CARSTEN DUTT, GERALD HARTUNG UND MELANIE SEHGAL (HG.)
Herausforderungen der Philosophiegeschichtsschreibung
Herausforderungen der Philosophiegeschichtsschreibung
Neue Perspektiven der Philosophiegeschichtsschreibung
Herausgegeben von Gerald Hartung und Melanie Sehgal
Band 1
Carsten Dutt, Gerald Hartung, Melanie Sehgal (Hg.)
Theorien – Methoden – Beispiele
Schwabe Verlag
Publiziert mit Unterstützung der Bergischen Universität Wuppertal.
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Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert &Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5142-0
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5143-7
DOI 10.24894/978-3-7965-5143-7
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Carsten Dutt, Gerald Hartung, Melanie Sehgal: Einleitung
1. Ideen-, Geistes-, Problem- und Begriffsgeschichte
Peter König: Die Zerlegung der Philosophiegeschichte: Lovejoys History of Ideas
Dieter Teichert: Philosophiegeschichte als Geistesgeschichte?.
Tim-Florian Steinbach: Kritik der Kritischen Ideengeschichte ..
Ieva Höhne: Kontext mehr als Kontextualismus?
Zu den unterschiedlichen Auffassungen des Kontextes über die Cambridge School hinaus
35
57
77
Carsten Dutt: Begriffsgeschichte als Instrument der Philosophiegeschichtsschreibung 99
Nadja Germann: Für eine kritische, transkulturell geweitete Begriffsgeschichte. Ein philosophischer Essay
2. Historische Metaphorologie, Diskursanalyse, feministische Kritikund Globalgeschichtsforschung
Rüdiger Zill: Einblicke in die Substruktur des Denkens? Philosophiegeschichte und Metaphorologie
Petra Gehring: Merkmale und Grenzen der Diskursanalyse als philosophiehistorisches Verfahren
Jörn Bohr: Heuristische Grenzen:Der ‹Einfluss› der Philosophiegeschichte ..
Hannah Wallenfels: Im Kanon Nichts Neues?Feministische Überlegungen zur Philosophiegeschichtsschreibung
Anke Graneß: Praktiken und Ausdrucksformen des Philosophierens –Herausforderungen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Rolf Elberfeld: Nationalisierung und Globalisierung der Philosophiegeschichte
3. Institutionengeschichte, Konstellationsforschung, Wissenschafts- und Wissensgeschichte
Gerald Hartung: Philosophie als institutionalisierte Praxisform. Überlegungen zu einem historiographischen Forschungsfeld 247
Norman Sieroka: Konstellationsforschung in den exakten Wissenschaften.
Ein Beispiel für eine gemeinsame Geschichtsschreibung von Philosophie und Einzelwissenschaft.
Niklas Sommer: Der Beitrag der Konstellationsforschung zur Philosophiegeschichtsschreibung
Paul Ziche: Enrichmentand Abstraction – Prospects for aMaterial Turn in the History of Philosophy ..
Melanie Sehgal: Eine symmetrische Geschichte philosophischer Praktiken. SchnittstellenzwischenPhilosophie- und Wissenschaftsgeschichte ..
Suzanne Marchand: Wissensgeschichte:Suggestions for Use ...
Carsten Dutt, Gerald Hartung, Melanie Sehgal
Wer gegenwärtig über Theorien, Methoden und Probleme der Philosophiegeschichtsschreibung nachdenkt, steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Wie viele andere gesellschaftlicheBereiche und Disziplinen steht auch die Philosophiegeschichte unter dem Druck, ihre thematischen Verengungen und Ausgrenzungen, die im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts festgeschrieben wurden, kritisch zu überdenken und geschichtsschreibungspraktisch zu revidieren. Vorallem aus feministischer und dekolonialer Sicht wurden und werden philosophiegeschichtliche Erzählungen problematisiert, die die Philosophie als weiß, männlich und europäisch imaginieren, Erzählungen, die nach wie vor in das Selbstverständnis des Faches hineinwirken. Macht man sich also auf die Suche nach theoretischem Rüstzeug und methodischen Instrumenten für die philosophiehistorische Praxis, sieht man sich nicht nur auf eine lange Vorgeschichte, sondern auch auf aktuelle Debatten verwiesen, die es einerseits zu berücksichtigen, andererseits zu reflektieren und angesichts gegenwärtiger Fragestellungen zu erweitern gilt.
Philosophiehistorisch arbeitende Philosophinnen und Philosophen sind überdies mit einer kaum mehr zu überschauenden Vielzahl von theoretischen und methodischen Zugängen konfrontiert, die einer rationalen Rekonstruktion und kritisch-vergleichenden Vermittlung harren. Hierzu gehören alteingeführte Angebote wie die der Ideen-, Problem-, Begriffs- und Geistesgeschichte ebenso wie neuere und neuesteStrömungen, die sich der historischen Selbstdurchdringung der Philosophie unter Bezeichnungen wie Diskursanalyse, historische Praxeologie, Wissensgeschichte, feministische Kanonkritik,post-, dekoloniale und interkulturelle Philosophie oder Globalgeschichtsforschung empfehlen. Darüber hinaus geht es um die bislang kaum irgendwo in Angriff genommenen, geschweige denn zureichend diskutierten Fragen, ob und wie weit sich Forschungen zur Philosophiegeschichte den Perspektiven der Wissenschafts-, Kultur- und Sozialgeschichtsschreibung öffnen sollten und mit welchen Erkenntnisaussichten und Untersuchungsverfahren entsprechende Projekte am Leitfaden einer Geschichte der Institutionen, Praxisformen, Diskurstypen oder kulturellen Transferbewegungen durchzuführen wären.
Zu diesen komplexen Herausforderungen einer gegenwärtigen Philosophiegeschichtsschreibung gesellt sich ein weitverbreitetes und der philosophiehistorischen Reflexion nicht gerade förderliches Vorurteil der letzten Jahrzehnte, demzufolge die Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte ein bloß antiquarisches,
bestenfalls ein philologisch-historisches Verhältnis habe. Für einige, v. a. analytisch orientierte, Vertreter des Faches gehört gar das Interesse an Genesen, Kontinuitäten und Brüchen innerhalb der Geschichte der Philosophie nicht zum Kern der Fachwissenschaft Philosophie, sondern in den Bereich der Sachbuchliteratur oder des Feuilletons. Diese Ansicht ist zum einen historisch fahrlässig, zum anderen in philosophischer Hinsicht falsch.1 Denn spätestens seit Aristoteles gehört das systematische Interesse an der Entstehung und dem historischen Wandel philosophischer Lehrmeinungen und Argumente zum Kern philosophischen Nachdenkens. Eine ebenso große Relevanz kommt der philosophischen Reflexion auf die geschichtliche Variabilität der philosophischen Gegenstände selbst (Theorien, Ideen, Probleme, Begriffe etc.)2 und den Veränderungen in den Untersuchungs- und Lehrformen des Philosophierens zu (man denke an Schulzusammenhänge, akademischeoder außerakademische Institutionen, publizistische und editorische Praktiken, analoge und digitale Informationswelten etc.).3
Auch wo man nicht bei antihistorischen Vorurteilenstehenbleibtund sich Argumenten für den philosophischen Nutzen, ja für die philosophische Unverzichtbarkeit der Beschäftigung mit Philosophiegeschichte öffnet, wie dies im Bereich der angelsächsischen analytischen Philosophie zuletzt prominent Anthony Kenny4,imdeutschen Sprachraum auf seine Weise Pirmin Stekeler-Weithofer5 und die Autoren und Autorinnen eines Sammelbandes zu einer Genfer Tagung6 getan haben, bleiben die entsprechenden Plädoyers und Wegweisungen ohne produktiven Kontakt mit dem reichen Spektrum jener Ansätze zur Theorie und Methodologie der Philosophiegeschichtsschreibung, die in kritischem Abstand sowohl zu den Großerzählungen Hegels und des Hegelianismus7 als auch zu den kleinteiliger angelegten Narrativen des Historismus und Positivismus entstanden sind.8
Entsprechend unbefriedigend ist die Publikationslage:Bis heute gibt es keine kundig zusammengestellte, geschweige denn kompetent kommentierte Anthologie, die den innerphilosophischen Diskurs zur theoretischen und methodischen Neuausrichtung der Philosophiegeschichtsschreibung übersichtlich machen würde. Ebenso wenig stehen solide gearbeitete Monographien oder Sammelwerkezur Verfügung, in denen die philosophiehistorischen Forschungsprogramme der letzten einhundert Jahre in den Formen ihrer theoretisch-me-
1 Beelmann 2001;Flasch 2005.
2 Gadamer 1970;Schröder 2000;Scholtz 2000;Dutt 2011.
3 Martus/Spoerhase 2022.
4 Kenny 2005 und 2010.
5 Stekeler-Weithofer 2006.
6 Cesalli et al. 2017.
7 Ricœur 1974;Habermas 2019.
8 Hartung 2023b.
thodologischen Grundlegung und geschichtsschreibungspraktischen Umsetzung gesichtet und im weiteren Kontext der für das 20. Jahrhundert zu verzeichnenden Innovationen auf dem Feld der allgemeinen Intellektual- und Kulturgeschichtsschreibung9 sowie der interkulturellen Philosophie verortet würden.10 Analoges gilt für die gegenstandstheoretischen und erkenntnispragmatischen Prämissen der Ideen-, Problem-, Metaphern- und Geistesgeschichte, der historischen Praxeologie und Diskursanalyse, der Institutionen-, Wissens- und Globalgeschichte. Ohnehin nur zum Teil innerhalb der Philosophie selbst generiert, wurden und werden diese Ansätze auch in anderen Disziplinen rezipiert, genutzt und fortgebildet.11 Inzwischen werden sie jedoch verstärkt und mit charakteristischen Akzentsetzungen für die Philosophiegeschichtsschreibung in Anspruch genommen.
Die Auswirkungen eines Desinteresses an den Überlieferungsbewegungen der Philosophie,die sich beispielsweiseineinem Forschungs- und Lehrkanon (explizit oder implizit)zeigen, sind eklatant. Denn die Frage, warum wir uns mit diesen oder jenen Texten, Lehrmeinungen, Thesen, Argumenten, Problemstellungen, Begriffsbildungen, Systemversuchen, Kontroversen usw. beschäftigen –und mit anderennicht –,gehört unbedingt ins Zentrum der fachlichen und fachpolitischen Aufmerksamkeit und sie wird auch von einer sich diversifizierenden Studierendenschaft vehement eingefordert. Die Gefahr, einen Kanon unhinterfragt zu tradieren oder auch nach und nach erodieren zu lassen und damit weder adäquat Auskunft über die Belange und die Relevanz des eigenen Tuns geben zu können noch gegenwärtige Problemlagen und Fragen philosophisch aufgreifen zu können, ist in gegenwärtigen Diskussionen deutlich spürbar.12 Dies betrifft das fachpolitische Selbstverständnis, etwa im Hinblick auf die Wahl spezifischer Forschungs- und Editionsprojekte, ebenso wie die Erörterung und Ausgestaltungder fachlichen Curricula in Lehrplänen an Schulen und Modulordnungen an Universitäten.
Rund einhundert Jahre nach dem Ende der Epoche klassischer Philosophiegeschichtsschreibung, die von Tennemann über Hegel und Ritter bis zu Zeller, Fischer, Dilthey und Windelband reichte,13 über fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Quentin Skinners Aufsehen erregendem und nachhaltig einflussreichem Essay Meaning and Understandinginthe History of Ideas14 und mehr als drei Jahrzehnte nach Abschluss der kaum weniger wirkungsmächtigenPublikationen
9 Mulsow 2022.
10 Kimmerle 2009.
11 Für die Problemgeschichte:Werle 2006;für die Begriffsgeschichte:Dutt 2010, 2020 und 2023;für die historische Praxeologie Haasis/Rieske 2015.
12 Bohr/Hartung/Nutt-Kofoth 2021;Hartung 2023a.
13 Sass 1972;Wood/Hahn 2012;Hartung/Pluder 2015.
14 Skinner 1969;Bevir 1999.
des von Reinhart Koselleck, Jürgen Kocka, ThomasNipperdey, Rudolf Vierhaus und anderen getragenen Arbeitskreises Theorie der Geschichte (1977–1990)15 , nach vier Jahrzehnten feministischer Kanonkritik16 und angesichts einer umfassenden Problematisierung europäischerPhilosophiegeschichtsschreibung aus post- und dekolonialer Perspektive17 scheint es also geboten, einerseits liegen gebliebene Argumentationsfäden wieder aufzunehmen und ggf. zusammenzuführen und andererseits neuere Entwicklungen in der allgemeinen Theorie und Methodologie der Geschichtsschreibung mitsamt ihren Implikationenfür die Historiographie der Philosophie zu verfolgen.18 Dabei ist angesichts der beschriebenenEntwicklungen klar:Über Methoden und Ziele der Philosophiegeschichtsschreibung können Philosophinnen und Philosophen heute nicht mehr nur unter sich sprechen. Produktiv wird nur ein Dialog mit historisch und metahistorisch arbeitenden Geistes- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern anderer Disziplinen. Dies war der Leitgedanke und das erklärte Ziel der Konferenz, die unter dem Titel Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung vom 19. bis 21. Oktober 2021 an der Bergischen Universität Wuppertal stattgefunden hat und deren Beiträge im vorliegenden Band versammelt sind: Forscherinnen und Forscher sollten und wurden über die engen Grenzen ihrer je eigenen Zuständigkeit hinaus in ein Gespräch gebracht. Auf diese Weise sind wir in die Diskussion über die unterschiedlichen theoretisch-methodologischen Angebote für ein historisch reflektiertes Verständnis der Tätigkeit des Philosophierens und der DenkformPhilosophie eingetreten.Dabei haben wir naheliegend erscheinende Bündelungen vorgenommen. Auf die Behandlung der Ideen-, Geistes, Problem- und Begriffsgeschichte (1) folgte ein Panel zur Institutionengeschichte, Wissenschafts- und Wissensgeschichte (2)sowie ein weiteres zur Historischen Metaphorologie, Diskursanalyse, historischen Praxeologie und Globalgeschichtsschreibung. Die thematische Zusammenlegung der verschiedenenmethodischen Ansätze gab eine gewisse Ordnung vor, war zugleich aber auch Grund und Gegenstand kritischerRückfragen. So haben wir praktisch die oben beschriebenen Gefahren einer Unübersichtlichkeit methodischer Zugänge zur Historiographie der Philosophie vorgeführt bekommen und gleichzeitig erfahren, wie fruchtbar der disziplinübergreifende Gedankenaustauschsein kann. Unser Fazit:InFrage steht nicht weniger als die sachliche Konsistenz des Kollektivsingulars Geschichte der Philosophie und mit ihr das komplexe Verhältnis der Philosophiegeschichte zu benachbarten Forschungsfeldern, beispielsweiseder Kultur- und der Wissensgeschichte, der Sozial- und der Wissenschaftsgeschichte.
15 Koselleck et al. 1977–1990.
16 Wallenfels in diesem Band.
17 Für einen Überblick siehe Elberfeld 2021.
18 Rorty 1984;Elberfeld 2017.
Auf dieser Grundlage haben wir die Referentinnenund Referenten der Konferenz gebeten, ihre Vortragstexte im Lichtder gemeinsamen Diskussionen zu überarbeiten und als Beiträgezur Methodenreflexion der Philosophiegeschichtsschreibung zu pointieren. Die Ergebnisse dieser Bemühungen legenwir in diesem Band vor und eröffnen damit eine neueBuchreihe: Theorien – Methoden – Praxisformen. Neue Perspektiven der Philosophiegeschichtsschreibung (hg. von G. Hartung und M. Sehgal).
Wir danken Christian Barth vom Schwabe Verlag für die Bereitschaft, die neue Reihe in das Verlagsprogramm aufzunehmen, und die wunderbar kooperative Zusammenarbeit. Wir danken der Bergischen Universität Wuppertal für die großartige Unterstützung in den zurückliegenden Jahren, die nicht zuletzt die Gründungeines Instituts für Grundlagenforschung zur Philosophiegeschichte (IGP)möglichgemacht hat. Unserem Team am Philosophischen Seminar und am IGP, namentlich dem Sekretariat (Ines Bräuniger)und unseren studentischen Hilfskräften – Kevin Ress für die tatkräftige Unterstützung während der Konferenz, Niko Krause für die sorgfältige redaktionelleArbeit an den vorliegenden Texten –,sind wir für die zuverlässige UnterstützungzuDank verpflichtet. Ebenso der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Finanzierungszuschusses, der uns die Organisation der Konferenz entscheidend erleichtert hat.
Beelmann, Axel:Theoretische Philosophiegeschichte. Grundsätzliche Probleme einer philosophischen Geschichte der Philosophie, Basel 2001.
Bevir, Mark:The Logic of the History of Ideas, Cambridge 1999.
Bohr, Jörn/Hartung, Gerald/Nutt-Kofoth, Rüdiger (Hgg.): Kanonbildung und Editionspraxis (Sonderheft Editio), Berlin 2021.
Braun, Lucien:Geschichte der Philosophiegeschichte, Darmstadt 1990. Cesalli, Laurent/Emamzadah, Parwana/Taieb, Hamid/Hügli, Anton/Friedrich, Janette (Hgg.): Die Philosophie und ihre Geschichte – eine aktuelle Debatte (Studia Philosophica 76), Basel 2017.
Dutt, Carsten:«Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft», in:Strosetzki, Christoph (Hg.): Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, 97–111
Dutt, Carsten:«Historische Semantik als Begriffsgeschichte. Theoretische Grundlagen und paradigmatische Anwendungsfelder», in:Riecke, Jörg (Hg.): Historische Semantik. Jahrbuch der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte 2. Berlin/Boston 2011, 37–51.
Dutt, Carsten:«Kosellecks Wende zur Pragmatik», in:Archiv für Begriffsgeschichte 62, 2020, 209–235.
Dutt, Carsten:«Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte:Die hermeneutischen Potenziale der Begriffshistorie», in:Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 97, 2023, 53–63.
Elberfeld, Rolf (Hg.): Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive (Deutsches Jahrbuch Philosophie 9).Hamburg 2017.
Elberfeld, Rolf:Dekoloniales Philosophieren:Versuch über philosophische Verantwortung und Kritik im Horizont der europäischen Expansion, Hildesheim 2021. Flasch, Kurt:Philosophie hat Geschichte. 2Bde. (Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Bd. 2: Theorie der Philosophiehistorie.) Frankfurt a. M. 2005.
Gadamer, Hans-Georg:«Begriffsgeschichte als Philosophie», in:Archiv für Begriffsgeschichte 14, 1970, 137–151.
Geldsetzer, Lutz:Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung, Meisenheim am Glan 1968.
Haasis, Lucas/Rieske, Constantin (Hgg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015.
Habermas, Jürgen:Auch eine Geschichte der Philosophie. 2Bde., Frankfurt a. M. 2019.
Hartung, Gerald/Pluder, Valentin (Hgg.): From Hegel to Windelband. Historiography of Philosophy in the 19th Century. Berlin und Boston 2015.
Hartung, Gerald:«Le Savoir de la Philosophie. L’historisation de la philosophie au xixe siècle et la naissance des science humaines», in:Revue de Théologie et de Philosophie 153 (III), 2021, 337–358.
Hartung, Gerald:«Selbstkritische Philosophiegeschichtsschreibung als Arbeit am Kanon», in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 71 (2), 2023a, 205–225 verfügbar unter:https://doi org/10.1515/dzph-2023-0020 [14. 12. 2023].
Hartung, Gerald:«§1.System und Geschichte der Philosophie», in:Hartung, Gerald (Hg.): Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Bd. 1/2. Deutschsprachiger Raum 1831–1871 (Grundriss der Geschichte der Philosophie), Basel 2023b, 1–58.
Kenny, Anthony:«The Philosopher’sHistory and the History of Philosophy», in:Sorell, Tom/ Rogers, G. A. J. (Hgg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, 13–24.
Kenny, Anthony:A New History of Western Philosophy. In Four Parts, Oxford 2010.
Kimmerle, Heinz:Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2009.
Koselleck, Reinhart/Mommsen, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Faber, Karl-Georg/Meier, Christian/Kocka, Jürgen/Nipperdey, Thomas/Acham, Karl/Schulze, Winfried (Hg.): Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. 5Bde., München 1977–1990.
Martus, Steffen/Spoerhase, Carlos:Geistesarbeit – eine Praxeologie der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 2022.
Mulsow, Martin:Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte, Berlin 2022. Ricœur, Paul:Geschichte und Wahrheit, München 1974.
Rorty, Richard:«The historiography of philosophy:four genres», in:Rorty, Richard/Schneewind, Jerome B./Skinner, Quentin (Hgg.): Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, 49–76.
Sass, Hans Martin:«Philosophische Positionen in der Philosophiegeschichtsschreibung. Ein Forschungsbericht», in:Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46, 1972, 539–567.
Scholtz, Gunter:«Begriffsgeschichte als historische Philosophie und philosophische Historie», in:Gunter, Scholtz (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, 83–200.
Schröder, Winfried:«Was heißt Geschichte eines philosophischen Begriffs?», in:Gunter Scholtz (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, 159–171. Skinner, Quentin:«Meaning and Understanding in the History of Ideas», in:History and Theory 8, 1969, 3–53.
Stekeler-Weithofer, Pirmin:Philosophiegeschichte, Berlin/Boston 2006.
Werle,Dirk :«Modelle einer literaturwissenschaftlichenProblemgeschichte », in:Jahrbuch derDeutschen Schillergesellschaft 50,2006,478– 498.
Wood, Allen William/Hahn, Songsuk Susan (Hgg.): The Cambridge History of Philosophy in the Nineteenth Century. 1790–1870, Cambridge/UK 2012.
Peter König
With his conception of ahistory of ideas, the American philosopher Arthur O. Lovejoy (1873–1962)had an influential impact on shaping the discipline. Based on programmatic texts in which Lovejoy reflects on his approach to the history of ideas, this article firstly provides an overview of its most important specific aspects, characteristics, and elements. Secondly, it shows how theHistory of Ideas fits into the wider context of Lovejoyʼsendeavours to enhance the scientification of philosophical cognition and discourse practice, and how it can be linked to his project of aSumma Metaphysica. Finally, it discusses theconnection between LovejoyʼsHistory of Ideas and his defense of the philosophical position of critical realism.
Die amerikanische Version der Ideengeschichte,die History of Ideas,ist untrennbar mit dem Namen Arthur O. Lovejoys (1873–1962)verbunden. Es ist Lovejoy, der die Disziplin in den 1920er Jahren an der John Hopkins University mit der Gründungdes History of Ideas Club aus der Taufe hebt, sie durch programmatische Schriften und exemplarische Studien zur Geschichte einzelner Ideen (primitivism, romanticism, the great chain of being etc.) von Anfang an prägt und mit der (auf eine Initiative von Jerome Rosenthal und Paul Wiener zurückgehenden)Gründungdes Journalofthe History of Ideas (1939)eine wichtige institutionelle Voraussetzung für ihre dauerhafte Entfaltung schafft.1 Unter seiner Leitung entwickelt sich die Zeitschrift bald zu einem der lebendigsten Publikationsorgane der humanities im angloamerikanischen Raum.Seinem Selbstverständnis,seiner Leidenschaft und auch seiner akademischen Stellung nach ist Lovejoy Philosoph. Meisterhaft in der Fähigkeit der Begriffsbestimmung und Bedeutungsunterscheidung bemüht er sich um rationale, sachargumentative Lösungen von Problemen der Epistemologie, der Wahrheitstheorie, der Theorie des Geistes und anderer philosophischerDisziplinen, wobei er sich zum Stand-
1 Vgl. zur Geschichte dieses Debattierclubs, insb. im Hinblick auf Lovejoys Rolle darin: Stimson 1953, 174–196.
punkt des criticalrealism bzw. des temporalistic realism bekennt.2 Während Lovejoys Beiträge zu den philosophischen Debatten seinerZeit in der Gegenwart kaum noch Beachtung finden, verhält es sich mit der von ihm angeregten History of Ideas anders.Diese wählt einen radikal anderen Zugang zur Geschichte des menschlichen Denkens als die philosophie-, disziplin-, geistes- oder problemgeschichtlichen Modelleseiner Zeit. Lovejoy hat diesen Zugang in der Einleitung zu seiner erstmals 1936 als Buch publizierten großen Studie zur Geschichte der Idee der großen Kette der Wesen und in verschiedenen programmatischenAufsätzen auf folgende Weise charakterisiert3 : Erstens ist die History of Ideas keine Geschichtsschreibung des philosophischen Denkens oder philosophischerIdeen, auch wenn sie in enger Beziehung zur Philosophiegeschichte steht. Im Vergleich mit der Geschichte der Philosophie ist ihr thematischer Umfang zugleich enger und weiter gesteckt. Er ist enger, weil sich die History of Ideas nicht für die philosophischen Systeme einzelner Denker oder für philosophische Strömungen wie den Idealismus, den Realismus usw. interessiert, sondern für einzelne Bestandteile, die in die Systeme eingehen oder in den Strömungen eine Rolle spielen. Diese Bestandteile nennt Lovejoy unit ideas (Elementarideen oder Elementargedanken). Der Ideenhistoriker beschäftigt sich mit der Geschichte dieser elementaren Bestandteile und hat verglichen mit den Historikern der Philosophie insofern einen engeren Gegenstandsbereich. Die großen philosophischen Systeme, Gedankenbewegungen und Richtungen bilden für ihn lediglichden Stoff, aus dem er seinen Untersuchungsgegenstand herauslösen muss, ein Verfahren, dessen Ähnlichkeit mit der chemischen Analyse von Stoffen Lovejoy selbst hervorhebt.4 Zu Lovejoys Grundannahmen gehört,«that most philosophic systems are originalordistinctive rather in their patternsthan in their components».5 Weil in der Geschichte des Denkens die unit ideas seltener neu erfunden als auf neuartige Weise miteinander verbunden werden, sind die daraus geformten Gedankengebilde weniger stabil, als es ihre Schöpfertypischerweise vermeinen. Der Ideenhistoriker steht jedoch nicht nur vor der Aufgabeder Analyse. Er muss auch untersuchen, wie durch die Verbindungvon unterschiedlichen unit ideas Ideenkomplexe entstehen, die eine neue, eigenständige Bedeutung annehmen und sich geschichtswirksam entfalten, wobei Bedeutung sowohl ihresemantische als auch ihre wirkungsgeschichtlich effektive Seite bezeichnet. Zugleich muss der Ideenhistoriker Erklä-
2 Vgl. Randall Jr. 1963, 475.
3 Arthur O. Lovejoy:The Great Chain of Being. AStudy of the History of an Idea. (The William James Lectures Delivered at Harvard University 1933). Cambridge, Mass. 1936. Dt. Übersetzung von Dieter Turck:Die große Kette der Wesen:Geschichte eines Gedankens. Frankfurt am Main 1985. Zitiert wird im Folgenden aus der fünften Auflage von 1953.
4 Lovejoy 1953, 3.
5 Lovejoy 1953, 3.
rungen für die Entstehung dieser Komplexionen und ihrer Transformationen ebenso wie für ihre Ausbreitung und Wirkungskraft finden. Die History of Ideas charakterisiert Lovejoy daher als «a duly analytical and critical inquiry into the nature, genesis, development, diffusion, interplayand effects of the ideas which the generations of men have cherished, quarreledover, and apparently been moved by.»6 Eine solchedekompositorisch-rekompositorische Herangehensweise kann aus der Sicht Lovejoys helfen, die Geschichte der Philosophie besser zu verstehen und übersichtlicher darzustellen. Sie besitzt zudem eine regulativeBedeutung für die Interpretationphilosophischer Systeme, indem sie dazu anhält,diese nicht nach ihrem face value zu nehmen.7 Der Ideenhistoriker hat durch die Oberfläche scheinbarer Verschiedenheit hindurch zu den darunter verborgenen «common logical or pseudo-logical or affective ingredients»vorzudringen, aber auch umgekehrt bei vermeintlichenÜbereinstimmungen, wie sie etwa durch bestimmte Ausdrücke suggeriert werden, die dahinter verborgenensachlich-gedanklichen Differenzen herauszuarbeiten.8
Zweitens greift die History of Ideas auf der anderen Seite über die Grenzen der Philosophie und der Philosophiegeschichte auf andere Disziplinen aus. Es handelt sich um ein seiner Natur und Absicht nach interdisziplinäres Unterfangen. Lovejoy wendetsich gegen die Spezialisierung in den historischen Fächern und die damit einhergehenden Einäugigkeiten unter Historikern. Zwar ist Spezialisierung angesichtsder erdrückenden Menge überlieferten Materials und der Begrenzungen des menschlichen Intellekts unvermeidlich, denn nur auf diesem Weg lässt sich das historische Wissen solide erweitern und vertiefen, aber Spezialisierung birgt die Gefahr, das eigentliche Ziel der Geschichtswissenschaften aus dem Blick zu verlieren. Jeder Historikerist darum bemüht, durch die Herstellung kausaler Zusammenhänge zwischenverschiedenen Ereignissen Gründe für das historische Geschehen anzugeben, mit dem er sich wissenschaftlich beschäftigt. Niemand vermag allerdings zu garantieren, dass sich diese Gründe innerhalb der Grenzen der eigenen historischen Disziplin auffinden lassen.Der je und je begrenzte Horizont der Disziplinen beeinträchtigt unvorteilhafterweise die Suche nach den wahren kausalen oder motivationalen Relationen, an deren Erkenntnis der Historiker interessiert ist.9
Drittens kommt es bei der geschichtlichen Betrachtung der Wirklichkeit jedoch nicht nur auf die positivistische Erkenntnis historischer Tatsachen an. Wie Erich Auerbach, Ernst Cassirer, Johan Huizinga und andere Wissenschaftler in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts, die sich geistig im Grenzbereich von Phi-
6 Lovejoy 1940, 8.
7 Lovejoy 1953, 4.
8 Siehe für das erste Lovejoy, 1953, 4, ein Beispiel für das zweite gibt Lovejoy 1924, 229–253, insbesondere 235 ff.
9 Lovejoy, 1940, 4.
lologie, Philosophie und Geschichte bewegen, ist Lovejoy von einem humanistischen Auftrag der Geschichtswissenschaften überzeugt.Die Kritik an der Spezialisierung in den historischen Wissenschaften bringt er denn auch mit dem Ziel einer Selbsterkenntnis des Menschen in Verbindung. Alle historischen Disziplinen unterstehen dem Delphischen Imperativ ‹Erkenne Dich selbst!›,weil der Held der Geschichte, der eigentliche bewegende Faktor darin, der agierende Mensch ist, dessen wesentliche Eigenschaft das Denken bildet. Der Mensch ist the thinkinganimal:(allgemeine) Ideen, Gedanken, Vorstellungen zu haben und durch sie zu Handlungen (reflexive actions)bewegt zu werden ist sein ihn vor anderen Wesen auszeichnendes Merkmal.10 Die Geschichte der Menschheit ist unvermeidlich, wenn auch nicht ausschließlich, eine Geschichte des Denkens, und die Beschäftigungmit ihr besitzt im Hinblick auf das Ziel menschlicher Selbsterkenntnis eineübergreifende Bedeutung und einen bleibenden Aktualitätsbezug.Wenn die History of Ideas eine Verbindung zwischen etablierten oder sich entwickelnden historischen Fächern herstellen soll, indem sie diese Fächer daran gemahnt, «that the problem of human nature is the gravest and most fundamental of our problems, that the question which more than any others demands answeristhe question, ‹What’sthe matter with man?›», dann tritt diese Notwendigkeit zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte, wie Lovejoy glaubt, tragischer in Erscheinung als in der vom Krieg gegen den Nationalsozialismus geprägten eigenen Zeit.11
Viertens versucht Lovejoy, in einer in den ersten Jahrgängen des Journal of the History of Ideas geführten Debatte mit dem aus Deutschland in die USA emigrierten Romanisten Leo Spitzer, die History of Ideas von der (imdeutschen Sprachraum entwickelten) Geistesgeschichte abzugrenzen.12 Er bestreitet, dass die Einbettung der Philosophiegeschichte in ein größeres Ganzes, zu dessen Erforschung die geschichts-, sprach-, kultur-und sozialwissenschaftlichen Fächer, von der Religions- und Kunstgeschichte bis zur Wissenssoziologie, insgesamtbeitragen, die Annahme eines den Teilen vorhergehenden Ganzen im Sinne eines organisch aufgefassten Geistes erfordert, sei es in der monistischen Form, die Hegel ihm zuspricht, sei es in der pluralen Form eines durch eineVielzahl von Faktoren bestimmten Zeit- oder Epochengeistes, die von Spitzer postuliert wird. In der holistischen Sicht des Romanisten ist die Einheit des Ganzen untrennbar mit seiner Individualität verbunden, vergleichbar mit einer Primzahl in der Welt der natürlichenZahlen;inder atomistischen Sicht Lovejoys hingegensind die historischen Manifestationen des menschlichen Geistes nur Zusammensetzungen von bestimmten (logischen oder affektiven)Einheiten, vergleichbar natürlichen Zahlen, die sich als Produkte von Primfaktoren darstellen lassen. Der ana-
10 Lovejoy 1940, 1.
11 Lovejoy, 1940, 8/9.
12 Vgl. Lovejoy, 1941, 257–278;Spitzer 1944, 191–-203;Lovejoy 1944, 204–219.