SIGNATUREN DER MODERNE 06
Spielweisen und Wissen
Interdiskursive Bildung in den performativen Künsten
SUSANNE CATREIN
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Signaturen der Moderne
Herausgegeben von Andrea Bartl, Christof Hamann und Alexander Honold
Bd. 6
Susanne Catrein
Spielweisen und Wissen
Interdiskursive Bildung in den performativen Künsten
Schwabe Verlag
Die vorliegendeArbeitwurde vonder Philosophischen Fakultätder Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2023 auf Antrag vonProf.Dr. Henry Keazor undDr. Alexandra Vinzenz alsDissertation angenommen.
DerDruck dieser Publikation wurde durch dieVerleihung des AugustGrisebach-Preises vonder Manfred Lautenschläger-Stiftung unterstützt.
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Abbildung Umschlag:Robert Wilson:Dreigroschenoper, 2007 © Lesley Leslie-Spinks
Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel
Cover:Kathrin Strohschnieder, stroh design, Oldenburg
Korrektorat:Julia Müller, Leipzig
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert& Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5144-4
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5145-1
DOI 10.24894/978-3-7965-5145-1
Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.
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Für meine Familie
Lasst unsere Körper in tausend Bruchstücke bersten und ihn dann sich selber neu erschaffen. Lasst uns etwas Andereswerden, lasst uns Frau, Tier, Pflanze, Maschine, molekular werden.
Das Theater ist für diesen Neuanfang womöglich der ideale Ort. Auf der Bühne beobachten wir, wie Menschen in verschiedene Zustände und Wesen übergehen.
Susanne Kennedy
Erfahrungsseelenkunde und Theatromanie:Der Mensch im Zentrum eines neuen interdisziplinären Bewusstseins
1. Vomanarchischen Synkretismus zur sittlichen Erziehung des ‹Menschengeschlechts ›:Bildende Spielweisen im 18.
1.1 Auftakt:Interdiskursive Entstehungsbedingungen des Schauspieldiskurses 39
1.1.1 Ästhetisches Erziehungsprogramm für eineSchaubühne als moralische Anstalt:Bürgerliches Aufbegehren im Spiel. .. 42
1.1.2 Theaterkultureller Strukturwandel:Die Ablösung der polyphonenSpektakelkultur und des moralistischen
1.2 Der ‹Wärme- bzw. Kältehaushalt› im Schauspiel des 18. Jahrhunderts
1.2.1 Pariser Plädoyer für das ‹heiße› Schauspiel: Pierre RémonddeSainte-Albines Le Comédien
1.2.1.1 Zwischen ‹Witz› und ‹Feuer›: Die naturgegebenen Eigenschaftendes ‹comédien›
1.2.1.2 Ein Vorbild der schönen Künste: Naturnachahmung als Ausdruck der Wahrheit
1.2.1.3 Sainte-Albines Vervollkommnung der Nachahmung versus Lessings Synthesekinesischer Zeichen ..
1.2.2 Interdiskursives psychophysisches Wechselspiel auf der Bühne:Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie .. .. ..
1.2.2.1 Zur Umkehr von Sainte-Albines Einfühlungstheorie: Die psychophysische Wechselwirkung als Basis eines systematischen Regelwerks 57
1.2.2.2 Erziehung zu moralischem Handeln:Lessings Mitleids-Ästhetik und die Träne als Kollektiv-Symbol
1.2.3 Pariser Plädoyer für das ‹kalte› Schauspiel:Einsicht statt Einfühlung in Francesco Riccobonis L’ Art du théatre ...
1.2.4 Schauspiel mit ‹Scharfblick›:Entwurf eines ‹modèle idéal› in Denis Diderots Paradoxe sur le comédien ..
63
66
1.2.5 Eine systematische Schauspielmethodik:Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik 70
1.2.5.1 Analogie von Dichtung und Schauspiel: Die Vervollkommnung der Natur
1.2.5.2 Auf der Suche nach einer universellen Körpersprache: Gefühlsästhetik als anthropologisch-psychologische Wissenschaft
1.2.5.3 Systematisierung des Gebärdenspiels: ‹Objektive Malerey› und ‹subjektiver Ausdruck›
2. Konstantin S. Stanislavskijs Schauspieltechnik als interdiskursive Wissensgeschichte
2.1 Zwischen Kunst und Lebenswissenschaften: Entstehungsbedingungen von Stanislavskijs psychologischem Realismus 83
2.1.1 Psychotechnische Experimentalpraktiken:Stanislavskijs ‹System› im Kontext zeitgenössischerSpezialund Interdiskurse
2.1.2 Ein unsystematisches ‹System›:Stanislavskijs Schriften und ihre Editionsgeschichte
2.2 Das Schema des ‹Systems›:Durch bewusste Psychotechnik zu unbewusstem Spiel
2.3 Bühnenkunst versus Dilettantismus
2.3.1 Der erste Bühnenauftritt als pathologischer Kampf: Ein induktiver Versuchsaufbau
2.3.2 Die Kunst des Erlebens:Zusammenspiel von Natur und Technik ..
2.3.3 Die Kunst der Wiedergabe:Abstrakte Form als Produkt der Identifikation
2.3.4 Bühnenkunst und Bühnenhandwerk: Polemik gegen äußerliche Schablonen 110
2.4 Der psychophysiologische Prozess von innen nach außen ..
2.4.1 Die ‹Wenns›,die ‹vorgeschlagenen Situationen› und der ‹Film›:Imaginationsprozess zwischen Tradition und Fortschritt
2.4.2 Die innere und äußere Handlung: Harmonie versus allgemeines Spiel ..
2.4.3 Das emotionale Gedächtnis und die ‹Botanik›:Pflanzenzucht als pädagogische und künstlerische Pflege ...
2.5 Der psychophysiologische Prozess von außen nach innen ..
2.5.1 Die physischen Handlungen als Gedanken oder körperliche Gesten:Kontroverse um Begriff und Deutung ..
2.5.2 Physische Handlungen, ‹Tourismus› und ‹Meteorologie›: Mobilitätals Symbol einer progressivenSchauspieltechnik
2.5.3 Glockenton und physische Handlung als Erreger reflektorischer Prozesse:Bezüge zu Ivan Sečenovs und Ivan Pavlovs Reflexstudien
2.6 Die ‹Arbeit an der Rolle›, ‹Botanik› und ‹Astronomie›: Ergründen
3. ‹Fröhliche Forschung › zwischen Kunst und Wissenschaft : Bertolt Brechts neue Schauspielkunst
3.1 Gewichtsverschiebungen von Suggestion und Argument: Die dramatische und die epische Form des Theaters
3.1.1 Brechts Rekurs auf die aristotelische Poetik: Zwischen Aneignung und Abgrenzung
3.1.2 Vom ‹Witz der Widersprüchlichkeiten›: Narkotische Einfühlung versus vergnügliche Wachheit
3.2 Interdiskursive Erweiterungdes Kunstbegriffs: VonFrancis Bacons Novum Organum Scientiarum zu Bertolt Brechts Kleinem Organon
111
3.3 Strategien des Staunens
3.3.1 Entfremdungund Verfremdung: Das Staunen als ‹Abkömmling des Seltenen› ...
3.3.2 Techniken des neuen Theaters
3.3.2.1 Zur Stärkung des Gestus und gestischer Möglichkeiten:Vorschläge für die einzelnen Akteur:innen
3.3.2.2 Ein soziales Experiment:Kollektiver Rollenaufbau ... 187
3.3.2.3 Montage von Schauspiel und ‹Schwesterkünsten›: Zur Autonomie der einzelnen theatralen Zeichen .... 190
3.4 Brecht und Stanislavskij:Vom Gegen- zum Zusammenspiel
3.5 Emanzipation von dramatischer und epischer Belehrung durch polyphone Offenheit:Elfriede Jelineksund Karin Beiers Das Werk / Im Bus /Ein Sturz
3.6 Fazit
4. Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen: Zwischen Aneignung und Modifikation
4.1 Oszillationund Chiasmus von Material- und Zeichenstatus bei Marina Abramović und Dominique Pitoiset
4.2 Das Performative in Sprachphilosophie, Kulturwissenschaft und Ästhetik
4.2.1 Wie man Dinge mit Worten macht:Wirklichkeitskonstitution und Aufführungscharakter in John L. Austins Sprechakttheorie
4.2.2 Zur diskursiven und subversiven Konstruktion von (Geschlechts‐)Identität:Transformationspotenziale in Judith Butlers Gendertheorie und der Ästhetik des Performativen
4.3 Die Aufführung zwischenAn- und Abwesenheit: VonMax Herrmanns Kopräsenz im Spiel ‹aller für alle› zu Gob Squads Strategien der Absenz
4.4 Die Hervorbringung performativer Materialität und Interdiskursivität
4.4.1 Befragung ökonomischer Objekthaftigkeit in intersubjektiven ‹Situationen›: This Variation von Tino Sehgal
4.4.2 Ästhetische Erforschung lebenswerten Lebens: Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll
5. Realisation und Subversioninterdiskursiver Spielweisen im Interpretationstheater : Drei Schwestern und Dreigroschenoper
5.1 Posthumanistische Auflösung der Figur statt Einfühlung in die Rolle: Anton P. Čechovs Drei Schwestern
285
5.1.1 Bildung als unnützer Luxus:Eine Poetik des Wartens. .. .... 285
5.1.2 Die Leere von Čechovs Drama und die Fülle von Stanislavskijs Inszenierung
5.1.3 Technoide Auflösung des Subjekts:Unwahrnehmbar-Werden im narkotischeninterdiskursivenRitual bei Susanne Kennedy
5.2 Störung der Einfühlung versus Einfühlung als Störung:Bertolt Brechts Dreigroschenoper
5.2.1 Ein vielstimmiges Palimpsest:Episches Theater als Theaterdiskurs
5.2.2 Die Rezeption der Uraufführung: Zwischen Häme und Huldigung
5.2.3 Selbstreflexion in der epischen Oper: Das Stück als performatives Zitat bei Andreas Kriegenburg
5.2.4 Subversion durch Einfühlung im polyphonen Spiel bei Robert Wilson
5.3
1. Diskursspezialisierung und Interdiskursivität
In Charlie Chaplins Modern Times von 1936 vollziehtdie Rollenfigur des Tramp am Fließband einer Fabrik die immer gleiche, auf eine einzige Handbewegung reduzierte Tätigkeit. Die Geschwindigkeit des Fließbands wird auf Geheiß des Fabrikdirektors mehrfach erhöht. Dadurch muss der Tramp die Schrauben am Band bei immer rasanterer Geschwindigkeit festziehen.
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Schließlich ist die gleichförmige Bewegung so in seinen Körper übergegangen, dass er sie auch noch nach Verlassen seines Arbeitsplatzes vollzieht. Die filmische Montage-Technik, die maßgeblichen Einfluss auf Bertolt Brechts Verfremdungs-
strategien hatte,unterstützt den bruchstückhaften Charakter der Tätigkeit, die Chaplin mit seinermechanischen Spielweise vorführt.Denn das Bild, das der Kameramann,Walter Benjamin zufolge, produziert, ist «ein vielfältig zerstückeltes».1 Benjamin vergleicht zudem auf interdiskursive Weise die Arbeit des Kameramanns mit der des Chirurgen, der «operativ»2 in den Körper des Kranken eindringe.Imzerstückeltenbzw. montierten Film finde somit die Wahrnehmung der durch die Technik bestimmten «Arbeits- und Lebenswelt der Moderne»,3 die Benjamin eine «chockförmige»4 nennt, ihren adäquaten Ausdruck:
So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.5
Die Rezeption US-amerikanischer Grotesk- und Zeichentrickfilme, deren Körpersprache und Bilder z. B. in Robert Wilsons Dreigroschenoper adaptiert werden, kann Benjamin zufolge die durch die Technisierung bedingten «Spannungen»und «Massenpsychosen»6 heilen. Ihrer Komik spricht Benjamin eine prophylaktische und therapeutische Wirkung beim Kinopublikum zu, die Wilson dann auf die Bühne überträgt:
Wenn man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den großen Massen erzeugt hat – Spannungen, die in kritischen Stadien einen psychotischen Charakter annehmen – so wird man zu der Erkenntnis kommen, daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat […]. Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar. [ ]Die
1 Walter Benjamin:Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung. In:ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Bd. I.2: Abhandlungen. Frankfurt am Main 1991, S. 471–508, hier S. 496.
2 Ebd.
3 Nicolas Pethes:Walter Benjamin. In:Philosophie in der Medientheorie. VonAdorno bis Žižek. Hrsg. von Alexander Roesler und Bernd Stiegler. München 2008, S. 27–40, hier S. 37.
4 Walter Benjamin:Über einige Motive bei Baudelaire. In:ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, S. 605–653, hier S. 631.
5 Ebd., S. 630 f.
6 Walter Benjamin:Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung. In:ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, S. 431–470, hier S. 462. Vgl. Hannelore Bublitz:Inder Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld 2005.
amerikanischen Groteskfilme und die Filme Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten.7
Mithin verknüpft Benjamin in seiner Argumentation den Schauspiel- und Technik-Diskurs mit dem psychologischen und medizinischen. Die Heilung durch das kollektive Gelächter im Kinosaalkann auch auf die anarchische Komik in Modern Times bezogen werden, z. B. wenn Chaplins Tramp mit dem Versuch, eine Fliege zu verscheuchen, das straff getaktete, technisierte und arbeitsteilige System stört.
Die eingangs beschriebene Szene,inder Chaplin seine Kritik an der fordistischen, ausschließlich auf Effizienz setzendenMassenproduktion in zugespitzter, grotesker Form vorführt, lässt sich zudem mit einer These Friedrich Schillers lesen, der in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 bereits die Trennung in arbeitsteilige Spezialbereiche thematisiert. Schiller geht mit den SpezialisierungstendenzenseinerZeit hart ins Gericht: Der Mensch bilde sich selbst nur «als Bruchstück»aus, entwickle nie die «Harmonie seines Wesens», sei bloß ein «Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft».8 Auch Chaplins Tramp, der den mechanischen Bewegungsablauf noch nach Verlassen des Bands vollzieht, lässt sich als ‹Abdruck› seiner Tätigkeit auffassen, da der Arbeiter am Fließband sein Wesen nur fragmentarisch ausbilden kann.
Jürgen Link und Ursula Link-Heer verweisen in ihren Ausführungen zu Diskurs und Interdiskurs ebenfalls auf Schillers Kritik an der zeitgenössischen «Arbeitsteilung und Diskursspezialisierung»9 und die von MichelFoucault beschriebene zunehmende Spezialisierung der Diskurse im 18. Jahrhundert. Die von Foucault so genannten «diskursive[n] Formationen»bzw. «Diskurse»haben Link und Link-Heer als «Spezialdiskurse »10 spezifiziert. Foucaults ‹Diskurse› würden «als eng begrenzte Sagbarkeits- und Wissbarkeitsräume Objekteund
7 Walter Benjamin:Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung, S. 462.
8 Friedrich Schiller:Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Sechster Brief. In:ders.: Werke und Briefe. In zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann u. a. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz u. a. Frankfurt am Main 1992 (Erstdruck 1795), S. 556–676, hier S. 572 f. (vgl. Kap. 1.1.1).
9 Jürgen Link und Ursula Link-Heer:Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In:Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 20, Heft 77/1990, S. 88–99, hier S. 94.
10 Jürgen Link:Sprache, Diskurs, Interdiskurs und Literatur. In:Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Hrsg. von Heidrun Kämper und Ludwig M. Eichinger. Berlin/New York 2007, S. 115–134, hier S. 118. Seit den 1970er Jahren haben Link und Link-Heer ihre Interdiskurstheorie und -analyse im Anschluss an Foucaults Diskurstheorie und -analyse für die Literatur- und Kulturwissenschaft entwickelt. Vgl. ebd., S. 115.
Subjekte eines jeweils sehr speziellen Wissens»11 hervorbringen. Die Ausdifferenzierung von Wissenziele in der Regel auf Klarheit. Begriffe würden präzise definiert, Mehrdeutigkeiten vermieden. Der Idealtyp sei die mathematische «Formel».12
Neben der zunehmenden Ausdifferenzierung in Spezialdiskurse gibtesjedoch, so Link, auch eine«gegenläufige, entdifferenzierende,partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion»,13 die als interdiskursive bezeichnetwerde. Diese führe zur paradoxen Produktion eigener Wissensdiskurse, deren «Spezialität»14 gewissermaßen die «Nicht-Spezialität»15 sei und die Link und Link-Heer «Interdiskurse»16 nennen. Das durch die Interdiskurse konstituierte Wissen entstehe durch Einbindung und Verknüpfung verschiedener Spezialdiskurse, wie sie etwa Benjamin zwischen Schauspiel, Technik, Psychologie und Medizin vornimmt. Gäbe es nämlich ausschließlich Spezialdiskurse, könne nicht über deren Grenzen hinaus kommuniziert werden.17 DennochmöchteLink Interdiskurse nicht als solche«Totalisierungen»18 missverstanden wissen, für die Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen durch die Kunst und das Schöne, durch das Spiel, plädiert. Totalisierungen wie die von Schiller und anderen zeitgenössischen«Bildungsidealisten»19 geforderten hält Link nämlich für unmöglich:
Die wesentliche Funktion von Interdiskursen besteht demnach nicht in professionellen Wissenskombinaten, sondern in selektiv-symbolischen, exemplarisch-symbolischen, also immer ganz fragmentarischen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgrenzen hinweg für die Subjekte.20
11 Ebd. Foucaults ‹Diskurs›-Begriff betont nach Link und Link-Heer «lediglich die sprachlich-schriftliche Seite einer ‹diskursiven Praxis›.Unter ‹diskursiver Praxis› wird dabei das gesamte Ensemble einer speziellen Wissensproduktion verstanden:bestehend aus Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung, Medialisierung. Beispiele wären der ‹medizinische› oder der ‹juristische Diskurs›». Link/Link-Heer:Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 90.
12 Link:Sprache, Diskurs, Interdiskurs und Literatur, S. 119.
13 Ebd., S. 122.
14 Ebd.
15 Ebd., S. 123.
16 Link/Link-Heer:Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 93.
17 Vgl. Rolf Parr:Medialität und Interdiskursivität. In:Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hrsg. von Georg Mein und Heinz Sieburg. Bielefeld 2011, S. 27–41, hier S. 28.
18 Link:Sprache, Diskurs, Interdiskurs und Literatur, S. 123.
19 Ebd. Goethe, die Brüder Humboldt und Hegel nennt Link in diesem Zusammenhang als weitere ‹Bildungsidealisten› des 18. Jahrhunderts, die ‹Totalisierungen› anstrebten.
20 Ebd.
2. Erfahrungsseelenkunde und Theatromanie:
Der Mensch im Zentrum eines neuen interdisziplinären Bewusstseins
Auf die Spezialisierungstendenzen im 18. Jahrhundert – die «Entwicklung spezieller Praxis- und Wissensbereiche»21 – ist auch der Anfangdes Schauspieldiskurses und die Theoretisierung des Schauspiels seit Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückzuführen. Das veränderte und verstärkte Interesse an Schauspiel und Aufführung lässt sich damit begründen, dass der Mensch im 18. Jahrhundertins Zentrum des Bewusstseinsund einer Vielzahl von Disziplinen rückt. Dies hat AlexanderKošenina in seiner kulturwissenschaftlichen Untersuchung Literarische Anthropologie. DieNeuentdeckung des Menschen umfassend belegt.
‹Erkenne dich selbst!› Diese Weisheit, geschrieben auf eine Wand des Apollon-Tempels zu Delphi, wird in der europäischen Aufklärung zu einer wichtigen Maxime und zu einer Leitlinie der Wissenschaft. […]ImBarock stand er [der Mensch, S. C.] noch im Schatten der Sonnenkönige – Gefühle und Affekte waren verpönt, Individualität und Subjektivität kannte man noch nicht. Den Menschen wünschte man sich zurechtgestutzt wie einen französischen Garten. Geordnet und diszipliniert sollte er funktionieren – ständisch als Untertan, strategisch als Höfling, statisch als Schauspieler, stoisch als Held. Gegen diese Marionettenkultur machte die Aufklärung Front.22
Košenina erforscht in seiner Studie das Menschenbild und das Wissen über den Menschen von der Aufklärung bis zur Klassik nicht nur am Beispielanthropologischer Literaturgattungen wie Reiseberichten, Lehrgedichten, psychologischen
21 Parr:Medialität und Interdiskursivität, S. 28. Rolf Parr und Matthias Thiele haben die bei Link zwar bereits auch kulturwissenschaftlich, jedoch noch stärker literaturwissenschaftlich ausgerichtete Interdiskurstheorie und -analyse im 21. Jahrhundert für deren Anwendung in Medien- und Kulturwissenschaft zunehmend erweitert. Vgl. Rolf Parr:Interdiskurstheorie /Interdiskursanalyse. In:Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 202–206, hier S. 202. Hierzu siehe auch:Rolf Parr und Matthias Thiele:Eine ‹vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen›.Zur Interdiskursivität und Televisualität von Paratexten des Fernsehens. In:Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen. Hrsg. von Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek. Berlin 2004, S. 261–282. Dies.: Link(s).Eine Bibliographie zu den Konzepten ‹Interdiskurs›, ‹Kollektivsymbolik› und ‹Normalismus› sowie einigen weiteren Fluchtlinien. Jürgen Link zum 65. Geburtstag. Heidelberg 2005. 22 Alexander Košenina:Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008, S. 9. Franciscus Lang beispielsweise hat seinen Text Dissertatio de Actione Scenica von 1727 wie ein rhetorisches Lehrbuch verfasst, das strenge Regeln für die Naturnachahmung im Bühnenspiel vorgab. Vorallem die Affekte erfuhren hier eine strenge Codierung, deren Zeichenhaftigkeit das zeitgenössische Publikum zu lesen wusste. Vgl. Jörg von Brincken und Andreas Englhart:Einführung in die moderne Theaterwissenschaft. Darmstadt 2008, S. 38.
Fallgeschichten,Romanen und Dramen, sondern zudem im Bereich der bildenden Kunst, Körpersprache und Physiognomik. Wie schon zuvor in Košeninas Dissertationüber Anthropologie und Schauspielkunst treten auch hier verschiedene zeitgenössische Schauspieltheorien in den Fokus seiner Untersuchung.23 Er wendet sich Motiven wie dem zunehmenden Selbstbewusstsein des Bürgertums, der Selbstbestimmung der Frau, den Träumen und dem Wahnsinn zu. Den Grund für eine zunehmende Konzentration auf solche Themen im 18. Jahrhundert sieht er in einer Betrachtungsweise,die die Medizin mit dem Bühnenspiel oder der Philosophie,die Anatomie und Physiologie mit Psychologie und Moralphilosophie verknüpft.
Exemplarischfür die Analogie zwischen medizinischem und dramatischem Diskurs führt Košenina Schillers dramatische Methode an, Seelengeheimnisse offenzulegen, zu «skelettisier[en]»24 und dadurch das Publikum für das Leben außerhalb des Bühnenraums zu immunisieren. Diese Wirkung habe Schiller als «Inokulation»25 bezeichnet. Sie entspreche also der Schutzimpfung, die zur selben Zeit in England aufgekommen sei. So weist Schiller dem Bühnenspiel durch die Koppelung an den medizinischen Diskurs eine immunisierende Wirkung zu, ähnlich wie Benjamin dem Grotesk-und Trickfilm, wenngleich die formalen Mittel und die darüber hinausgehendenIntentionen vollkommen unterschiedlich sind.
Für die Verknüpfung von medizinischem und philosophischem Diskurs steht nach Košenina beispielhaft Ernst Platner, der «Leipziger Doppelprofessor für Medizin und Philosophie»26 und Mitbegründer des Studienfachs Anthropologie. Diesem gehe es um die gemeinsame Betrachtung von Körper und Seele in ihren «gegenseitigen Verhältnissen und Einschränkungen».27 Die Universität Halle soll schon 1750 ein zentralerOrt für psychosomatische Medizin gewesen sein. Die dortigen Forschungen und Publikationen bringt Košenina in engen Zusammenhang mit der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, die dieser aus der Sinnesphysiologie abgeleitet habe:
Ästhetik ohne Medizin ist ebenso wenig denkbar wie eine Mitleidspoetik ohne Vermögenspsychologie oder Erklärungen von Träumen und Fehlleistungen ohne Abstieg zum dunklen ‹Fundus animae› (‹Grund der Seele›). Dort verbinden sich Eindrücke (als Spuren im weichen Gehirnmark)assoziativ miteinander und befeuern die Einbildungskraft.28
23 Vgl. Alexander Košenina:Anthropologie und Schauspielkunst. Tübingen 1995.
24 Schiller:Die Räuber. In:ders.: Werke und Briefe. Bd. 2: Dramen I. Hrsg. von Gerhard Kluge. Frankfurt am Main 1988, S. 9–312, hier S. 16.
25 Friedrich Schiller:Über das Erhabene. In:ders.: Werke und Briefe. Bd. 8, S. 822–840, hier S. 837.
26 Košenina:Literarische Anthropologie, S. 13.
27 Ebd.
28 Ebd., S. 12.