Corinne Holtz: Welt im Werk. Klaus Huber (1924-2017)

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CORINNE HOLTZ

WELT IM WERK

EINE BIOGRAFIE

KLAUS HUBER

(1924–2017)

Welt im Werk.

Klaus Huber (1924–2017)

Eine Biografie

Schwabe Verlag

Erforschtund publiziert mit Unterstützung der GöhnerStiftung, Gitta Herfort Stiftung, Kulturstiftung Thurgau, Paul Sacher Stiftung, Alfred und Anneliese Sutter-Stöttner Stiftung, Werner-und-Irma-Stotz-Gedächtnisfonds sowie weitere Stiftungen und Privatpersonen.

Die Verlagskosten trugen die Kulturstiftung Thurgau sowie eine weitere Stiftung.

Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung,Basel.

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teiledarf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronischverarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Coverabbildung :Michael, Christoph und Klaus Huber (v.l.), Blonay, o. D., Scan aus:Klaus Huber: Umgepflügte Zeit. Schriften und Gespräche, Hg. Max Nyffeler, Köln, 1999, S. 368.

Covergestaltung:icona basel GmbH,Basel

Korrektorat:Julia Müller, Leipzig

Layout:icona basel Gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert& Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5148-2

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5149-9

DOI 10.24894/978-3-7965-5149-9

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Welt im Werk von Corinne Holtzist die erste biografische Studie, die seit Klaus Hubers Tod entstanden ist. Beim Lesen schauerte es mich zuweilen, dennich wurde zurückversetzt in die 1970er- und 1980er-Jahre, als ich Klaus Huber in Boswil persönlich kennenlernte. Da gab es die langen Abende, oft mit Fondue und viel Weisswein. Willy Hans Rösch, der Initiant des Künstlerhauses, führte jeweils das Fondue àlaBoswil vor, bei dem man zum Schluss ein Ei ins sich bildende Croûton am Boden des Caquelons schlug. In solchen Momenten konnte Klaus Huber in einem raunenden,fast tonlos flüsternden Ton aus seinem Leben erzählen, assoziationsreich, abschweifend, durchs Reden angetriebene Gedankengänge, une parole automatique.

Diese Stimme hörte ich erneut bei den autofiktionalenTeilen in der Biografie von Corinne Holtz. Anstatt Klaus Huber mit Eigen- und Fremdzitaten zu erklären, lässt die Autorin Klaus Huber in einer Form von Selbstgespräch erzählen. Es handelt sich dabei nicht um eine romantisierende Biografik, bei der fehlende Lebensbausteine fantasievoll ergänztwerden, sondern um die Umdrehung der von Robert Walser meisterhaft beherrschten literarischen Autofiktionalität, bei der man vorgibt, von sich zu sprechen, aber nur, um ständig von sich abzulenken. Die von Corinne Holtz konstruierte Autofiktionalitätbündelt zahlreiche Zeugnisse, Fakten und Gegebenheiten, die alle detailliert belegt, also keineswegs frei erfunden sind, zu einer neuen ‹Authentizität›.Diese fingierten Selbstgespräche öffnen in dieser Biografie – Intermedien ähnlich – Tore in andere Räume. Mit kritischerEmpathie habe er sich Gustav Flaubert genähert,schreibt

Jean-PaulSartre einleitend zu seiner unvollendet gebliebenenmonumentalen biografischen Studie L’idiot de la famille. Kritische Empathie bestimmt auch das Verhältnis von Corinne Holtz zu Klaus Huber und allen Gefährtinnen und Gefährten seines Lebens. Und ähnlichwie Sartre in seiner existenzialistischen Psychoanalyse Gustav Flaubert von seiner Jugend her erklärt, nimmt bei Holtz die Jugend- und Ausbildungszeit einen breiten Raum ein, die Rolle des als Komponist gescheiterten Vaters, die durchaus nicht brillante Studienzeit bei seiner Geigenlehrerin Stefi Geyer und verstörende Ereignisse in der jungen Familie.

Mir macht diese Biografie bewusst, wie sehr ich nur den ‹alten› Klaus Huber gekannt habe, den über Fünfzigjährigen, der eigentlich immer gleich aussah und kaum alterte. Manchmal verstandich ihn nicht. In seinen letzten Lebensjahren betonte Klaus Huber regelmässig, es habe ihm gar nichts ausgemacht, dass sein

ehemaliger Assistent Brian Ferneyhough zwei Jahre vor ihm den Ernst von Siemens Musikpreis bekommen habe. Dabei schrie er das «gaar nix»soheraus, dass allen Anwesenden klar wurde,wie sehr es ihn wurmte, den ‹Nobelpreis› der Musik erst mit 84 Jahren erhalten zu haben. Mir war das unbegreiflich, denn ich hätte von einem die Häretiker verehrenden und von Menschenliebe durchdrungenen Menschen wie Klaus Huber erwartet, dass ihn Preise und andere Ehrungen keinen Deutkümmern würden. Ich konnte auch nicht nachvollziehen,weshalb er so oft die Meinung äusserte, er werde benachteiligt, zum Beispiel gegenüber Stockhausen. Dabei war die Fangemeinde von Stockhausen, der den Siemenspreis nie bekommen hatte,auf ein Kreislein geschrumpft,während die Werke von Klaus Huber im Gegensatz dazu gerade im deutschen Sprachraum zu den meistgespielten zählten;erhatte den damals florierenden Ricordi-Verlag im Rücken;erwar ein, wenn nicht sogar der zentrale Kompositionslehrer für mehrere Generationen. Allen, die bei ihm studierten, hat er auch das Ethos eingepflanzt, keine Note zu schreiben, die vor der Musikgeschichte und letztlich der Welt nicht bestehen könne. Dieses Ethos vernimmt man eigentlich bis heute bei allen, die durch seine Schule gegangen sind. Es war auch das Ethos seines Lehrers Willy Burkhard, dessen Patenkind er war;und es war ganz generell das Ethos vieler in der Schweiz wirkender Kompositionslehrerwie Sándor Veress, Jacques Wildberger, Hans-Ulrich Lehmann und etwas später Roland Moser.

Während der Komponistenseminare in Boswil wurde Klaus Huber mir auch ein moralisches Vorbild. Mitten im Aufrüstungswettbewerb von SS-20-und Pershing II-Raketen initialisierte er in der kleinen Aargauer Gemeinde zusammen mit dem heute leider fast vergessenen Willy Hans Rösch einen ganz konkreten musikalischen Ost-West-Dialogund hebelte die geschichtsphilosophische Fixierung auf die eine Avantgarde und den Glauben an den einen vordersten Stand des musikalischen Materials aus. Erstmals wurdenviele Komponisten und zunehmend auch Komponistinnen aus den sogenannten sozialistischen Staaten eingeladen, um ihreWerke vorzustellen. Bei den in negativer Dialektik geübten Akrobaten der Avantgarde konnten solche Kompositionen Veitstänze provozieren. Davon liess sich Huber nicht beeindrucken, und er fand bei allen Werken positive Seiten und lenktemit unerwartet naivenFragen auf das Wesentliche einer musikalischenPosition. Allerdings duldete er schon damals wenig Widerspruch, was ihm auch wegen seines langen Haares, seiner ökologisch alternativen Kleidung und nicht zuletzt seiner sonoren Stimme und seiner spirituellen Schlagseite wahlweise den Ruf eines Paters oder eines Gurus einbrachte.

Corinne Holtz forscht den vielenRinnsalen im Leben von Klaus Huber nach, sucht nach den Quellen. Sie verfolgt die Lebenswege der Väter und Mütter, auch jene von deren Vätern und Müttern. Sie taucht in heute kaum noch vorstellbare gesellschaftliche Verengungen ein, mit denen die Generation von Klaus Huber konfrontiert war, und sie zeigt, wie ganze Generationen durch den Nationalsozialismus geprägt und beschädigt wurden, auch in der Schweiz.

Beim Lesen der Teile zu den Jugend- und Lehrjahren fiel mir auf, dass Klaus Huber diese Zeit nie erwähnte und sie auch in seinem Werk keine Rolle zu spielen scheint. Einzig als Allegorie für Unschuld und Reinheit erklingt eine Knabenstimme im Senfkorn in der Mitte des Monumentaloratoriums Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… Ganz im Gegensatz zu seinemlangjährigen Freund und Förderer Heinz Holliger, der als Komponist noch heute aus seiner glücklichen Jugendzeit schöpft. Mit zwanzig Jahren hatte Holliger in Paris, wo er in der Konzertklasse von Yvonne Lefébure Klavier studierte, Liszts Mazeppa übte und schwierigste technische Etüden auf der Oboe vom Blatt spielte, das Gefühl, sein Leben sei eigentlich fertig. Sein Lebens-‹Davidsbund› mit Claude Debussy, Maurice Ravel, Robert Schumann, GeorgTrakl, Friedrich Hölderlin und Nelly Sachs war schon fest gebildet.

Mit zwanzig Jahren hatte Klaus Huber noch nicht einmal einen richtigen Anfang gefunden;und er wird ein Leben lang – auch das zeigt die Biografie von Corinne Holtz – Vorbilder oder eigentlich fast schon ‹Göttinnen› und ‹Götter› suchen, die ihn herausfordern und an die er sich halten kann. Er hält ihnen die Treue, auch wenn sich die Interessen verschoben oder deren Entwicklung problematisch wurde. Vonder nicaraguanischen Revolution, unter deren Einfluss er Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… schuf,distanzierte er sich nie, auch als sich deren Anführer Daniel Ortega zum machtbesessenen Despoten gewandelt hatte. Spannend arbeitetCorinne Holtz auch die Reaktion auf den Mauerfall heraus. Huber verlor sein langjähriges Interesse für den Ost-West-Austausch, misstraute, wie viele,der Abwicklung der DDR und wandte sich der arabischen Musik und daraus abgeleiteten mikrotonalen Systemen zu. Auch hier fand er wieder einen Gott, den Fantasten Baron Rodolphe d’Erlanger,der 1930 kurz vor seinem Tod den erstenBand von La musique arabe publizierte. Als ihn einmal zwei langjährig ausgebildete arabische Berufsmusiker bei einem Maqam zu korrigieren wagten, donnerte er sie in einem seiner berühmten Wutanfälle an, sie sollten zuerst einmal d’Erlanger studieren. Da stündedie ganze Wahrheit zur arabischen Musik drin.

Corinne Holtz erklärt Klaus Huber nicht, aber sie umstellt ihn mit Kontexten, die den Lesendendazu zwingen, ihn selbst in durchaus neuer Weise zu interpretieren, seine enormen Leistungen als Komponist in ihrer ganzen Dimension zu erfassen und Irritierendes besser zu verstehen und einzuordnen. Die Autonomie und Eigenständigkeit, die Klaus Huber immer einforderte, macht Corinne Holtz auch gegenüberder Leserschaft zum Prinzip. Vorurteile werden keine bestätigt, alle erfahren trotz Konflikten Gerechtigkeit, fürs Boulevard gibt es nichts zu holen. Wir werden zur kritischenEmpathie verführt.

Abbildung 1 Christiane Huber-Mayer, o. D.

Mutterland

Unsere Nachbarn dachten:Die sind verrückt.Wir waren klein und durften nackt neben den Schweinen herumspringen. Ich erinnere mich an einen Bauernhof, auf dem wir in der Nähe von Belp lebten.1 Das muss in der Zeit vor 1931 gewesen sein, vor dem Umzug nach Langenthal. Wir, das sind meine SchwesterSusanne und ich, Klaus, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Im Umziehen sollte ich Übung bekommen.Bern, Belp, Langenthal, Basel, Küsnacht. Dann,als Erwachsener, Zürich, Zollikon, Reigoldswil, Neukirchen bei Freiburg im Breisgau, Panicale in Umbrien, Bremen.

Meine erste Erinnerung an einen fremden Ort, ein Bruch zum Lotterleben auf dem Land, versetzt mich nach München:eingezwängt in eine Einzimmerwohnung mit Petrol-Lampe, an der Wand ein Sofa.2 Daneben steht ein Pedalklavier. Darauf übt mein Vater schwere Stücke. Sein Freund,ein schrulliger Organist, ist auf Konzertreise und stellt uns seine Bleibe zur Verfügung. Das ist im Winter 1927/28, als sich Papa auf sein Reife-Diplom in Orgel und Dirigieren vorbereitet.3 Unter seinen Händen und Füssen braustMusik, wir schlafen.

Wann taucht Mutterle in meiner Familiensaga auf?4 Dass wir am Ausgang des Gürbetals nackt herumspringen durften, ist ihr zu verdanken. Meine Mutter war progressiv. Mit 20 Jahren kappte sie ihreZöpfe und trug seitdem die Haare kurz.5 Sie sprach schwäbisch, schlug sich nach München durch und betreute angeblich auch die Kinder des sozialdemokratischen Bürgermeisters. Spätestens hier gehen Dichtung und Wahrheit HandinHand:ImHaus des Bürgermeisters in Schwabing lernte sie Thomas Mann kennen, während Hitler im Hinterhaus den Völkischen Beobachter drucken liess.6 Sie sprach von «schrägen Vögeln», die sie auf der Strasse und im Treppenhaus belästigt hätten.7 Einer ihrer Peiniger verwandelte sich in der Erinnerungindas Ungeheuer namens Hitler.8 Mutterle oder «d’sMomi », wie sie mein Vater im Haslitaler Dialekt rief, hiess Christiane Emilie Pauline Mayer,als sie in einem Park in München einen Kinderwagen vor sich her schob.9 Ein Werkstudent aus der Schweiz beobachtete sie dabei und hielt sie für eine verheiratete Frau. Es war im Frühling 1921, als die Schullehrertochter aus Württemberg Walter Simon Huber traf, der Sekundarlehrer war und Komponist werden wollte. Schwäbisch und Haslitiitschprallen aufeinander. Beide sind früh mutterlos geworden und dem Musischen zugeneigt,indie Grossstadt haben sie ihre Hoffnungen verpflanzt.

Jetzt lebt Christianeals Gattin des Sekundarlehrers nahe bei Bern, weit weg von ihrer Sprache und ihren Interessen. Die Weiler um Belp heissen Viehweide, Heitern, Hofmatt.Die Gürbe im Dorf und die Aare auf der Allmendüber-

schwemmtenvor der Flusskorrektur regelmässig Gemeindegebiet. Der Alltagist ländlich geprägt. Berühmt ist der Gemüsebau im Belpmoos und der Flugplatz, 1929 eingeweiht. Arbeit gibt es ausserdem in der Tuchfabrik und in der Nahrungsmittelfabrik.10 Meine Mutter ist eine leidenschaftliche Leserin geworden. Sie stahl sich die Zeit, Bücher zu lesen und Gedichte zu rezitieren. Sie war die Fremde, ihre Sprache ihre Heimat. Gleichzeitig führten ihr Deutschsein und ihre Sprache dazu, dass es bei uns fortwährendetwas zu verbergen gab, obwohl die ganze Familie dazu übergegangen war,das Nazitum und den Faschismus geschlossen zu verurteilen.11 Über Bücher blieben wir in Verbindung, sie war stolz darauf, in einer Weltgegend aufgewachsen zu sein, die einen Hölderlin, Schiller, Mörike, Hegel, Fichte hervorgebracht hatte. Der ‹Hölderle› lag ihr besonders am Herzen. In Brettachbei Heilbronn unterrichtete ihr Vater vielleicht unter ähnlichen Bedingungenwie meiner als Junglehrer in der Gesamtschule Pfaffenmoos im Emmental. Dort mussten die Kinder jeden Morgen Holzscheite zum Heizen des Schulofens mitbringen. Körperliche Züchtigung war rechtlich erlaubt, in der Schweiz bis 1978.12 Ein ausdrückliches Gewaltverbot gibt es nicht. Das kommt mir in den Sinn, weil ich ja selber auch Kinder unterrichtet habe:als Primarlehrer in Fischenthal-Gibswil, als Geigenlehrer über Jahre am Konservatorium Zürich.

Hatte meine reformierte Mutter jüdische Wurzeln im Schwarzwald, wie das in der Familie vermutet wird?13 Mayer mit ageschrieben ist im Südwesten Deutschlands,insbesondere in Württemberg und Baden, verbreitet. Mayer oder Meyer ist erst einmal eine mittelhochdeutsche Berufsbezeichnung und meint den Mei(g)er, den Oberbauer, der im Auftrag des Grundherrn die Güter bewirtschaftet, die Aufsicht über den Hof führt und im Geist des Grundherrn die niedere Gerichtsbarkeit ausübt. Juden durften kein Land besitzen, mit der Gleichberechtigung ging es erst Mitte des 19. Jahrhunderts vorwärts. Meyer ist als jüdischer Familienname kein Berufsname. Er ist eineeingedeutschte Schreibweise für das hebräische meir und bedeutet «erleuchtet».14

Ich weiss wenig Gesichertes über meine Mutter. Sie kam aus Neckarsulm in Württemberg und ist 1899 geboren.15 So viel steht fest. Dort gab es, anders als in Brettach, einekleine jüdische Gemeinde.16 Inzwischen durften Juden in Württemberg auch Christinnenheiraten. HöhereÄmter als Richter, Akademiker, Militär oder der Schuldienst blieben ihnen weitgehend verschlossen. Kaufhäuser, Textilgeschäfte und Viehhandel hingegen waren oft in jüdischer Hand. So auch in Neckarsulm, wo David Stern ein Kaufhaus führte und die alteingesessene Familie Rheinganum das 1883 gegründete Textilgeschäft.17

«Ihre Mutter hat sie früh verloren. Als 17jährige verlässt sie ihr Elternhaus und sucht mit beispielhaftem Mut ihren eigenen Lebensweg»,

habe ich im Nachruf meines Vaters festgehalten.18 Wie muss das gewesen sein, mitten im Ersten Weltkrieg das Zuhause verlassen, irgendwann in München landen?Auf dem Gipfel der Hungerkrise, im berüchtigten Kohlrübenwinter, die Schule abbrechen, Schulfreunde verlieren, sich durchschlagen?Vorstellbar ist, dass ihr Vater eingezogen wurde und Christianebeschloss, sich nützlich zu machen. Schon zu Beginn des Krieges mussten gegen zwei Millionen Männer einrücken, in den Lazaretten brauchte man jede Hand. Christianes Kindheit war kurz. Ihrer Enkelin Katharina erzählte sie mehr als mir. Sie sei schon früher abgehauen, weil sie ihre Stiefmutter nicht mehr ausgehalten habe.19 Christiane lebte zur Zeit des Gas- und U-Boot-Kriegs, in einer Epoche der Umstürze und der Willkür, Ende 1917 kam der Waffenstillstand an der Ostfront. Ihre Fluchtgeschichte verriet sie einem Mann, der mein Vater werden sollte.

«Ich bin von zuhause weggelaufen und habe zuerst in Lazaretten verletzte Soldaten gepflegt. Später, als Kindermädchen, zog es mich wiederum fort. Die nächste Station war Baden-Baden. Da kam ich als Fabrikarbeiterin unter und lernte, Haarfabrikate und Perücken herzustellen. Immer von 8bis 4, nachher habe ich Klavier geübt. Abends ging ich in den Wald. Gehen und Lauschen, das tat mir gut. Weglaufen war noch besser. Mit Kittel und Hosen als Mann verkleidet, den schweren Rucksack und wenig Geld im Gepäck tippelte ich zwei Monate durch Deutschland Richtung München. Ich fiel auf. Ein Schutzmann machte sich Sorgen:Tragen’sdoch mal ihren Rock, sonst werden’seingesteckt!»20

Im Herbst 1922 heiratete sie WalterSimon Huber. Geld war wenig da. Die Hochzeitsreise führte zu Fuss durch die Schweizer Berge nach Meiringen und nach Bern zurück.21 Drei Wochen waren sie unterwegs, angeblichmit Bachs Orgelwerken in Vaters Rucksack. Seine neue Stelle als Sekundarlehrer in Belp sicherte ein Einkommen, als Organist und Chorleiter hingegen verdiente er kaum etwas. Er entdeckte jedoch eine Neigung,die er mit Unterbrechungen bis in die letzten Lebensjahre pflegte:eineintensiveschöpferische Auseinandersetzung mit dem Schweizer Volkslied.22

Inzwischen leben wir in Langnau im Emmental und sind drei Geschwister. 1933 bin ich, der Zweitgeborene, neun, meine SchwesterSusanne zehn und Rosemarie fünf Jahre alt. Mutter erwartet ihr viertes Kind. Dem Tod bin ich wie dem Umziehen früh begegnet. Unser Bruder Christoph stirbt nach zwei Monaten. «Kaum auf dieser Erde, verlöscht sein Leben.»23 Wer diesen Satz gesagt hat, weiss ich nicht mehr. Was in unseren Eltern vorging, die ein Kind verloren, was wir als Geschwister fühlten:darübergibt es keine Erzählungen. Zumal der Tod Christophs Jahre später vom Tod unseres jüngsten Bruders Christian überschattet wird. Er stirbt mit 12 Jahren nach einem Unfall. Eine Choristin meines Vaters im Kirchenchor Küsnacht am Zürichsee, wo sich unsere Eltern dauerhaft niederliessen, erinnert sich an die Wirkungdes Unglücks auf meine Eltern. «Als 1948 eines ihrer Kinder, der zwölfjährige Christian,beim Maikäfersammeln zu Tode stürzte,

war es der Mutter nicht mehr nach Singen zu Mute. Nun merkten wir, wie sie uns fehlte, dennihr Walterwar in dieser Zeit manchmalrecht unberechenbar.»24

Die Todesart meinesBruders Christian – Stürzen – setzt sich in meinem Leben fortund fest. Das Stürzen, sich Stürzen, sich mit anderenHinabstürzen hat sich auch in meiner Musik abgesetzt. Stürzen ist vom Schrei begleitet, so stelle ich mir das vor. Das Innere schreit und führt einer unheilbaren Verletzung ähnlich zum Tod durch die eigene Hand. Der Schrei als Äusserungmenschlichen Lebens und Sterbens hat für mich eine fast obsessive Bedeutung bekommen. Der Schrei verfolgt mich. Ich bin gezwungen, das zu komponieren. Und der Sturz, das Niederstürzen, das Zerschlagen.25

Warum Flora und ich den ersten Sohn wie meinen als Säugling verstorbenen Bruder auf den Namen Christoph taufen lassen, was ‹Christusträger› bedeutet?Den zweiten Sohn Michael, nach dem Erzengel, der Teufel und Drachen bekämpft?Vielleicht haben wir uns bärenstarke Söhne in einer Zeit gewünscht, Anfang der 1950er-Jahre, die bleischwer auf mir lastete. «Ich hatte Angst vor dem Leben.»26 Dann nahm sich Flora das Leben. Wir waren damals bereits getrennt, ich in einer neuen Beziehung. Es gibt dazu einen Briefentwurf an Floras Eltern, eine Erklärung für die von mir ausgehende Trennung.27 Dieser für mich aber auch hoffnungsvollen Zeit verdanken sich mehrere Kompositionenfür Altstimme. Die neue Liebe zerbricht am Klassenunterschied, behaupte ich.28 Er wiegt schwerer als mein Alter und mein brotloses Streben. Die Flötistin, die ich daraufhin kennenlerne,befördert ihrerseits eineganze Reihe von Werken und bringt mir, dem zur Bratsche übergelaufenen Geiger, die Flöte und ihren spieltechnischen Horizontnäher. Die erste Musik für meine zukünftige Frau, Susanne Bitter, gilt einem Text der Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg. Auf die ruhige Nacht-Zeit soll uns beide als Ausführende einschliessen und ein Echoraumfür unsere Verbindung sein. So kommt es zur Besetzung von Sopran, Flöte, Bratsche und Cello. Das Herz der Dichtung wird auch zum Herz meiner Musik, um das sich spiralartig die aus einer Zwölftonreihe gewonnenen Teile legen. Kernstück ist die vierte Strophe, in der uns der «sternenbunte Himmelsthron Sorg und Grämen»abgenommen hat. Die Musik schläft in der Luft, das «Gottesgnadenglück»ist nicht mehr weit. In Schlaf und Traum bleiben «Schein und Sein»unserer «Wohlfahrt»eingeschrieben.29

Der Schein meiner Existenz ist trüb. Mein Anteil am Suizid ist nicht aus der Welt zu schaffen. Ich habe Schuld auf mich geladen. Die Angst nistet sich ein wegen der Auswirkungen auf die beidenBuben. Damals habe ich gedacht, dass ich nicht mehr weiterarbeiten kann. Alle existierende und noch zu schaffende Musik schien mir falsch und weit entfernt von der Grausamkeit des Lebens. Ich fühlte, dass ich total neu beginnen müsste.30 Zeitgleich gelingt ein erster Durchbruch mit meiner Musik:Die Kammersinfonie Oratio Mechtildis wird ausserhalb der Schweiz aufgeführt und 1959 bekommeich erstmals einen Preis.31 Oratio Mechtildis ist trotz ihrer seriell strengen Anlage Affektmusik und steht im kras-

sen Widerspruch zur Gesetzesmusik der Avantgarde. In der Formgestaltung verweist das Werk bereits auf die für mich wichtig werdenden statischen Konzeptionen. So nutze ich formale Möglichkeiten der Gotik und das von Perotinus erschlossene drei- und vierstimmige Organum.32 Das Werk kommt am Weltmusikfest in Strasbourg gut an. Es zeuge von einem hochentwickelten Klangsinn und sei ungeachtet der Grabenkämpfeimnahen Donaueschingen ein Bekenntnis zur Aussage.33

Der Sturz in die Tiefe hat den mystischen Vorhangzerrissen, hinterdem ich mich beim Komponieren verstecken konnte.34 Dort sass auch die Religion. Die meiner Mutter neigte der Antroposophie zu, meine Religiosität war eine eher konservative,vielleicht mit gewissenmystischen Einschlägen.35 Mystiker waren meist Häretiker, im Konflikt mit der Kirche, und wirkten revolutionierend. Ich denke an den Naturmystiker Franz von Assisi oder einen Mystiker und Kämpfer wie Ernesto Cardenal, dessen Gedichteich sehr schätze.

Der Schrei wächst zur Obsession und entlädt sich als transformierter Schmerz in meine Musik. Als Komponist würde ich beim Aussprechen des Wortes und seineranatomischen Bedingtheit anknüpfen können. Den aufgerissenen Mund und den fleischigen Rachen untersuchen, das hervorgebrachte Schnarren des Rund die lautmalerische Verwandtschaft von Schrei, Harke und Rachen nutzen, die Obszönitätineine Form fassen. Die quälende Lautung hat mich über Jahrzehnte verfolgt, ich habe sie dem instrumentalen Schrei eingeschrieben:Musik als Fürsprachefür alle, deren Stimme nicht gehört wird, deren Sprache verstummt.36 Es beginnt mit dem Golgatha-Stück Tenebrae (1966/67)und findet sich fast vierzig Jahre später in der Kammerkantate Die Seele muss vom Reittier steigen. Dazwischen mündet die lange Strecke der Selbstgewinnung in ein politisches Bekenntnis:das Oratorium Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… (1975/78–1983). Zu Beginn des Werks, das ich Ernesto Cardenal und dem Dirigenten Ernest Bour gewidmet habe, stehen sich stammelndes Verstummen und zerreissender Schrei direkt gegenüber. Es ist für mich die einzig mögliche Weise, mich musikalisch angemessen zum Anfangdes Leidenspsalms zu äussern: «Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?»37 Dieser Notruf nach Gott zeugt von Vertrauen in eben diesen. Ob meine Mutter und Flora ihn anriefen, weiss ich nicht. Was teilten die beidenmiteinander ausser dem Schmerz?Meine Mutter hatte ebenfalls einen Lehrer geheiratet, der Komponist werden wollte und im Widerstreit mit den Erwartungen des Vaters lag. Sie verliess München, verdiente kein eigenes Geld mehr und stellte sich hinter einen künstlerisch angetriebenen Mann. Sie begegnete dem Tod aus der entgegengesetzten Richtung:als Mutter, die zwei Söhne verlor, gegenüber einer Mutter, die zwei Söhne mit in den Tod nehmen wollte.

Mutters Geburtstag alarmierte mich, sie im August wenigstens anzurufen oder ihr zu schreiben. «Geliebte Mutter»schrieb ich in der Korrespondenz an sie alleine, «Liebes Müeti»,wenn auch mein Vater einbezogenwar.38 So schaffte ich

rechtzeitig ein paar arme Zeilen oder sandte verspätete Glückwünsche wie zum 70. Obwohlich eigentlich Zeit gehabt hätte.«Ich bin noch ziemlich abgespannt von der Messe-Musik;ich will dir daraus das Sanctus abschreiben.»39 Dazu kam mein Vorschlag, eine Reise mitzufinanzieren, sei es nach Kalifornien, Ägypten oder nochmals Griechenland.

Was mich besonders anrührt, ist ihr Mut. Mut gehört zu ihrem Leben, unverwechselbar. Das Erstaunlichste für mich ist, dass sie Resignation und Mutlosigkeit nicht zu kennen schien. Diese Feststellung verrät vermutlich mehr über mich als über sie. Auch das Gefühl des Versagens ihr gegenüber. Mit gut vierzig versuche ich, etwas selbstloser zu werden und wage sie zu fragen, ob das Männern schwerer fällt. Immernoch brauche ich ihren Segen und bitte sie, für mich zu beten, dass ich weder der Selbstgerechtigkeit noch der eitlen Sattheit erliege. Sie könnten mit Erfolg im Lebenallzu leicht einhergehen.40 Gelegentlich habe ich für sie Musik komponiert und unsere Verbindung über das Lesen gepflegt.41 Meine Empfehlungen durften ihrem persönlichen Geschmack widersprechen. So riskierte ich 1972 ein Paket mit einer Büchner-Gesamtausgabe und beauftragte gleichzeitig unsere Buchhandlung, ihr das Franziskus-Buch des streitbaren Jesuiten Mario von Galli nachzusenden. Georg Büchner, suche ich sie zu überzeugen, ist das grösste Genie, das Zürich je gesehen hat, nicht nur im 19. Jahrhundert. Welch ein Leben, das Lüge (auch Lebenslüge)mit Kühnheit verachtet.42 Meine Mutter ist lange jung geblieben. Sie lässt sich als Grossmutter nicht mehr alles aufbürden. Ein Enkelkind in die Ferien nach Küsnacht zu nehmen, reicht ihr, alle drei – nein. Das ist mir zu anstrengend. Unsere älteste Tochter, Katharina,liebt sie über alles. Sie war dort im siebten Himmel, erinnert sie sich. «Grossmueti ging mit mir im Jelmoli in Zürich Lackschuhekaufen. Niemand hat verstanden, warum ich das unbedingt wollte. Sie hingegen fand:Aber klar, das ist doch selbstverständlich. Grossmueti war rundlich und gemütlich und einfach für mich da.»43 In den letzten Lebensjahren besuchen wir sie im Pflegeheim in Hombrechtikon. Ich bin der abwesende Sohn, anders als unsere älteste SchwesterSusanne. Sie lebt heute im Zürcher Oberland in eben diesem Gibswil, wohin mich die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich 1946 als Verweser verbannt hatte.44 Susanne kümmert sich um Kleider, erledigt die Korrespondenz und bespricht sich mit den Pflegerinnen.Ich hingegenbin herzlich selten in der Schweiz und übernehme die Rolle des Versorgers, indem ich das Defizit der Kosten für das Heim decke, weil Beamtenversicherung und AHV-Rente unserer Mutter nicht ausreichen. Bedrückend, dass sie Heimweh hat. Beschämend, dass sie so oft hungrig ist, da sie nicht alles, was auf den Tisch kommt, essen kann.45

Was könnteich dem Schatten alter Schuld entgegenhalten, frage ich manchmal Flora, Christoph, Michael, Christiane. Sie schweigen. Ich flüchte mich in einem Geburtstagsbriefanmeine Mutter in einen Traum. Heute in der Nacht hörte ich ganz deutlich vor meinem inneren Ohr Vogelstimmen wie in der ersten

Frühe. Es klang wie der Gesang einer Amsel. Es sind dies seltene Erlebnisse von innerer Wiedergeburt.Wie das Baden in einem eisigen Gewässer.46

Abbildung 2 Walter Simon Huber, o. D.

Lieber Vater,

ich habe keinen Brief an dich in der Schublade versteckt. Es gibt keine seitenlange Abrechnung, die nie auf die Post ging. Ich versuche dir verspätet mitzuteilen, worüber ich nicht in der Lage war,mit dir zu sprechen. Musikaufschreiben war mein Geheimnis.1 Ich versteckte, was sich als Schatten über unsere Beziehung legen sollteund sich nicht auflösen liess. Am Anfang, mit etwa acht Jahren, verstaute ich meine Kompositioneninder Pultschublade, dann in meinem Rechenheft und einmal reiste ein Entwurf im Rucksack mit in die Sommerferien. Du sassest neben mir und nur fünf Zentimeter entfernt von meinen Tönen auf Papier. Die Zugfahrt auf den Brünig wollte nicht enden. Es hätte nie herauskommen dürfen, dass ich heimlich dein Arbeitszimmer betreten und weissesNotenpapier herausgeschmuggelt hatte.2 Susanne, meine grosse Schwester, wusste davon, und sie wusste, warum sie schwieg.

Der Zorn kam aus dem Nichts. Deine Augen wurdenklein, deine betörende

Tenorstimme überschlug sich und steigerte sich zu einer Art Kläffen. Als Kind dachte ich:Mein Vater ist verschwunden, hier steht ein Fremder. Denn du hast Charme, deineBegeisterungsfähigkeit stecktan: Das rollende Rrrrr, das du deinen Chören und selbst noch deinen Enkelkindern beigebracht hast;die fünf Franken, die es von dir fürs Vorsingen eines Liedes gab;dein Strahlen, wenn wir eines deiner Gedichteauf Haslitiitschkorrekt aussprechen konnten.

Dein Ausbruch dauert, unser Momi versucht zu schlichten.3

Dein Jähzornhat auf mich abgefärbt. Meine Kinder sagen, dass ich ein impulsiver und aufbrausender Vater war.4 Das vertrug sich schlecht mit Susanne, meiner zweiten Frau. Sie vermied Streit und hielt die Harmonie hoch.5 Was hältst du hoch?Das Feuer für die Musik, die Genauigkeit im Detail bis hin zur Pedanterie, das Missionarische in der Vermittlung. Schlug deiner Begeisterung Desinteresse entgegen, nahmst du das persönlich.Deine Kinder und Schüler sollten genauso brennen wie du selbst. Und sie mussten vorwärtskommen. Meine grosse Schwester war unglücklich am Cello. Akkordeon wollte sie spielen und Basler Trommel. Beides kam für dich nicht in Frage. Die Quetschkommode ist etwas für Bauernkinder und Trommeln etwas für Buben.6

Du liessest dich trotz der Wertschätzunggrosser Komponisten für das Akkordeon nicht vom Gegenteil überzeugen.Bei Alban Bergs Wozzeck und dem Einsatz des Instruments im Wirtshausgarten konnte ich es nachvollziehen, weil dir die Wiener Schule egal welcher Schattierung fremd war. Aber beim Leiermann in FranzSchuberts Winterreise und dem Verweis auf Sterben und Tod hätte es eine Brückegeben können. Du hast ja schliesslich über den Liebeston As

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