelassen und am 2. Oktober 1670 als gebotenes Fest der Kirche etabliert.
3 Vorgrimler, Herbert: Art. «Engel». In: Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe. Hg. von Alf Christophersen und Stefan Jordan. Stuttgart 22007, S. 85: In Literatur, Dichtung und Ikonographie fungieren Engel als Metaphern für das «Hintergründige aller Wirklichkeit». Es fehlt jedoch der Hinweis auf die Musik.
Seit Ende der 1980er- und Beginn der 1990er-Jahre spricht die Religionssoziologie von einer Wiederentdeckung der Engel in unserer Gesellschaft.4 Engel stehen hierbei für eine Zeit der Krise, für einen Zeitenwechsel, und sie manifestieren den Relevanzverlust der etablierten Religionen in den säkularisierten Gesellschaften Europas:
«Wenn die Religion ihre Anziehungskraft verliert, politische Systeme an Stabilität einbüßen und eine apokalyptische Stimmung sich verbreitet: dann ist die Rettung inmitten dieser Gefahren nahe. Ihre Existenz deutet hin auf einen Ort des Verderbens, auf ein Erfahren von Schmerz, auf eine Stunde von Trauer. Doch in dem Moment, in dem der Engel erscheint, beginnt bereits der Prozess der Heilung und Erneuerung. Das ist der Grund, weshalb Engel ein Zeichen von Glück sind.»5
Peter L. Berger postuliert in seiner Schrift «Auf den Spuren der Engel» einen Weg zur Wiedergewinnung der Transzendenz in der (Post-)Moderne.6 Für den US -amerikanischen Soziologen erstrecken sich Themen und deren Reflexion in der modernen protestantischen Theologie exklusiv auf die Diesseitigkeit, der
4 Vgl. zum Folgenden: Wolff, Uwe: The Angels’ Comeback. In: Reiterer, Friedrich Vinzenz u. a. (Hg.): Angels. The Concept of Celestial Beings –Origins, Development and Reception. Berlin 2007, S. 695–714.
5 Ebd., S. 695: «When religious cult loses its attractiveness when political systems lack stability and an apocalyptic mood spreads out – then the saving is near right in the center of these dangers. Their presence indicates a place of doom, an experience of pain, an hour of mourning. But in the moment when the angel appears, the process of recovering and restoring already begins. That is why angels are symbol of chance.» Die im Haupttext angegebenen Übersetzungen ins Deutsche stammen, wenn nicht anders ausgewiesen, vom Verfasser.
6 Berger, Peter L.: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz. Freiburg i. Br. 1991.
Himmel leide dagegen unter einer transzendenten Verödung. Das Übernatürliche lebe allenfalls noch als Gerücht unter uns.
Vor dem Hintergrund dieser Daseinsanalyse formuliert Berger eine Gegenstrategie: Die Suche nach Engeln habe beim Trivialen, Alltäglichen anzusetzen, um aus der Alltagserfahrung die Erfahrung der Transzendenz zurückzugewinnen. Diese Wiedergewinnung könne in einer säkularen Gesellschaft erreicht werden, indem den Spuren der Engel nachgegangen werde.
In unserer säkularen Gesellschaft begegnen uns Engel vor allem in Werbung, Film, populärer Musik und Literatur. Dabei werden theologische wie außertheologische Motive der Rede über Engel modifizierend aufgenommen. In den folgenden Abschnitten sollen kurz einige Beispiele aus diesen Bereichen vorgestellt werden.
2.1 Werbung
In der Werbung werden Engelmotive, die ikonographisch, kulturell und theologisch in Bezug zur Transzendenz stehen, in der Immanenz aufgelöst: Die ursprünglich transzendente Verheißung materialisiert sich in den zu bewerbenden Produkten. Hierbei stehen Glück, Sicherheit, Wohlbefinden und positive Gefühle im Vordergrund. «Test it», suggeriert eine Werbung für Zigaretten, die einen jungen Mann mit nacktem Oberkörper und großen weißen Flügeln zeigt. Eine andere Werbung für ein Deodorant lässt eine junge Frau in lasziver Position mit Heiligenschein und großen gefederten Flügeln auf einem Deospray sitzen. Das Produkt verspricht, selbst Engel in Versuchung zu führen. Die erotische Aufladung ist ein Beispiel für die Verfremdung des Engelmotivs in der Werbung durch Topoi, die dem klassischen Engeldiskurs unbekannt sind. Im Sinne einer Antiwerbung kennt die Werbung auch einen spöttischen Um-
gang mit Engeln. Letztlich geht die Vermarktung der Engel in der Werbung von einer gewissen Beliebigkeit der Thematik aus: «Die Engel werden zu einer leeren Metapher degradiert, deren einzige Funktion die Erweckung eines transzendenten Abglanzes ist, mit dem sich buchstäblich alles verkaufen lässt. Gemeinsam ist diesen Engeln ihre Harmlosigkeit und Irrelevanz.»7
2.2 Film
Für das kinematographische Interesse am Engelmotiv seien hier stellvertretend zwei Filme genannt: Jean-Luc Godard (1930–2022) drehte 1984 seinen aufsehenerregenden Film «Je vous salue, Marie», der die biblische Geschichte der Verkündigung und Geburt Jesu in einen Vorort von Genf verlegt. Zwei Personen, die als Erzengel Michael und seine kleine Begleiterin agieren, reisen mit dem Flugzeug nach Genf und eröffnen Marie, der Tochter eines Tankstellenpächters, dass sie schwanger werden wird. Marie ist mit dem Schulabbrecher Joseph liiert, ohne mit ihm sexuell zu verkehren. Godards Produktion ist kontrovers diskutiert worden: Für die einen stellt der Film eine ungeheuerliche Blasphemie dar, andere sehen die biblische Botschaft und die Suche nach Sinn in die Moderne transponiert.
Wim Wenders’ Film «Der Himmel über Berlin» aus dem Jahr 1987 mit Bruno Ganz als Hauptdarsteller nimmt ebenfalls das Engelmotiv auf. Der Plot des Films ist einfach: Zu den Engeln, die, unsichtbar für die Augen der Erwachsenen, Menschen in der Großstadt Berlin trösten und Anteil an ihrem Leben nehmen, gehört auch Daniel. Er verspürt das Verlangen, die Welt
7 Heidtmann, Dieter: Die Engel. Grenzgestalten Gottes. Über Notwendigkeit und Möglichkeit der christlichen Rede von den Engeln. NeukirchenVluyn 1999, S. 13.