WdA 2: Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann (Hg.). Gelebte Aufklärung

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Wege der Aufklärung

Herausgegeben von Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

Band 2

Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann (Hg.)

Gelebte Aufklärung

Studien zu Johann Georg Sulzers

Werk und Wirkung

Schwabe Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Professur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Elisabeth Décultot)

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Layout: icona basel gmbh, Basel

Satz: Jana Kittelmann, Christoph Wernhard (Berlin)

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5153-6

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5157-4

DOI 10.24894/978-3-7965-5157-4

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ElisabethDécultotundJanaKittelmann: Vorwort...............7

RainerGodel: SulzerimnaturforschendenKontextseinerZeit........13

SimonRebohm: JohannGeorgSulzersÜberlegungenzurZoologie.Zum ZusammenhangvonNaturkunde,MoralundÄsthetik............39

BaptisteBaumann: JohannGeorgSulzersdiskreteAuseinandersetzungmit denTheorienderPräformationundderEpigenesealsnaturphilosophischem Problem.....................................55

FrançoiseKnopper: SulzersReiseberichte.VerpflichtungversusVergnügen, FachlichkeitversusPlauderei..........................77

JanaKittelmann: SulzersSammlungen.....................97

JakobChristophHeller: JohannGeorgSulzersSzenographienderErkenntnis123

KorbinianLindel: SkeptikerundGlaubenszweiflerimFrühwerkvonJohann GeorgSulzer..................................141

LuisaBanki: DerMädchenfreund.WeiblichesLesenundSchreibennach Sulzer......................................157

Hans-JoachimKertscher: JohannGeorgSulzerimLaublingerDichterkreis.173

AnnikaHildebrandt:KollaborativeKritik,kollaborativePoetik.JohannGeorg SulzersLiteraturkritikimKontextdes‹StreitsumdenReim›.........205

MaximilianBach: JohannGeorgSulzerundderBerlinerKlassizismus...223

MoritzAhrensundDanielaKohler: SulzeralsBerlinerInformant

AlbrechtvonHallers..............................237

Inhalt

RolandSpalinger: Geschmacksbildung.ÄsthetikundPädagogikinJohann

GeorgSulzers GedankenüberdiebesteArtdieclaßischeSchriftenderAlten mitderJugendzulesen .............................251

AnettLütteken:Erziehung‹conamore›.Beobachtungenzurzeitgenössischen

RelevanzvonJohannGeorgSulzerspädagogischenSchriften........269

ReimarF.Lacher: SulzerunddasPorträt.Theorie,Ikonografie,Gebrauch..287

HirohitoMita:VorHumboldt.AnthropologischeHistoriographiebeiJohann

GeorgSulzer..................................305

VerzeichnisderAutorinnenundAutoren...................321

Personenregister................................325

6Inhalt

ElisabethDécultotundJanaKittelmann

IneinemimJahr1759entstandenenBriefanseinenWinterthurerFreundMartinKünzlibeschriebsichJohannGeorgSulzer(1720–1779)einmalalsChristoph KolumbusimunendlichenOzeanderÄsthetik.SulzerstecktetiefinderArbeit anseinemLebensprojekteiner AllgemeinenTheoriederSchönenKünste,alserdieseUnternehmungmitderfastdreihundertJahrezuvorunternommenenFahrt verglichundsichselbstals«verwegene[n]Colombo»,dermit«allenSeegeln»in «seinerArbeitüberdieKünste»im«weitenMeer»aufeine«großeundgefährlicheReise»gingund«bisweilen[...]vonweitemLand»erblickte,charakterisierte.1 DeraggressiveundunerbittlicheExpansionsdrangvonKolumbusundanderen SeefahrerndürfteSulzer,demZeitgenossinnenundZeitgenosseneinfriedliches undsanftesWesen2 attestierten,wohleherfremdgewesensein.Außerdemhater nieeingroßesSchiffbetretenundzwardieOstseeunddasMittelmeer,aberkeinen Ozeangesehen.BeidenGefährten,dieihnregelmäßigausderMitteBerlinsauf derSpreeinseinenMoabiterGartenbrachten,handelteessichallenfallsumkleine Kähne.EinegeplanteReisenachEnglandendete1763abruptimbelgischenSpa. AufausdrücklicheOrdredeszeitlebensvonSulzerhochverehrtenKönigsFriedrichII.hinmusstederseit1747inBerlinlebendeSchweizer,derlängsteinPreuße gewordenwar,nachHausezurückkehrenundsichmitderGründungeinerRitterakademiebeschäftigen.FremdeKontinenteundaußereuropäischeWeltenkannte SulzernurausErzählungenandererGelehrter,wieetwaGeorgForster,derSulzer nochkurzvordessenTodinBerlinbesuchtund–vergeblich–aufdessenNachfolge imBotanischenGartenspekulierthatte.3 DenVaterJohannReinholdForsterhatte

1 JohannGeorgSulzeranMartinKünzli,5.Juni1759,StudienbibliothekWinterthur,MsBRH 512/73,zit.nachElisabethDécultotundJanaKittelmann:Das18.JahrhundertimBriefformat.Zur KorrespondenzvonJohannGeorgSulzerundJohannJakobBodmer,in:JohannGeorgSulzer–Johann JakobBodmer.Briefwechsel.KritischeAusgabe,hg.vonElisabethDécultotundJanaKittelmannunter MitarbeitvonBaptisteBaumann(GesammelteSchriften,hg.vonElisabethDécultot,mitbegründetvon HansAdler,Bd.10/1–2),Basel,Berlin2020,IX–LI,hierXXVI.

2 Vgl.etwaAnnaLouisaKarschanJohannWilhelmLudwigGleim,29.Juni1762:«[A]berlaßenSie sichsagendaßkeineruntterSeinemfreundenmehrvonSeinem[gemeintistSulzer]Stillensannfften WesenEingenomenwardalsich.»(MeinBruderinApoll.BriefwechselzwischenAnnaLouisaKarsch undJohannWilhelmLudwigGleim,hg.vonReginaNörtemannundUtePott,Göttingen1997,Bd.1, 122).

3 SulzerhattezahlreicheÄmterundAufgabenimRahmenderBerlinerAkademieinne.UnteranderemwarernebenJohannGottliebGleditschfürdieVerwaltungdesBotanischenGartensverantwortlich.

Vgl.GeorgForsteranJohannKarlPhilippSpener,London,MitteAugust1778sowieGeorgForsters BriefanFriedrichHeinrichJacobi,23.April1779,indemersichauchkritischüberdie‹verstaubte›

Vorwort

SulzerimBerlinerJoachimsthalschenGymnasiumunterandereminMathematik unterrichtet.EinevonSulzerundAlbrechtvonHallerinitiierteExpeditionvon ChristlobMyliusnachNordamerikascheitertehingegenandemfrühenToddes Hauptprotagonisten.Mylius,vondessenReisesichSulzerneuenaturkundliche Erkenntnisseerhoffthatte,starb1754inLondon.

ObgleichSulzerdiemeisteZeitseinesLebensinderpreußischenHaupt-und Residenzstadtverbrachte,unternahmerfortwährendEntdeckungsreiseningeistigeKontinenteundLandschaften.ErbetratunbekanntePfade,erkundetekaum betreteneWege,erschlossneueRäume,brachte«LichtinsDunkel»4 undleistete schließlicheinenwesentlichenBeitragzurPhilosophie,Ästhetik,Kunsttheorieund PädagogikseinerZeit.AllerdingswarenseineUnternehmungenmituntertatsächlichheikelundnichtimmermitErfolggekrönt.DieerhoffteAnerkennungfürdie AllgemeineTheorie –immerhindaserstedeutschsprachigeästhetischeLexikon–bliebSulzerschonzuLebzeitenweitestgehendverwehrt.DiehartenundwirkungsmächtigenUrteileGoethes,HerdersundJohannHeinrichMercks,dieSulzerund mitihmeinerganzenGenerationanälterenAufklärernablehnendgegenüberstandenundöffentlichdenliterarischenFehdehandschuhhinwarfen,wirktenbisweit ins20.Jahrhunderthinein.Insbesondereder1772herausgegebeneKernaufsatz Sulzers«Künste,SchöneKünste»bargeinigesanSprengkraftundKonfliktpotenzial insich:vorallemfürGoethe,derSulzersAusführungenimDezember1772in den FrankfurterGelehrtenAnzeigen einemöffentlichenVerrissunterzogundihm vorwarf,dassersichmitderAufforderungzur«VerschönerungderDinge»einem «unbedeutende[n]»NachahmungsprinzipanschließeundmitseinergenuinaufklärerischenVorstellungderKunstalsWerkzeugnuraufeine«moralischeBesserung desVolks»ziele.GoethekanzelteSulzers AllgemeineTheorie als«theoretischeGaukelei»ab,dieamWesenderKunstvorbeigeht:«WervondenKünstennichtsinnliche Erfahrunghat»,schimpfteGoethe,«derlassesielieber.Warumsollteersichdamit beschäftigen?WeilessoModeist?Erbedenke,daßersichdurchalleTheorieden WegzumwahrenGenusseversperrt,denneinschädlicheresNichts,alssie,istnicht erfundenworden.»ÜberdemgriffGoetheSulzeralsAufkläreran,indemerihm nichtnurvorwarf,dasserseine«Lexikonsglieder»zusammengeleimthabe,sondern dieverschiedenenKünste,«alleauseinemLochedurchdasmagischeLichteines philosophischenLämpchens»ansehe.DieaufklärerischeLichtmetaphorik,mitder SulzerselbstgerninseinenBriefenoperierte,wurdevonGoethehierinsLächer-

BerlinerAkademieundüberdie«leeren,schalenKöpfe»und«Perücken-Stöcke»inderpreußischen Hauptstadtäußert.SulzerundJohannJoachimSpaldingwerdenbeiForsterallerdingspositivbeschrieben.(GeorgForstersWerke:sämtlicheSchriften,Tagebücher,Briefe,hg.vonderDeutschenAkademie derWissenschaftenzuBerlin,Bd.13(Briefebis1783),hg.vonSiegfriedScheibe,Berlin1978,Zitate: 199).

4 SulzeranMartinKünzli,8.Oktober1758,StudienbibliothekWinterthur,MsBRH512/73.Die FormulierungbezogsichaufnachgelassenePapierevonLeibniz,dieSulzerinderBerlinerAkademie entdeckteundordnete.

8ElisabethDécultotundJanaKittelmann

lichegezogen:«GotterhalteunsereSinneundbewahreunsvorderTheorieder Sinnlichkeit.»5 GoethesRezensionistnichtzuletztAusdruckeinerdistinktenund aggressivenPositionierungim(noch)nichtinstitutionalisiertenFeldderLiteratur unddesGeschmacks,beiderAkteurewieSulzerschließlichdenKürzerenzogen.

WährendBeiträgeausSulzers Theorie unterandereminFrankreichundItalien ÜbersetzungenundeinenichtunerheblicheBeachtungfanden,bliebseineWirkung imdeutschsprachigenRaumohnegroßenNachhall.AlsbeispielhaftfürSulzers WahrnehmungauchinspäterenEpochenkannGottfriedKellersUrteilim Grünen Heinrich gelten,derdasLexikonseinesLandsmanneszwaralsfaszinierendes,aber «längstobsoletgewordenesWerk»6 beschrieb.

DiezeitgenössischeKritikanSulzerließdabeiauchdieenormeVielfaltund thematischeBandbreitevondessenArbeiteninVergessenheitgeraten.Erstinden letztenfünfzehnJahrenistSulzerslangeZeitkaumbeforschtesWerkwiederverstärktindenwissenschaftlichenFokusgerücktworden.Mittlerweilekannman aufeinerelativgutbestellteForschungs-undEditionslandschaftblicken.Nach einemwegweisendenAufsatzvonWolfgangRiedelmitdemTitel«Erkennenund Empfinden.AnthropologischeAchsendrehungundWendezurÄsthetikbeiJohann GeorgSulzer»ausdemJahr19947 erschien2011dervonFrankGrunertundGideonStieningherausgegebeneSammelband JohannGeorgSulzer(1720–1779)–

AufklärungzwischenChristianWolffundDavidHume.2018folgtederebenfallsauf eineTagungzurückgehendeBandmitdemTitel JohannGeorgSulzer.Aufklärungim Umbruch.Seit2014läuftdieam InterdisziplinärenZentrumfürdieErforschungder EuropäischenAufklärung angesiedelte,vonElisabethDécultotherausgegebeneund vonHansAdlermitbegründeteEditionder GesammeltenSchriften JohannGeorg Sulzers.BislangsinddieBändezum KurzenBegriffallerWissenschaften,zuden ästhetischenundpsychologischenSchriften,zuDichtungundLiteraturkritiksowie derumfangreicheundauchalsdigitaleEditionverfügbareBriefwechselSulzers mitJohannJakobBodmererschienen.8 WeitereBändezurNaturkunde,zuden

5 [JohannWolfgangGoethe]:DieschönenKünsteinihremUrsprung,ihrerwahrenNaturund bestenAnwendungbetrachtet,vonJ.G.Sulzer.1772.8.85S.,in:FrankfurtergelehrteAnzeigen,101 (18.Dez.1772),801–807.Vgl.dazuauchElisabethDécultot:Sulzer,einAufklärer?,in:Dies./Philipp Kampa/JanaKittelmann(Hgg.):JohannGeorgSulzer.AufklärungimUmbruch,Berlin,NewYork2018, 1-13;JanaKittelmann:EmpfindsameVernunft.JohannGeorgSulzersKulturendesBriefes,Basel,Berlin 2023,380-398.

6 GottfriedKeller:DerGrüneHeinrich.Stuttgart1879,275f.

7 WolfgangRiedel:«ErkennenundEmpfinden.AnthropologischeAchsendrehungundWendezur ÄsthetikbeiJohannGeorgSulzer»,in:Schings,Hans-Jürgen(Hg.):DerganzeMensch.Anthropologie undLiteraturim18.Jahrhundert.DFG-Symposion1992,Stuttgart,Weimar1994,410–439.

8 Vgl.JohannGeorgSulzer:KurzerBegriffallerWissenschaften.Erste(1745)undzweite(1759) Auflage,hg.vonHansAdler.MiteinemBeitragzuLebenundWerkJ.G.SulzersvonElisabethDécultot (GesammelteSchriften,hg.vonHansAdlerundElisabethDécultot,Bd.1)Basel2014;JohannGeorg Sulzer:SchriftenzuPsychologieundÄsthetik,hg.vonElisabethDécultotundAlessandroNannini(GesammelteSchriften,hg.vonElisabethDécultot,mitbegründetvonHansAdler,Bd.2),Basel,Berlin2024; JohannGeorgSulzer:DichtungundLiteraturkritik,hg.vonAnnikaHildebrandtundSteffenMartus

Vorwort 9

Reiseberichten,pädagogischenundphilosophischenSchriftenstehenkurzvorder VeröffentlichungbeziehungsweisewerdenindennächstenJahrenfolgen.

DiewissenschaftlicheErforschungvonSulzersWerkundWirkungbleibtdemnachstetiginBewegungunderöffnetnichtzuletztdurchdieeditorischeErschließunghistorischerTextkorporaundunveröffentlichterMaterialienfortwährend neueBlickeaufdiesenletzten‹Weltweisen›Leibniz’scherPrägung.Anlasszueiner BestandsaufnahmeundPerspektiverweiterunggabder300.GeburtstagSulzersim Oktober2020.DiezumJubiläumgeplanteTagung«GelebteAufklärung.Johann GeorgSulzerimKontext»,ausderdiehierversammeltenBeiträgehervorgegangen sind,konntepandemiebedingtallerdingserstanderthalbJahrespäterimMai2022 inHalleanderSaalestattfinden.WährendsichfrühereTagungenvornehmlichauf Sulzersästhetische,philosophischeundkunsttheoretischeArbeitenkonzentrierten, solltehierexemplarischundineinzelnenFallstudiendaserweiterteSpektrumvon SulzersWerkindenBlickgenommenwerden.TatsächlichspiegelnsichinSulzers vielfältigem,facettenreichenundzahlreicheWissensgebieteumfassendenWerkästhetische,philosophische,kunsttheoretische,pädagogische,naturwissenschaftliche undliteraturkritischePositionen,DiskurseundDebattenderEpocheingeradezu beispielhafterArtundWeisewider.VordiesemHintergrundwilldieserBandSulzer unddessenŒuvresowohlimhistorischenKontextalsauchmitBlickaufaktuelle FragestellungenderForschung(z.B.Wissens-undSozialgeschichte,Praxeologie, Genderforschung,Briefforschung,Bildforschung)disziplinen-,medien-undgattungsübergreifenddiskutieren.UnterdemSchlagworteiner‹gelebten›Aufklärung, dasausdrücklichauchaufeineanthropologischeundpraktischeDimensionvon SulzersWerkzielt,rückendabeiBeiträgezueinzelnenQuellenbeständen,Schriften, Werken,Sammlungs-undBildobjektenebensoinsBlickfeldwieeineVerortung Sulzersingelehrten,kulturellenundsozialenPraktikenseinerZeit.Zudemstehen diesichinSulzersWirken,SchaffenundIdeeneröffnendenAnknüpfungsmöglichkeitenundSchnittstellenzugegenwärtigenThemenderAufklärungsforschungim Zentrum.

AufbauendaufderEditionsowieaufaktuellenForschungsfeldernund-ansätzendiskutierenWissenschaftlerinnenundWissenschaftlerverschiedenerFachrichtungenundDisziplinenunterschiedlicheAspektevonSulzersWerk.Nichtselten betretensiedabeiwissenschaftlichesNeuland,erschließenundbesprechenunveröffentlichteMaterialien,benennenundskizzierenDesiderate,füllenLückenund eröffnenneuePerspektiven.SosindeinigederBandherausgeberinnenundBandherausgeberderEditionindervorliegendenPublikationmitBeiträgenpräsent,in

(GesammelteSchriften,hg.vonHansAdlerundElisabethDécultot,Bd.7),Basel,Berlin2020;Johann GeorgSulzer–JohannJakobBodmer.Briefwechsel.KritischeAusgabe,hg.vonElisabethDécultot undJanaKittelmannunterMitarbeitvonBaptisteBaumann(GesammelteSchriften,hg.vonElisabeth Décultot,mitbegründetvonHansAdler,Bd.10/1–2),Basel,Berlin2020,sowiehttps://www.sulzerbriefe.uni-halle.de/sb.

10ElisabethDécultotundJanaKittelmann

denensieihrenichtzuletztimZugedereditorischenAuseinandersetzungmitSulzer gewonnenenErkenntnisseindieForschungslandschafteinspeisen.DenAuftakt machtRainerGodel,dersichSulzersVerortungimnaturforschendenKontextseiner ZeitunddamiteinembislangweitgehendunbearbeitetenThemawidmet.Neuland betrittauchSimonRebohm,derSulzersBeitragzurzeitgenössischenZoologiein denBlicknimmt.AnhandunveröffentlichterQuellengehtBaptisteBaumann,der mitGodel,RebohmundGunhildBergdenBandzudennaturhistorischenSchriften herausgibt,deninderMittedes18.JahrhundertsundauchvonSulzerdiskutierten TheorienderPräformationundEpigenesealsnaturphilosophischemProblemnach. FrançoiseKnopper,HerausgeberinderreiseliterarischenSchriften,widmetsich inihremBeitragunteranderemSulzersindenJahren1775und1776unternommenerReisenachSüdfrankreichundarbeitetdabeieineerstaunlicheModernität vondessenBlick-undDarstellungsweisenheraus,diemitunterbereitscinematisch anmuten.AnnikaHildebrandt,diegemeinsammitSteffenMartusden2020erschienenenBandzu DichtungundLiteraturkritik verantwortethat,spürtSulzers LiteraturkritikimKontextdes‹StreitsumdenReim›nach.JanaKittelmann,unter anderemMitherausgeberinvonSulzersBriefwechseln,beschäftigtsichmitSulzers (nahezunichterhaltengebliebenen)SammlungenunddessenSammlertätigkeit.

NebenunveröffentlichtenundweitgehendunbekanntenMaterialienrücken indeneinzelnenBeiträgenauchbislangnurwenigerforschteSchriftenindenVordergrund.DazugehörenetwaSulzers1750erschienene,vonderPhysikotheologie inspirierte UnterredungenüberdieSchönheitderNatur,dieunterandereminden BeiträgenvonJakobChristophHellerundKorbinianLindeleineintensivereBetrachtungerfahren.HellerwidmetsichSulzersSzenographienund‹Inszenierung› dertheoretischenwiederpraktischenErkenntnisvonNatur.Einewissenschaftliche TerraIncognita betrittauchLindel,derunteranderemamBeispielder Unterredungen erstmalsSkeptikerundGlaubenszweiflerimFrühwerkSulzersindenBlick nimmt.

IndieEntstehungszeitder Unterredungen fälltdasnichtrealisierte,aberim BriefwechselmitBodmervieldiskutiertefrüheZeitschriftenprojekt DerMädchenfreund,dessensichLuisaBankiannimmt.InihremBeitragarbeitetBankidie wenigersystematischpräsentierten,sondernvorallemsituativinpädagogische, literaturkritischeunddichterischeSchriftensowieinBriefeeingebettetenÜberlegungenSulzerszuweiblichemLesenundSchreibenheraus.DerjungeSulzer istebenfallsThemaimBeitragvonHans-JoachimKertscher,dererstmalsdessen Beziehungzumempfindsam-geselligenLaublingerKreisumdasEhepaarSamuel GottholdundAnnaDorotheaLangeakribischundquellenbasiertnachspürt.SulzersWirkeningelehrtenKreisenundinsbesonderedessenRollealsInformantvon Belangen,EreignissenundEntwicklungenderBerlinerAkademiegehenMoritzAhrensundDanielaKohleramBeispieldernureinseitigüberliefertenundmittlerweile

Vorwort 11

imRahmenderEditions-undForschungsplattform hallernet.org erschlossenen KorrespondenzmitAlbrechtvonHallernach.

EinemweiterenzentralenBereichvonSulzersTätigkeitsfeldernwidmensich RolandSpalingerundAnettLütteken,dieSulzeralsPädagogenindenBlicknehmen.

SulzerwarvieleJahrehauptamtlichalsProfessorfürMathematikamJoachimsthalschenGymnasiumtätigundverfassteindiesemRahmenzahlreichepädagogische Schriften,wiedie GedankenüberdiebesteArtdieclaßischeSchriftenderAltenmit derJugendzulesen oderdie VerordnungenundGesetze fürdasKöniglicheGymnasium.ImZentrumvonSpalingersBeitragstehtdiefürSulzerprogrammatische VerbindungeinertheoretischausgerichtetenÄsthetikmiteinerpraktischverankertenPädagogik.DabeikannSpalingernachweisen,dassSulzerinseinenSchriften nichtnurdasethisch-ästhetischeProfilderGeschmacksbildungerschließt,sondern dieseszudemgezieltinstitutionelleinzubindenvermag.AnettLüttekenwidmetsich derzeitgenössischenRezeptionundRelevanzvonSulzerspädagogischenSchriften.

ImGebietderKunsttheorie,BildgeschichteundÄsthetiksindschließlichdie BeiträgevonMaximilianBachundReimarF.Lacherangesiedelt.Bachbeschäftigt sichnähermitdemklassizistischenProfilvonSulzersästhetischerTheorieund verortetdiesenichtzuletztimliteraturpatriotischenKlassizismusderHaupt-und ResidenzstadtBerlin.ReimarF.LacherwidmetsichdemPorträtbeiSulzer,dermit seinemArtikel«Portrait»inder AllgemeinenTheorie einenwesentlichenBeitrag zurPorträttheorieseinerZeitgelieferthat.DanebengehörtSulzer–durchseine verwandtschaftlicheVerbindungmitAntonGraff–zudenamhäufigstengemalten PersonenderAufklärung.ReimarF.LacherverbindetinseinemBeitragAspekteder PorträttheorieundderkonkretenPorträtkunst.HirohitaMitaeröffnetschließlich eineParallelezwischenPorträtundGeschichtsschreibung,diesichalszentralfür SulzersanthropologischeHistoriographieerweistunddieaufEntwicklungendes 19.Jahrhunderts,etwaimWerkWilhelmvonHumboldts,hindeutet.

AbschließendseiennocheinigeWortedesDankeserlaubt.UnserDankgilt der AlexandervonHumboldt-Stiftung fürdiegroßzügigeFörderungderTagung. AndreaThieleunddenstudentischenMitarbeiterinnenundMitarbeiterndes InterdisziplinärenZentrumsfürdieErforschungderEuropäischenAufklärung seifürdie UnterstützungbeiderDurchführungderTagunggedankt.FürihreUnterstützung beiderredaktionellenBearbeitungeinzelnerArtikelmöchtenwirHannahVoß herzlichdanken.AusdrücklichdankenwirdenAutorinnenundAutoren,dieuns ihreBeiträgefürdiesePublikationzurVerfügunggestelltundsodasThemenspektrumzuJohannGeorgSulzerundzurEpochederAufklärungmaßgeblicherweitert habendürften.

DieHerausgeberinnenFrühjahr2024

12ElisabethDécultotundJanaKittelmann

1 SulzersNaturbegriffindenzeitgenössischenKontexten

Diewissens-undwissenschaftsgeschichtlicheMethodederKontextualisierungdefiniertdenzeitgenössischenKontextalsVerstehensbedingungeinesTextes.1 Im UnterschiedzurliteraturwissenschaftlichenRezeptionsforschungsollhierdemnach nichtdasVerhältnisvonTextenzueinanderaufMikroebenegranularbeschriebenwerden;imUnterschiedzurkulturwissenschaftlichenIntertextualitäts-oder TranstextualitätsforschunggehtesauchnichtumdiesemiotischeKonnotierung desVerhältnissesvonTexten.DagegenversteheichKontextualisierungalsanalytischenVersuch,FormationsregelnderDiskursezudiskutieren,alsodiejenigen Bestimmungsfaktoren,diebegrenzenodereröffnen,worübergesprochenwirdoder werdenkannzujegegebenenZeiten.2 Ichbehandlealso nicht odernursehram RandedieEbenedes«Whoquoteswhom»,sonderneinigeAuffälligkeitenund RegelmäßigkeiteninSulzersUmgangmitdemnaturforschendenKontextseiner Zeit.

DerFokusdiesesArtikelsliegtaufeinereherkleinen,charakteristischenAuswahlvonJohannGeorgSulzersSchriftenzurNatur.Esistdamitnichtintendiert, denNaturforscherSulzerinsgesamtzucharakterisieren.JanaKittelmannhatvöllig zurechtaufSulzersumfassendeNaturstudien,insbesonderezurBotanikalsSchüler vonJohannesGessner,hingewiesen.3 DiebiographischeEbenezieheichhierindes –aufgrundderdeutlichenDifferenzzwischenderpersönlichenundweitgehend privatenBeschäftigungmitNaturforschungundderKonzeptualisierungderNaturforschunginSulzersSchriftenfürinteressierteÖffentlichkeiten–lediglichalsIndiz fürdasVerstehenderpubliziertenTexteSulzersheran.

LorraineDastonhatinihremkleinenBändchen GegendieNatur (2018)drei Konzeptionenvon«Natur»unterschieden.Sienennterstensspezifische«Naturen». DiesebeschreibendasWeseneinesDingesalsdessen«Natur».4 DieseKonzeptionentsprichtcumgranosalisdem,wasErnstCassirerin DiePhilosophieder

1 Vgl.Miller/Jalobeanu2022,3–6zurausführlichenDiskussiondeskontextualisierendenZugangs inderWissenschaftsphilosophie.MillerundJalobeanubetonenauch,dassKontextualisierungzueiner GranularisierungderEinzelstudiengeführthabe.

2 AndieserStellefolgeichmitderDefinitionvonFormationsregelnals«Existenzbedingungen»in einemDiskurs,ohnedienormativenImplikationenFoucaultszuübernehmen.Vgl.Foucault1981,58.

3 Vgl.Kittelmann2018,254u.ö.

4 Vgl.Daston2018,15f.

SulzerimnaturforschendenKontextseinerZeit RainerGodel

Aufklärung alsKerndesNaturbegriffsderFrühenNeuzeitbeschrieb.Naturmeine,soCassirer,nichtein«SeinvonDingen»,sondernderNaturbegriffzieleauf «dieHerkunftundBegründungvonWahrheiten»undbetonedamitdeninneren ZusammenhaltderDingeundnichtdieExistenzeinesäußerenPhänomens.5 Als zweiteKonzeptionführtDaston«lokaleNatur(en)»an.Diesebezögensichaufdie BesonderheiteneinesOrtesundverwiesenaufdiejecharakteristischeKombination vonFloraundFauna,KlimaundgeologischerBeschaffenheit.6 DieIdeederlokalen Naturenhabeim17./18.JahrhundertdurchdieneuentstehendenTheorienüber dasGleichgewichtdernatürlichenSystemeAuftrieberhalten.CarlvonLinnésBegriffder«oeconomianaturae»grundiereletztlichdieseNaturkonzeption.7 Drittens schließlichdefiniere,soDastonweiter,dieEbenederuniversellenNaturgesetze eine«einheitlicheundunumstößlicheOrdnung,dieüberallgilt,immergleichist undeherneGesetzmäßigkeitenaufweist.»(Daston2018,37).Entscheidendfürden ErfolgderVorstellung,dassdieNaturvonGesetzenregiertwerde,sei,soDaston,die VorstellungvonGottals«göttlichemGesetzgeber»,derderNaturGesetzeauferlege wieeinabsoluterMonarchseinemKönigreich.8

BlicktmanaufdieVersuchedes18.Jahrhunderts,denNaturbegriffdefinitorischzufassenundaufdieserBasisdieErforschungderNaturzuorganisieren,so zeigtsichtrotzmancherUnschärfen,dassalledreiVariantenderNaturkonzeption, dieDastonanführt, gleichermaßen undoft gleichzeitig herangezogenwerden.Dies giltüberdiemethodischenundmedialenUmwälzungendersogenannten scientificrevolution hinweg,diesichwederdurcheinenabruptenWandeldesWissens nocheinkonsistentesVerständnisvonWissenschaftüberhauptauszeichnet.9 Wir wissenzumeinen,dasssichimVerlaufdes18.Jahrhundertsdiehistorischdeskriptive,beobachtendeoderauchexperimentierendeNaturkundevonderUrsachen suchenden,aberebenfallsempirischbasiertenNaturphilosophiemethodischwie systematischtrennte.SchondieKontroversezwischenRobertBoyleundThomas HobbesimUmfeldderfrühenRoyalSocietymanifestiertbekanntlich,wieSteven ShapinundSimonSchaffergezeigthaben,einenmethodischen,epistemologischen wiesozialenAusschlussderNaturphilosophieausderNaturforschung.10 DiesukzessiveEntwicklungderNaturforschungundNaturgeschichtezurNaturwissenschaft im18.JahrhundertkannmithinauchalseinProzessderAbgrenzungunterAnwendungvon–mitFoucaultgesprochen–Ausschließungsprozedurenskizziertwerden,

5 Cassirer1998,324.CassirerzeigteinegewisseKontinuitätdieserNaturkonzeptionvomspäten17. bisindas18.Jahrhunderthinein.Vgl.ebd.,330.DiemonothematischephilosophiehistorischePerspektivierunggehthierindesanderBreitederwissenschaftshistorischaufzeigbarenKonzeptualisierungen von«Natur»im17.und18.Jahrhundertvorbei.Vgl.dazuauchLeinkauf2005,1f.

6 Vgl.Daston2018,27.

7 Vgl.ebd.,32.Vgl.hierzuauchu.a.Ruppel2017,v.a.66–69undMorgenthaler2000,105f.

8 Daston2018,41.Vgl.zurEntwicklungdesNaturbegriffsindenWissenschaften,diesichmitder ErforschungderNaturbeschäftigen,einschlägigSpary1999.

9 Vgl.Shapin1998,9,12u.ö.

10 Vgl.Shapin/Schaffer1985.

14RainerGodel

wobeisichimZugeeinernachundnachstärkeruniversitärverankertenDisziplinbildungauchneueKommunikationszusammenhängeundFachmedien,einspezifisch naturwissenschaftlichesMethodenset,abgegrenzteProblemstellungen,vorwiegend empiristischeEpistemologien,standardisierendeLehrbücher,akademischeInstitutionalisierungenundRekrutierungswegedurchsetzen.11 TeildiesesProzesses ist–aufdieAkteureinderNaturforschungbezogen–einesukzessiveProfessionalisierung,mittelsderersich,etwadurchdieAusbildungvonFachzeitschriften vorwiegendinderzweitenHälftedesJahrhunderts,Fachdiskurseausbilden,die sichvonallgemeinerenDiskursenderbreiterenÖffentlichkeitundvoninteressiertenAmateurforschernabgrenzen.SoentstehtzusehendseinHiatuszwischen Akteuren(undsehrwenigenAkteurinnen),diesichaufderBasisdersichentwickelndenStandardsderWissenschaftlichkeitbewegen,unddenen,derenInteresse fürdieNatursichnichtaufderselbenmethodischenBasismanifestiert.Vieleder aufschlussreichstenKontroversendes18.JahrhundertslassensichimÜbrigenals KonfliktezwischenaufklärerischenWissens-undWissenschaftsansprüchenund aufklärenden,aufeinbreiteresPublikumzielenden,literarischen,philosophischen oderästhetiktheoretischenPublikationsinteressenbeschreiben.12

DochbestehtkeinGrund,indieNaivitätnaturwissenschaftlicherFortschrittsgeschichtezurückzufallen,wissenwirdochumdie‹GleichzeitigkeitdesUngleichzeitigen›unterschiedlichsterMethodenundEpistemologien,wissenwirdochdank praxeologischerZugängeumdenBeitragder«invisiblehands»fürnaturwissenschaftlicheLabore,ExperimenteundBeobachtungen,wissenwirdochschließlich auchuminternationaldurchausunterschiedlicheEntwicklungen,auchundgerade inHinblickdarauf,welcheKontextefürdieNaturforschungundNaturwissenschaft relevantwurden.UndindieserHinsichtmussvorallem–mitBlickaufSulzer,aber auchmitBlickaufdenErklärungsanspruchderaufklärerischenNaturforschung insgesamt–derKontextderReligiondiskutiertwerden.Geradeininternationaler Perspektivewäreesunzutreffend,dieRelationzwischenNaturforschungundReligionzustarkaufdenEinflussphysikotheologischerÜberlegungenzubeschränken.13

FürdendeutschsprachigenKulturraumallerdingsistdiePhysikotheologiefürviele FormeneinererkenntnisorientiertenBeschäftigungmitNaturmitentscheidend.14 Soüberraschtesdennauchnicht,dassZedlerdasLemma«Natur»im23.Band von1740miteinertheologischenGrundierungbeginnt,alsoderjenigenbegrifflichenEbene,dieDastonalsdiederuniversellen,vonGottgegebenenNaturgesetze

11 Vgl.Stichweh1994,17zuKriteriendesDisziplinbegriffs.

12 Vgl.indiesemSinnezurKontroversezwischenAlbrechtvonHallerundLaMettrieGodel2013a.

13 Vgl.zumVerhältnisvonReligionundWissenschaftinderFrühenNeuzeitgrundlegendBrooke 1991(undweiterePublikationenBrookes,KritikundWeiterführung)sowieFeldhay2009füreinen informiertenÜberblick.

14 EsisthiernichtderOrt,diebreiteDebatteumBestimmung,ReichweiteundPraktikender Physikotheologiezuführen.EsseinurexemplarischverwiesenaufTrepp2009,Trepp2020,vonGreyerz 2021u.a.

SulzerimnaturforschendenKontextseinerZeit 15

beschreibt.«Dennerstlichverstehetmandarunter[derNatur,R.G.]GOtt,alsden UrheberdergantzenWelt[...]»(Zedler1740,Sp.1035)–wobeimansichaber vorspinozistischenIdentifikationenGottesmitseinenGeschöpfenzuhütenhabe.

Zweitens:«VorsanderebeziehensichdieBedeutungendiesesWorts,zumTheil aufdieGeschöpffe,sowohlinAnsehungihrerExistentz[...]alsihrerBeschaffenheitzugleich[...]»(ebd.,Sp.1035f.).DieallgemeineNaturzeige«dieinnerliche BeschaffenheitdernatürlichenDinge»(ebd.,Sp.1036).Undschließlichhabe,so lesenwirbeiZedlerweiter,nebendemVerständnisderNaturinHinblickaufden «physischenVerstand»dasWortauch«inAbsichtaufdenMenscheneinemoralischeBedeutung».DenndieserhabeeinedoppelteNatur,«einephysischeund[eine] moralische»(ebd.,Sp.1037).

SulzersNaturkonzeptionist–analogzuZedlersadditiverDiversität–zwar grundlegendstarkvonphysikotheologischenKonnotationengeprägt,dochkann diesekaumalsinallenTextenSulzerskonsistentunddurchgängigeinheitlichbestimmtaufgefasstwerden.SulzeristkeinSystematiker,sondernerakzentuiert jeweilsandereAspektedermöglichenNaturverständnisseinHinblickaufdiejeweiligenKontexte,ohnedabeiseinspezifischesErkenntnisinteresseausdenAugen zuverlieren.15

Schonim KurzenBegriffallerWissenschaften (1745)schließtSulzerdenNaturbegriffinnerhalbwenigerWortephysikotheologischmitderTheologiekurz:

Diese[dieNatur-Historie,R.G.]betrachtetalleDinge,welchedieNaturhervorbringt, undistfolglicheinesehrschöneSache.Undweilalles,wasdieNaturhervorbringt, nachdenunendlichweisenRegelngemachtwird,welchederallmächtigeSchöpfer derNaturvorgeschriebenhat,soisteinjedesGeschöpfeinAbdrukderMachtund Weisheitdesselben.DerowegenkanndieNatur-HistorieauchalseineHistorieGOttes angesehenwerden[...](Sulzer1745/2014,§33,15)

SulzersGewährsleute,dieerandieserStellefürdiesesNaturverständnisanführt, wieJohnRay,WilliamDerham,BernardNieuwentijt,vermutlichJohannAlbert FabriciusundFriedrichChristianLesser,verbindetnichtnurihrempirischesVorgehen,wieimKommentarzuBand1derSulzer-Ausgabevermerkt,16 sonderndie ListeliestsichwieeinWhoiswhoderPhysikotheologiedes17.und18.Jahrhunderts.AlleGenanntenhätten,soSulzer,«dieNatur-Historieinsbesonderezudiesem edelnEndzweckbetrachtet»,nämlichgute«BegriffevondemhöchstenWesen»zu gewinnen(Sulzer1745/2014,§33,15).SimonRebohmhatzurechtdaraufhinge-

15 ElisabethDécultothatimZusammenhangihrerAnalysevonSulzers«SystemderschönenKünste» detailliertaufgezeigt,wieSulzers«Systeme»sichsukzessiveweiterentwickeln,wobeierletztlichversucht, die«verschiedenenchronologischenStadienseinesKunstdenkens[..]zusammenzuhalten».Diessei mithinkein«‹eklektizistisches›DenkenimeigentlichenSinne»,sondernErgebniseinerEntwicklung.Vgl. Décultot2011,225.EineähnlicheDiagnosesuchtdieserArtikelfürSulzersNaturforschungaufzuzeigen.

16 Vgl.Sulzer1745/2014,190.

16RainerGodel

wiesen,dassinderzweitenAuflagedes KurzenBegriffs (1759)dietheologischen Bezügestärkereingeschränktsind,aberbeiderZoologienochausdrücklicherwähntwerden.17 InderganzenNaturseinichts,soSulzer,«woranmanaufeineso lebhafteundsoüberzeugendeWeisedieAllmachtundalleBegriffeübersteigende WeisheitdesunendlichenSchöpfersinsounzähligenBeyspielenbewundernkann, alsdieBetrachtungderThiere.»(Sulzer1759/2014,§173,123)

EssollnichtderAnscheinerwecktwerden,alskönnemaneinendurchgängig konsistentenNaturbegriffodereinestetsdeckungsgleichbeschreibbareMethodik beiSulzerkonstruieren.SulzersNaturbegriffundNaturverständnisbleibenkeineswegskonstant,undsiechangierenzwischenderBegriffsbestimmungundden intendiertenAbleitungen.18

WeiterentwicklungenundVeränderungenprägenetwaauchSulzersAnleitung zurNaturbeobachtung.Inder BeschreibungeinigerMerckwürdigkeiten definierter 1747gleichsamalsAnleitungfürdenSchweizerReisendennochfünfBeobachtungsbereiche,indersichdieNaturzeige:«1)inderGestaltung,unddemBauder Erdeüberhaupt,2)inderVermischungdersogenannten4.cörperlichenElemente, 3)inHervorbringungderbesondernArtenderSteineundMetallen,4)inBildung derPflanzen,und5)derThiere.»(Sulzer1747,10f.).ImKurzenBegriff (1745)sollte Sulzerdannnurnochvier«Haupt-GeschlechterdernatürlichenDinge»aufführen, ausdenensichvier«Haupt-TheilederNatur-Historie»ableitenließen.Gestaltung undBauderErdefehlenhier.19 Inden UnterredungenüberdieSchönheitderNatur (1750)lässtSulzerdannauchdieVier-Elemente-Lehreausundbeschränktsich letztlichaufdie«leblosenDinge»,diePflanzenunddieTiere.20 Nunsollhiernicht eingewendetwerden,dassdiediversenKonzeptualisierungenderzuerforschenden NaturobjektebeiSulzerstetsnuraufderOberflächedeszeitgenössischenWissensstandesbleiben,undzwarsowohlinHinblickaufdiezeitgenössischenDebatten zurSystematisierungderNaturreichealsauch–unddasistSulzersersterAnsatz inderSchweizerreise–inHinblickaufeinengeordnetenBlickdesNaturforschers aufReisen.21 IchverstehedieseunterschiedlichenKonzeptualisierungenimmer vordemHintergrunddersichwandelndenErkenntnisinteressenSulzers.Beider AnalyseseinernaturforschendenSchriftenistesdaherzentral,SulzersArgumentationindenjeweiligenKontextderEntwicklungseinesNaturverständnissesund produktionsästhetischinSulzerswechselndeZielvorstellungeneinzuordnen,dieer mitdenTextenjeweilsverfolgt.DennochbleibteinegewisseSpannungzuSulzers ofterhobenemAnspruchaufSystematisierungoderaufdienormativeIdeeder Ganzheitlichkeitbestehen.

17 Vgl.hierzudenArtikelvonSimonRebohmindiesemBand.

18 Vgl.Heller2017,259u.ö.

19 Vgl.Sulzer1745/2014,§34,15.

20 Vgl.Sulzer1750,57.

21 Vgl.zumletzterennochimmereinschlägigStagl1983.

SulzerimnaturforschendenKontextseinerZeit 17

SchonfrühsuchtSulzerAnschlussanSystematisierungenundStandardisierungen.Sopropagiertundannotierterbereits1741imZusammenhangseiner KurtzenAnleitungzunuzlicherBetrachtungderSchweitzerischenNatur-Geschichten Linnés«Anleitung,nachwelchereinNaturforscherdieHistorieeinesjedennatürlichenDingesgenauundmitgutemFortgangverfertigenkann».22 Einesscheint beiallenVeränderungenvonSulzersNaturverständniskonstant:dienormative Ideeder(systemischgedachten)Ganzheitlichkeit.«Essind[...]alleBegebenheitenderNatursoengemiteinanderverbunden,daßallemaleinedieFolgeoder dieWürckungeinerandernist»(Sulzer1747,10),heißtesinseinemSchweizer Reisebericht.Diese«Ganzheitlichkeit»führtSulzerzurückaufGottesSchöpfung. Siestehtfürdie«Regeln»unddie«Ordnung»–sodieZentralbegriffeSulzers–, mithinfüreinevorgängigeNormativität,diedieNatur,vonGottgegeben,alsin sichkonsistenterscheinenlässtunddieuniversaleundzeitübergreifendeGültigkeit hat.DerGedankederRegelhaftigkeitundderOrdnungprägtauchnoch30Jahre späterSulzersArtikel«Natur(SchöneKünste)»inseiner AllgemeinenTheorieder SchönenKünste (1774):

ManpflegtdieganzeSchöpfung,dasganzeSystemderinderWeltvorhandenenDinge, insofernmansiealsWürkungenderinderselbenursprünglichvorhandenenKräfte ansiehet,diedurchkeinenurinbesondernFällensichäußerndeUeberlegung,zu besondernAbsichtengeleitetworden,mitdemNamenderNaturzubelegen,und verstehetbaldjeneursprünglichenKräfteselbst,baldaberihreWürkungendarunter. (Sulzer1774,809)

DerGedankederOrdnungundderRegelhaftigkeitderNaturistes,deresnach Sulzererlaubt,eineTheoriederKunstausdem«VerfahrenderNatur»abzuleiten.23

DerOrdnungsbegriffscheintandieserStelle–imRahmenderNaturkonzeption Sulzers–zunächsteinquasi-empirischerBefund,dersichdurch«Beobachtung» (ebd.)ausderNaturselbstableitenlässt.Esseihierschonvorweggenommen,dass sichderOrdnungsgedankeaufdemWegseinermetaphysisch-religiösenAufladung zueinemnormativenBegriffentwickelt.

2 MethodischeZugängeSulzerszurNatur

Inder BeschreibungeinigerMerckwürdigkeiten (1747)diskutiertSulzerausdrücklich imVorberichtdiemethodischenGrundlagenseinesVorgehens,dieerengandenfür seineNaturdefinitiongrundlegendenOrdnungsbegriffkoppelt.DerNaturforscher habe,soSulzer,aufdie«OrdnungundMethode»(Sulzer1747,7)zuachten.Sulzer gehtdabeivonderempirischenBeobachtungaus,zieltallerdingsaufdieUrsachen,

22 Vgl.Sulzer1741,Kittelmann2018,256f.

23 Sulzer1774,Art.Natur,809.Vgl.dazuauchKittelmann2018,257f.

18RainerGodel

alsoaufeineretrospektiveundsomithistorischeErforschungderEntwicklungder Natur:

EinemNatur-Verständigenliegtob,dieWürckungenderNatur,diewiralleTagevor Augensehen,zuerklären,dasist,zuzeigen,wieeszugehet,daßdieNatursolche Würckungenhervorbringt;Unddaistganzklar,daßhiezukeinsichererWegist, alsdaßmanaufdievorhergehendenWürckungenderNatur,welchedieendliche Würckung,diemanerklärenwil,hervorgebrachthat,genauAchtunggebe-[...](ebd.)

ErgehtalsovomempirischErfahrbarenaus,umimAnschlussdaranretrospektiv zuerforschen,waszudiesemBefundgeführthat.DiesentsprichtdervonFrancis BaconproklamiertenzeitlichenundhierarchischenRangfolgenaturforschender Methoden:Zunächstmüssedie naturalhistory aufempirischerBasisWirkungen verzeichnen,understdannseiesAufgabeder naturalphilosophy,verlässliches WissenüberdieKausalstruktur,ausderdieseWirkungenhervorgegangensind, zusammenzutragen.24 Sulzerwarntgleichzeitigdavor,hierzuspekulativzuwerden: «WerdemnachdenNameneinesNaturforschersverdienenwill,dermußauch dieNaturzuseinereinzigenLehrerinannehmen,undseinemVerstandnichts zutrauen.»(Sulzer1747,8f.).DieNaturistObjektundmethodischerMaßstab.25

MethodenfragensindfürSulzeroffenbarhochrelevant;welcheMethoden nutztSulzernuntatsächlichinseinenSchriftenzurNatur?

2.1 ExperimentierenundMessen

WennSulzerproklamiert,die«NaturzuseinereinzigenLehrerin»anzunehmen,entsprichtdieseempirischeOrientierung–wiebekannt–denmodernerenTendenzen inderEntwicklungderNaturwissenschaftenimobenbeschriebenenSinne.Diesist Sulzerdurchausbewusst.Erkonstatiertschonim KurzenBegriffallerWissenschaften zeitgenössischeinerapideEntwicklungderWissenschafteninsgesamtundder NaturforschungimBesonderen:«ManentdecketganzneueWissenschaften,man erfindetRegeln,durchwelcheeinerimStandeistunzehligeDingezuentdecken, welchesdieAltennichtkonnten,jamanzwingetdieNaturunzehligeDingezu thun,diesievonsichselbstnichtwürdegethanhaben.»(Sulzer1745/2014,§12, 8).Die«ExplosiondesWissens»,dieVerbreitungundVernetzungneuerWissens-

24 Vgl.Shapin1998,102.BödekererkenntinSulzersKurzemBegriff einevergleichbareArbeitsteilung: vgl.Bödeker1996,331.

25 EinesolchedoppelteFunktionalisierungderNaturalsBeobachtungsobjektundmethodischselbstevidenteAnleitungistzeitgenössischkeineswegsunüblich.Vgl.auchHeller2017.InseinerBiographie vonAlbrechtvonHallerrekurriertJohannGeorgZimmermannimRahmenseinerKonzeptualisierung derNaturwahrheitdarauf,dasseralsBiographnichtnurdurchdieeigeneempirischeKenntnisseines Objektes(Haller)verlässlicheKenntnisaufweisenkönne,sonderndasserauchdasempirischeVerfahren vonseinemObjektselbstübernommenhabe.Vgl.dazuGodel2013b.

SulzerimnaturforschendenKontextseinerZeit 19

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