Daniela Kohler
VON DER DEKONSTRUKTION
ZUR REKONSTRUKTION
David Friedrich Strauß’ Ambitionen als Literarhistoriker im Kontext der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert
Daniela Kohler
Vonder Dekonstruktion zur Rekonstruktion
David Friedrich Strauß’ Ambitionenals Literarhistoriker im Kontext der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19.Jahrhundert
Schwabe Verlag
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Abbildung Umschlag:[Politische Karikatur]. [Zürich?]: [Verlag nicht ermittelbar], [ca. 1839].
Zentralbibliothek Zürich, Karikaturen 1839, Strauss I,10 https://doi.org/10.3931/e-rara-41339 /
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ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5141-3
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4.3 Darstellen versus Forschen:Gervinus’ innerer Zusammenhang der Literaturgeschichte
4.5 Goethe und Schiller in der vormärzlichen Biographik
4.6 MittelalterlicheLiteratur und der Beginn der altdeutschen Philologie
4.6.1 «der alten sprache nicht ganz unkundig»:Lachmanns und Grimms Bemühungen um die altdeutsche Philologie
4.7 Universitäre Verankerung der Literaturgeschichte und der Philologie
4.7.1
literaturwissenschaftliche Bestrebungen nach der gescheiterten Revolution
5.1
6.3
7.1 Literaturgeschichte als unschuldiger «Prügelknabe der Nation»: Prutz’ Verteidigung der vormärzlichen Politisierung von Literaturgeschichte
7.2 Die Literaturgeschichten zum 19. Jahrhundertund ihr Verhältnis zur
8.1 Revue-Zeitschriften als Ersatz für literarhistorischeFachzeitschriften
8.2 Der Vormärz im Nachmärz: Das Deutsche Museum
8.2.1 Die programmatische Ausrichtung auf die gesellschaftliche
8.2.2 Literaturgeschichte als Vermittlerin sittlich-humanistischer Bildung
8.2.3 «Vermehrung»oder «Bereicherung»? Die Literatur über Goethe und Schiller 178
8.2.4 Die Forderung nach gegenseitiger Befruchtung der altdeutschen und neudeutschen Philologie
8.3 Abgrenzung und Neupositionierung: Die Grenzboten
8.3.1 Doch kein Nationalheld? Goethes Idealismus und die Folgen
8.3.2 Anforderungen an Literaturgeschichten und literarhistorische Monographien
8.4 Zwischen Wissenschaftlichkeit und Programmatik:Die Preußischen Jahrbücher
8.4.1 Schiller, Froschbeine und die Philologie als Geisteswissenschaft:Literaturgeschichte auf dem Weg zur Verwissenschaftlichung
1835 veröffentlichte David Friedrich Strauß (1808–1874)sein Erstlingswerk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Es löste einen immensen Aufruhr innerhalb der gelehrten Theologie aus, der sich aufgrund des verhandelten Inhalts – Strauß entriss der noch nicht säkularisierten Gesellschaft das Fundament ihrer Religion – und der öffentlich geführten Debatten auch aufs Volk übertrug. Gleichzeitig bewirkte das Werk eine Neuausrichtung innerhalb der hegelschen Philosophie. Als idealistischer Versuch, das Christentum unabhängig vom überprüfbaren Tatsachengehalt der es konstituierenden neutestamentlichen Schriften zu erklären, war es unmittelbar aus ihr hervorgegangen;als unerbittlich durchgeführte dialektische Negation offenbarte es die Mängel in Hegels Religionsphilosophie. Die Kritik, so Strauß, müsse der grundlegende Ausgangspunkt des spekulativen Systems sein. Diese historische Kritik, der sich fortan die Jung- bzw. Linkshegelianer verschrieben, trug in ihrer Ausrichtung auf dokumentierte geschichtliche Realität zur Auflösung des idealistischen Systemdenkens und zu neuen historistischen Ansätzen bei, die die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen sollten. Strauß ist sowohl Begründer der liberalen Theologie als auch Ausgangspunkt der linkshegelianischen Philosophie,womit sein Einfluss auf die zeitgenössischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse sowie seine Bedeutung für die Theologie- und Philosophiegeschichte zugleich umrissen sind. Strauß’ weiterer Werdegang verlief weniger spektakulärund öffentlichkeitswirksam als der Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Zwar blieb er bis zu seinem Tod ein angesehener Intellektueller, dessen Meinung, Mitarbeit und Forschung gefragt waren und dessen Lebenund Werk als Bürgen für höchste wissenschaftliche Anforderungen wie wissenschaftlichen Mut gleichermaßengalten. Seine veröffentlichten Werke aber, zu deren wichtigsten die auch aus heutiger Perspektive in Bezug auf ihre reichhaltigeQuellenauswertung bedeutenden Biographien zu den deutschen Humanisten Ulrich von Hutten (1488–1523)und Nicodemus Frischlin (1547–1590)gehören, fanden nicht die gewünschte Resonanz im Wissenschaftsbetrieb. Strauß wandte sich deshalb in den beiden letzten Jahrzehnten seinesLebens der Volksaufklärung zu. Dabei vertrat er sowohl religiöse Interessen als auch neuhumanistische Bildungsansprüche, wie u. a. die kommentierte Teiledition Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (1862), die MonographiezuLessings Nathan der Weise (1864), das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet (1864)und die
Voltaire-Biographie (1870)zeigen. In seinem letzten Werk Der alte und der neue Glaube (1872)verband er theologische, philosophische, naturwissenschaftliche und literarische Themen zu einer umfassenden Weltanschauung, die einerseits wegen ihrer dezidierten Abkehr vom Christentum, andererseits aufgrund von Oberflächlichkeit und Inkonsistenz für Aufsehen sorgte. Zu den namhaften Kritikern gehörte Friedrich Nietzsche mit seinerersten, äußerst polemischen Unzeitgemässen Betrachtung:David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873).1
Obschon das Leben von David Friedrich Strauß durchaus ‹dramatische› und ‹epische› Züge aufweist, um es in der Terminologie der Biographik des 19. Jahrhunderts und deren Vorliebe, Lebensläufe mit literarischen Gattungen zu etikettieren,2 auszudrücken, und dadurch ausreichend Stoff und Anknüpfungspunkte für eine biographische Nachzeichnung aufweist, misst die vorliegende Studie Strauß in einem anderen Bezugsrahmen Bedeutung bei. Im Mittelpunkt stehen seine Neuausrichtung als Literaturhistoriker und die innerhalb des Feldes der Literaturgeschichtsschreibung eingeschlagenen Wege.
Strauß’ in den 1850er Jahren veröffentlichte Biographien zu Nicodemus Frischlin und Ulrich von Hutten zeugen in ihrem vermittelten Fachwissen in Bezug auf den historischen Kontext und die literarischen Werke von seiner eigenen AusbildungamTübinger Stift (und dem vorangehenden Seminar). Diese stand, durch herzogliche Stipendien gefördert, nur den begabtesten Studenten zur Sicherung des schwäbischen Theologen-Nachwuchses offen und vermittelte ein anspruchsvolles humanistisches Curriculum. Strauß behielt den Anspruch absoluter Wissenschaftlichkeit, den er sich im Studium der hegelschen Philosophie angeeignet hatte, auch nach der idealistischen Läuterung bei und legte ihn seinen Schriften in Form von Objektivität, Gründlichkeit, Belegbarkeit und somit wissenschaftlicher Evidenz zugrunde. Strauß verdeutlicht deshalb in praktischer Hinsicht, was zur Jahrhundertmitte in den spärlichen literaturgeschichtlichen Theoriereflexionen beispielsweiseeines Wilhelm Danzels (1818–1850)gefordert wurde:die Hinwendung zu einer methodisch abgesicherten, tendenz- und ideologiefreien Wissenschaftlichkeit – d. h. Empirie und Historizität – in Bezug auf die Behandlung neuerer deutscher Literatur. Darüber hinaus nimmt sein Werk aber mit der philologisch profunden Quellenauswertung, der an Friedrich Schleiermacher(1768–1834)geschulten Hermeneutik und den empirisch begründeten Zusammenhängen Aspekte auf, die wegweisend sind für das später sich konstituierende Fach Germanistik. Dass sich die von Strauß vertretenen literaturge-
1 Nietzsche, Friedrich:Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück:David Strauss der Bekenner und Schriftsteller (1873), in:Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1967 ff., 3. Abt., 1. Bd., 153–238.
2 Vgl. Kruckis, Hans-Martin:Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, in:Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart [etc.] 1994, 550–575, 566.
schichtlichen Prinzipiennicht bereits zur Jahrhundertmitte durchgesetzt haben und die Konsolidierungder beiden Teilbereiche mediävistische und moderne deutsche Literatur zur Folge hatten, ist auf ein vielschichtiges Zusammen- und Gegeneinanderwirken der unterschiedlichen methodischen, literaturprogrammatischen, ideologischen und politischen Überzeugungen innerhalb des Feldes der Literaturgeschichtsschreibung zurückzuführen. Ausgangspunktfür diese unterschiedlichen Richtungen war die gescheiterte Revolution von 1848/49, die zu einer Grundsatzdiskussionüber die Funktion und die Art und Weise von Literaturgeschichtsschreibung führte, etwa in Bezug auf öffentliche Meinungsbildung, Gesellschaftskritik und politische Instrumentalisierung. Die Ergebnisse dieser Diskussion gaben wichtige Postulate für die zukünftige Disziplinentwicklung vor; ihre Unklarheiten und Widersprüche belegen aberauch die besonderen Herausforderungen, denen sich die Literarhistoriker gegenübergestellt sahen – Herausforderungen, die in Bezug auf Funktion, Methode und Aufgabe auch heute immer wieder angesprochen und zur Diskussion gestellt werden.3
Die vorliegende Studie unterzieht einerseits Strauß’4 bisher in der Forschung kaum beachtete literarhistorische Schriften einer eingehenden Untersuchung und stellt damit der philosophischen und theologischen Forschungsliteratur5 eine
3 Vgl. etwa:Dainat, Holger:Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein, in:Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Materialien 2118), 66–98.
4 Eine Ausnahme bildet Graevenitz’ Aufsatz zur Märklin-Biographie:Graevenitz, Gerhart von:Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Begründung der Biographie im 19. Jahrhundert, in:Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 54. Jahrgang, hg. von Richard Brinkmann und Walter Haug, Halle (Saale)1980, 105–170. Zu erwähnen ist auch der Sammelband David Friedrich Strauß als Schriftsteller, der zwar nicht eigens auf die literarhistorischen Monographien zu Hutten, Frischlin und Voltaire eingeht, aber sonst verdienstvolle Aufsätze zu Strauß’ nichttheologischen Arbeiten liefert:Potthast, Barbara;Drecoll, Volker Henning (Hg.): David Friedrich Strauß als Schriftsteller, Heidelberg 2018 (Beihefte zum Euphorion 100).
5 Vgl. Zager, Werner (Hg.): Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben?David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph, Neukirchen-Vluyn 2008;Zager, Werner:Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004;Strauß, David Friedrich:Das Leben Jesu kritisch bearbeitet. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1835. Mit einer Einleitung von Werner Zager, Darmstadt 2012;Graf, Friedrich Wilhelm:Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982 (Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie 7);Graf, Friedrich Wilhelm:Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung, Gütersloh 1993 (Troeltsch-Studien 7);Graf, Friedrich Wilhelm;Wagner, Falk (Hg.): Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982 (Deutscher Idealismus 6);Sandberger, Jörg Franz:David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer, Göttingen, Tübingen 1972 (Studien zur Theologie und
kulturgeschichtlich ausgerichtete literaturwissenschaftliche Studie zur Seite. Sie geht dabei chronologisch vor und wertet diejenigen Quellen aus, die als wichtige Marksteine in der Entwicklungvon Strauß’ literaturgeschichtlichem Oeuvre wie auch der Literaturhistoriographie des 19. Jahrhunderts gelten.Einen wichtigen Beitrag leistet der Miteinbezug handschriftlicher Quellen, lassen sich doch in der umfangreichen Korrespondenz von Strauß Motivation, Genese und Rezeption seiner Werke nachvollziehen.Hierdurch wird deutlich, was sich im Feld der Literaturgeschichtsschreibung als Habitus des Verkanntseins äußerte und zu Strauß’ spezifischer Position im Feld führte – einer Position, die von seinem Bekanntheitsgrad innerhalb der Theologie profitierte und zugleich das Außenseitertum für Differenzierungsstrategien nutzte.6
Andererseits dienen Strauß’ Schriften als Ausgangspunkt für eine differenzierte Betrachtung des Feldes der Literaturgeschichtsschreibung der 1850er und 1860er Jahre. Neben der Analyse von repräsentativen literaturgeschichtlichen Arbeiten werden dabei vor allem die führenden deutschen Rundschau-Zeitschriften, zu denen die Grenzboten,das Deutsche Museum und die Preußischen Jahrbücher gehören, berücksichtigt. Diese werden systematisch auf ihre literaturgeschichtlichen Beiträgehin ausgewertet.Essoll gezeigt werden, wie vielschichtig die Auseinandersetzungen um die inhaltliche und methodische Beschäftigung mit deutscher Literatur und ihrer Geschichte waren und wie trotz der Uneinheitlichkeit wichtige literaturwissenschaftliche Parameter herausgearbeitet wurden, auf die schließlich Wilhelm Scherer (1841–1886)zurückgriff, um die Disziplin in die altdeutsche Philologie zu integrieren und somit die deutsche Literaturwissenschaft als Fach zu konstituieren. Dadurch wird die vor allem systemtheoretisch und sozialgeschichtlich ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte der Germanistik um eineauf das Medium der Rundschau-Zeitschriften fokussierte Quellenaus-
Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts 5);Melhausen, Joachim:Spekulative Christologie. Ferdinand Christian Baur im Gespräch mit David Friedrich Strauß und Julius Schaller, in:Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler:8 Blaubeurer Symposion, hg. von Ulrich Köpf, Sigmaringen 1994;Lange, Dietz:Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975;Pepperle, Heinz (Hg.): Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, Leipzig 1985 (Reclams Universal-Bibliothek 1104); Pepperle, Ingrid:Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie, Berlin 1978 (Literatur und Gesellschaft).
6 Die vorliegende Studie versteht sich nicht als feldtheoretische Studie im engeren Sinne, d. h. es gibt keine theoretische Rekonstruktion des Feldes der Literaturgeschichtsschreibung. Sie nutzt aber Bourdieus Begriffe des Feldes, der Position und Positionierung sowie des Habitus als Analysekategorien. Vgl. Bourdieu, Pierre:Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1987; Bourdieu, Pierre:Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/M. 1999.
wertung ergänzt, was durchaus neuePerspektiven auf die Wissenschaftshistoriographie zu werfen vermag.7
Die von der Autorin eingenommenesynoptische Perspektive auf den Einzelakteur Strauß und auf die dynamischen Entwicklungen im Feld der (medial von den Rundschau-Zeitschriften bestimmten)Literaturgeschichtsschreibung sowie die dabeiimmer wieder erkennbaren Verschränkungen zeigen auf, wie stark die Biographik im Allgemeinen und diejenige von Strauß im Besonderen an der Ausdifferenzierung und schließlich Etablierung der neueren deutschen Philologie als Hochschulfach beteiligt waren. Die literaturhistorische Biographik, so
7 Vgl. insbesondere die Aufsätze in den Sammelbänden:Fohrmann, Jürgen;Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991;Fohrmann, Jürgen;Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart [etc.] 1994;Voßkamp, Wilhelm;Lämmert, Eberhard (Hg.): Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen 1986;Danneberg, Lutz;Höppner, Wolfgang et al. (Hg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Frankfurt/M. 2005 (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8).Vgl. auch:Weimar, Klaus:Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989;Fohrmann, Jürgen:Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989;Janota, Johannes:Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810–1870, Berlin 1980 (Deutsche Texte 53); Kindt, Tom;Müller, Hans-Harald: Die Einheit der Philologie, in:Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, hg. von Walter Erhart, Stuttgart 2004 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 26), 22–44; Kindt, Tom;Müller, Hans-Harald:Historische Wissenschaften – Geisteswissenschaften, in: Handbuch Fin de Siècle, hg. von Sabine Haupt und Bodo Würffel, Stuttgart 2012, 662–679; Rosenberg, Rainer:Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, Berlin 1981. In Bezug auf einzelne Akteure vgl:Ansel, Michael:G.G.Gervinus’ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Nationenbildung auf literaturgeschichtlicher Grundlage, Frankfurt/M. [u.a.] 1990 (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 10); Ansel, Michael: Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik, Tübingen 2003 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 95); Kindt, Tom;Müller, Hans-Harald:Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, hg. von Gerhart von Graevenitz und David E. Wellbery, Stuttgart, Weimar, 74. Jahrgang, 73. Bd., Heft 4(2000), 685–709;Kindt, Tom;Müller, Hans-Harald:Konstruierte Ahnen. Forschungsprogramme und ihre ‹Vorläufer›.Dargestellt am Beispiel des Verhältnisses der geisteswissenschaftlichen Literaturwissenschaft zu Wilhelm Dilthey, in:Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998, hg. von Jörg Schönert, Stuttgart 2000, 150–173;König, Christoph;Müller, Hans-Harald et al. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin 2000; Kruckis, Hans-Martin:«Ein potenziertes Abbild der Menschheit.» Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995 (Probleme der Dichtung 24).
wird deutlich, hat bereits ab der Jahrhundertmitte die unterschiedlichsten Formate, Methoden und ideologischen Ausrichtungen ausgelotet, sodassdie Rahmenbedingungen gesetzt waren,die schließlich im letzten Viertel des Jahrhunderts zur Konsolidierung der verschiedenenAnsätze und zur Konstitution des Faches Germanistik führten.
Strauß’ literaturgeschichtliche Arbeiten stehen in enger Beziehung zu seinem Leben Jesu und zur linkshegelianischen Philosophie, die sich immer radikaler auch den politischen Bereichen zuwandte. Um die Bedeutung verstehen zu können, die Strauß’ theologische Anfänge für sein späteresSchaffen hatten, aber gleichzeitig auch die literaturgeschichtlichen Entwicklungen nachzuvollziehen, mit denen er sich nach der Abkehr von der Theologie auseinanderzusetzen hatte, widmet sich der erste Teil dieses Buches (Kapitel 2, 3und 4) sowohl Strauß’ theologischerKarriere als auch den parallel dazu verlaufenden literaturgeschichtlichen Entwicklungen.
Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet,dessen Genese und Bedeutung Gegenstand des zweiten Kapitels sind, ist das Resultat einer längeren Auseinandersetzung mit der Frage, was Hegels Religionsphilosophie über die Historizität des evangelisch bezeugten Jesus von Nazareth aussagt. Strauß geht davon aus, dass die absolute Idee des Christentums nicht auf der Faktizität von Jesus beruht. Um dies zu zeigen,unterzieht er dessen im Neuen Testament belegte Lebensgeschichte der dialektischen Kritik. Die ausführliche Analyse der rationalistischen und supranaturalistischen Exegesen belegt, wovon Strauß ausgegangen ist:Keine Auslegung vermag dergestalt zu überzeugen, dass aus ihr die Wahrheit der dargestellten Ereignisse abgeleitet werden kann, sodass es sich dabei seinerMeinung nach um Mythen handelt, bei denen der von der Vorstellung gereinigte Begriff freizulegen ist. Die Idee des absolut Göttlichen,soformuliert es Strauß in seinem als dialektische Synthese verstandenen Fazit, kommt nicht allein Jesus zu, sondern ist auf die gesamte Menschheit zu übertragen. Das hat folgenreiche Konsequenzen:Mit der Mythologisierungder Lebensgeschichte Jesu stellt Strauß die historische Beglaubigungdes Christentumsinfrage und nimmt ihm seine Grundlage.
Vordiesem Hintergrund erstaunteskaum, dass Strauß’ LebenJesu das Ende seiner akademischen Karriere im Fach Theologie bedeutete. Das Werk legte aber einen wichtigen Grundstein für seine literaturhistorischen Arbeiten. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend:Einerseits arbeitete seine Schlussabhandlung, die die gesamte Menschheit dem Gottessohn gleichstellte, der Verehrung des Individuums und somit in gewissem Sinne der Kunstreligion zu. So wie Jesus hatte jede bedeutende Persönlichkeit teil am Absoluten;dem religiösen Genie Jesus wurden weltliche, insbesondere in der Kunst zu suchende Genies wie Johann Wolfgang Goethe (1749–1832)und Friedrich Schiller (1759–1805)zur Seite gestellt. Andererseits leitete die Dekonstruktion der historischen Lebensgeschichte Jesu zur Rekonstruktion über;soexakt und detailliert Strauß die evangelischen
Berichte in Bezug auf ihre Ungereimtheiten auseinandernahm, so detailliert wertete er die historischen Zeugnisse über die von ihm biographierten Persönlichkeiten aus und führte sie zu einem bis ins kleinste Detail historisch recherchierten Gesamtbild zusammen. Die Arbeit am LebenJesu war zwar dem Hegelschen Systemdenkenverpflichtet und dementsprechend metaphysisch ausgerichtet, fußte aber in der eigentlichen Ausführung auf textkritischer Historizität, wie es zeitgleich etwa bereits die altdeutsche Philologie um Karl Lachmann (1793–1851) und die Brüder Jacob(1785–1863)und Wilhelm (1786–1859)Grimm praktizierte. Zudem zeugen sein Leben Jesu wie auch die im Anschluss verfassten, größtenteils apologetischen Schriften von seiner brillanten Rhetorik, die ihm den Ruf eines zweiten Lessings einbrachten und auch in Bezug auf seine literarhistorischen Monographien stets gelobt wurden.8
Strauß’ Hinwendung zu literaturgeschichtlichen Arbeiten vollzog sich aber keinesfallsreibungslos. Er haderte mit einer in seinen Augen fachfremden Beschäftigung. Der diesbezüglich entwickelte Habitus des unschuldig Gescheiterten oder aber für seine Zeit zu früh Gekommenen bestimmte die Auswahl der von ihm biographierten Humanisten Hutten und Frischlin. Dieser Habitus und die literaturgeschichtliche Neuausrichtung, die in Kapitel 3eingehender thematisiert werden, sind umso bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass Strauß innerhalb der linkshegelianischen Philosophie als großer Wegbereiter des Fortschritts gefeiert wurde. Der das Kapitel über Strauß’ Bedeutung abschließende Teil widmet sich deshalb den Hallischen Jahrbüchern als wichtigstem linkshegelianischen Publikationsorgan. Anhand ausgewählter Aufsätze wird gezeigt, dass Strauß’ Werk als Initialzündungfür diejenige gesellschaftliche Befreiung galt, die in den demokratisch regierten Einheitsstaat münden sollte.
Was die Linkshegelianer mit idealistischer Argumentation unter Rückbezug auf Strauß’ Leben Jesu forderten, leiteten die Literarhistoriker aus der deutschen kulturellenVergangenheit ab:Der Aufstieg zur politischen Größe in einem vereinten Nationalstaatkann für ein Volk, das seine literarische Bedeutung bereits unter Beweis gestellt hat, nicht ausbleiben, so die Überzeugung. Das vierteKapitel widmet sich der patriotisch motivierten Literaturgeschichtsschreibung, die in der deutschen kulturellenVergangenheit den Ersatz für die noch nicht schreibbare nationale Geschichte sah und dadurch das deutsche Selbstvertrauenund die Hoffnungen auf den Einheitsstaat nährte. Besondere Bedeutung kommt dabei Georg Gottfried Gervinus’ (1805–1871) Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen zu, deren ersterBand 1835 zeitgleich mit Strauß’ Leben Jesu erschien. Obschon Gervinus’ Literaturgeschichte nicht dergestalt umfassend das wissenschaftliche und öffentliche Leben beeinflusste wie das Leben Jesu,blieb auch sie prägend für die weitere Literaturgeschichtsschreibung. Sowohl in den
8 Vgl. etwa:Dilthey, Wilhelm:Literaturbriefe, in:Gesammelte Schriften, Leipzig, Göttingen, Berlin 1914–2005, XVII.
nachfolgenden literaturgeschichtlichen Werken wie auch in den diesbezüglich geführten öffentlichen Diskussionen war Gervinus ein wichtiger Bezugspunkt.
Die nationalpatriotisch motivierte Beschäftigungmit der deutschen kulturellen Vergangenheit brachte aber nicht nur eine großeZahl an deutschen Literaturgeschichten hervor. Sie weckte auch das Interesse an der mittelalterlichen Literatur und den darin enthaltenen Heldengeschichten aus der deutschen Vorzeit. Da sich die deutsche Literaturgeschichte methodisch immer wieder auf die sich aus dieser Mittelalterbegeisterung konstituierende deutsche Philologie bezieht und schließlich spätestens seit den 1870er Jahren in diese integriert ist, wird auch ihre Entwicklung als universitäres Fach nachgezeichnet. Somit wird ersichtlich, dass die altdeutsche Philologie zwar viel früher als die Neugermanistik zum Hochschulfach wurde, sie aberkeinesfalls eine Vormachtstellung in der Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur hatte, sondern dass die neuere Literaturgeschichtsschreibung als überaus erfolgreiches Parallelunternehmen zeitgleich ihre eigenen Paradigmen entwickelte – die sie allerdings nach 1848 gründlich überdenken musste.
Die gescheiterte Revolution von 1848/49 führte zu einer kritischen Reflexion über vormärzlicheWissenschaftsparadigmen im Allgemeinen und Literaturhistoriographie im Besonderen. Das idealistische Systemdenken mit seiner auf Gesamtzusammenhänge abzielenden Erkenntnistheorie wurde endgültig ad absurdum geführt. Gleichzeitig gingen die Akteure auch mit den teleologisch auf die Weimarer Klassik oder die Gegenwart zulaufenden Literaturgeschichten im Stil von Gervinus kritisch ins Gericht. An beider Stelle trat die empirisch ausgerichtete, induktiv erschließende und sich auf das Einzelobjekt fokussierende wissenschaftliche Forschung. In Bezug auf die Literaturgeschichtsschreibung stand die schlagwortartig als Verbindung von ‹Literatur und Leben› benannte Frage, inwiefern Literatur und ihrer Geschichte eine außerliterarische Funktion zukommen darf (und muss), im Zentrum. Während im Vormärz die enge Verschränkung von Literaturgeschichtsschreibung und politischer Propaganda völlig legitim schien, beklagten die nachmärzlichen Literaturhistoriographen das damit einhergehende Tendenziöse, Unwissenschaftliche. Sie erhoben den Vorwurf, die allzu starke Gewichtungder kulturellenVergangenheit habe das deutsche Volk vom aktiven politischen Handeln abgelenkt. Der Ruf nach einer Neuausrichtung war omnipräsent und schlug sich in den unterschiedlichsten Konzeptennieder.
Der zweite ausführlicheTeil dieses Buches (Kapitel 5–9) diskutiert diese verschiedenen Richtungen innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung ab der Jahrhundertmitte, an denen auch Strauß mit seinen Arbeiten partizipierte. Es geht um die methodologischen Fragen von Empirie und wissenschaftlicher Objektivität, um die Entpolitisierungund den gesellschaftlichen Bildungsauftrag, um die Grundsätzeund Probleme der Historisierung von Gegenwartsliteratur, um die Verschmelzung von Literaturkritik und Literaturgeschichte;eswird also eine Reihe von grundsätzlichen Debatten geführt,die von unterschiedlichen Ak-
teuren und Netzwerken in verschiedenen Medien und mit unterschiedlicher Zielsetzung ausgetragen wurden.
Die Kapitel 5und 6wenden sich Literaturhistorikern zu, die sich der in ihren Augen wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung verpflichteten, während sich Kapitel 7bis 9mit denjenigen Akteuren auseinandersetzen, die die Literaturgeschichte im populärwissenschaftlichen Sinn als Mittel zur Volksbildung verstanden und dergestalt neueMethoden und Argumente entwickelten, um Literaturgeschichte weiterhin zur öffentlichen Meinungsbildung heranziehen zu können.
Prägende Akzente für eineLiteraturgeschichtsschreibung, die keinerlei Absicht gesellschaftlicher Wirksamkeit hatte, setzte Wilhelm Danzel. Sein Aufsatz Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur (1849), der zu einer der seltenen zeitgenössischen theoretischen Analysen von Literaturhistoriographie gehört, plädiert für eine empirische Literaturgeschichtsschreibung, die ohne «tendenziöse[s] Wesen […], welches mit den historischen Tatsachen nicht viel weniger willkürlich umgeht als der Prediger auf der Kanzel mit den Textesworten»,9 objektive Wissenschaftlichkeitanstrebt.Grundlegend dazu ist für Danzel ein methodisch einheitliches Konzept, das analog der Philologie die strenge quellenkritische Auswertung fordert und sich dezidiert einer historistischen Arbeitsweise verpflichtet.10 Kunstwerke seien aus der Zeit heraus,inder sie entstanden sind, zu erklären, ohne sie an der Gegenwart entnommenen Maßstäben zu bemessen. In diesem Sinne distanziert sich Danzel auch von literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellungen, die dieses Postulat aufgrund der Fülle des Materials nicht einzulösen vermögen. Er fordert fundierte Einzelstudien, die sich biographisch dem Leben und Werk eines Autors annehmen.
Nicht nur seine eigenen Biographien zu Johann Christoph Gottsched (1700–1766)11 und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781),12 sondern auch diejenigen von Strauß zu Hutten und Frischlin lösen diese Forderung ein, wie im sechsten Kapitel gezeigt wird. Strauß beschäftigt sich intensiv mit dem im Feld der Literaturgeschichtsschreibung als zweitrangig abqualifizierten Frischlin, da er in dessen Verkanntsein und Märtyrertum Parallelen zu seinemeigenen Leben zu
9 Danzel, Theodor Wilhelm:Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur (1849), in:Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft, hg. von Hans Mayer, Stuttgart 1962 (Sammlung Metzler), 286–294, 290. 10 Hohendahl sieht ihn Danzels Ansatz Zeugnisse des sich vorbereitenden Positivismus, vgl. Hohendahl, Peter Uwe:Literaturkritik und Literaturgeschichte, in:Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. VomNachmärz zur Gründerzeit. Realismus 1848–1880, hg. von Horst Albert Glaser, Hamburg 1982 (Deutsche Literatur 7),54.
11 Danzel, Theodor Wilhelm:Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel, Leipzig 1848.
12 Danzel, Theodor Wilhelm:Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke, 3 Bde., Leipzig 1850–54.
erkennen glaubt. Möglichgemacht durch die im 19. Jahrhundert erfolgteÖffnung von Archiven, wertet Strauß akribisch jede über Frischlin aufbewahrte Quelle aus und rekonstruiert auf dieser Basis ein Lebensbild, das auf Faktizität und Historizitätberuht. Gleichzeitig geht es Strauß aber auch darum, sich in seinen biographierten Helden einzufühlen, dessen Handeln im Kontext der Lebensumstände und der Zeit verständlich zu machen. Dergestalt führt er gekonnt Wissenschaftlichkeit und ‹verstehende Interpretation› zusammen. Bemerkenswert ist, dass Strauß trotz der entschiedenen Hinwendung zur historischen Realität nicht ganz ohne leicht idealistisch geprägte Argumentation auskommt. So greift er immer wieder auf übergeordnetehistorische Kräfte zurück, um gewisse Umstände im Leben von Frischlin zu erklären. Dieses merkwürdige Nebeneinander von Empirie und Idealismus ist ein Charakteristikum der Literaturgeschichtsschreibungder zweiten Jahrhunderthälfte, das sich sogar in der als streng kausal angelegten Literaturgeschichtsschreibung von Wilhelm Scherer noch zeigen wird (vgl. Kapitel 9).
Das Postulat der rein objektiven Wissenschaftlichkeit überging die Frage nach einer gesellschaftlichen Funktion von Literaturgeschichtsschreibung, die auch nach der Verabschiedung von der engen VerbindungzwischenLiteratur und Lebenrege diskutiert wurde. In den nach 1850 verfassten Literaturgeschichten, so zeigt das siebte Kapitel, werden verschiedene Ansätze diskutiert,die sich zwar von einer Politisierung der Literaturhistoriographie distanzieren, ihr aber dennoch einewichtige gesellschaftlicheFunktion beimessen. Gemäß dem ehemaligen Linkshegelianer Robert Prutz (1816–1872)etwa darf Literaturgeschichte nicht herangezogenwerden, um aus ihr Maximen für gesellschaftlich-politisches Handeln zu entwickeln. Es besteht aber dennoch eineVerbindung zwischen den beiden Bereichen:Die Politik habe sich wie der literaturgeschichtliche Höhepunkt der Weimarer Klassik an der Antike zu orientieren, was einefunktionierende Polis anbelangt, sodassder literaturgeschichtlich vermittelte Humanismus auch die gesellschaftlichen Aktivitäten bereichern kann und muss. Prutz’ vormärzlicher Radikalismus in Bezug auf politische Instrumentalisierung weicht einer gemäßigten, über die humanistische Bildungstradition verlaufendenBeeinflussung der Öffentlichkeit, die seiner Meinung und seinem Postulat gemäß einer Trennung der beidenBereiche Politik und Literatur gleichkommt.
Eine direktauf die Gegenwart einwirkendeBetrachtung deutscher Literatur und ihrer Geschichte fordert Julian Schmidt (1818–1886). Er entwickelt seine literarhistorischen Ansätze vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Spielarten des deutschen literarischen Idealismus, den er für die politische Impotenz der Deutschen verantwortlich macht. Der auf die Wirklichkeit ausgerichtete, auf jede idealisierende Form verzichtende Maßstab, den er an Literaturgeschichte anlegt, ist Propaganda für den programmatischen Realismus,den Schmidt zusammenmit Gustav Freytag (1816–1895)abder Jahrhundertmitte wirkungsvoll vertritt.