Die Schweizer Armee im Zeitalter der Illusionen
1990–2023
Schrittweiser Niedergang der Verteidigungsfähigkeit
Mauro Mantovani
1990–2023
Schrittweiser Niedergang der Verteidigungsfähigkeit
Mauro Mantovani
Schrittweiser Niedergang der Verteidigungsfähigkeit
Schwabe Verlag
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Abbildung Umschlag:Schweiz, Zürich, Heureka Skulptur. Quelle:Westend 61 GmbH /Alamy Stock Foto.
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Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5155-0
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5156-7
DOI 10.24894/978-3-7965-5156-7
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4Der
Si vis pacem, para bellum!
Als Frucht eines Sabbaticals legt uns Dr. Mauro Mantovanieine sorgfältig recherchierteund gut strukturierte Analyse der seit Beginn der 1990er Jahre durchgeführten Armee-Reformen vor. Für diese überzeugende wissenschaftliche Leistung danke ich Dr. Mantovani. Seiner Arbeitgeberin MILAK danke ich für die dem Autor eingeräumteForschungsfreiheit.
Unter dem Eindruck des barbarischen russischen Feldzugs gegen die Ukraine hat der deutsche Verteidigungsminister Pistorius (SPD)sein eigenes Land und die Bundeswehr als «nicht kriegstüchtig» bezeichnet.Seit dem 24. Februar 2022 ist offensichtlich, dass die Streitkräfte der westeuropäischen Staaten und auch die Schweizer Armee nicht kriegstauglichsind. Für die Schweiz betrifft diese Diagnose aber keinesfalls nur die Armee;auch der Bevölkerungsschutz, die wirtschaftliche Landesversorgung und die Aussenpolitik sind für die Zukunft wieder auf die Landesverteidigung auszurichten. Darüber braucht es ein realistisches Verständnis der Neutralität als Überlebensstrategie unseres Landes.
Mantovanis Schrift kommt als Weckruf hoffentlich nicht zu spät. Zu wünschen ist, dass die sicherheitspolitischen Akteure in Bund und Kantonen sowie die Armeeführung Mantovanis Erkenntnisse verinnerlichen, bevor sie den (Wieder‐)aufbau der Wehrbereitschaft unserer Armee an die Hand nehmen. Diese Arbeit ist für die Schweiz von existenzieller Bedeutung und soll es der Armee ermöglichen,ihren in der Bundesverfassung verankerten Kernauftrag wieder zu erfüllen:die Verteidigung unseres Landes. Oder ganz klassisch und einfach ausgedrückt: Si vis pacem, para bellum!
Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, Militärdirektor des Kantons Aargau Aarau, im Mai 2024
Jean Tinguely, kinetische Plastik «Heureka»amZürichhorn, 1963/1964
Titelbild des Schlussberichts zur Armee-Stabsrahmenübung «STABILO DUE»vom September 2012, Bundesarchiv:E5900–01#2015/173#163*.
Die Jahre 2022 und 2023 sahen den Abschluss der vierten Reform der Schweizer Armee seit Ende des Kalten Krieges. Gleichzeitig veränderte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 das strategische Umfeld der Schweiz tiefgreifend und wohl irreversibel. Dazu gehört, dass der Verteidigungsauftrag bzw. die (Wieder‐)Erlangung der Verteidigungsfähigkeit europaweitwieder unbestritten im Zentrum der Streitkräfteentwicklungsteht. Vordiesem Hintergrund sollen die Reformschritte der Schweizer Armee seit 1990 und insbesondere ihre Fähigkeiten, einen bewaffneten Angriff abzuwehren,kritisch reflektiert werden.
Die «Transformation»der Schweizer Armee nach 1990 ist seit Jahren ein zentraler Gegenstand des Unterrichts der Dozentur Strategische Studien an der Militärakademie an der ETH Zürich. Es sei an dieser Stelle den vielen Lehrgangsteilnehmern gedankt, die mit ihren Präsentationen und Diskussionsbeiträgendas Verständnis für die hochkomplexen Zusammenhänge zwischen der politischen Führung und der militärischen Organisation, Doktrin, Ausrüstung und Ausbildung in der Schweizer Armee insgesamt und in ihren jeweiligen Truppengattungen geschärft haben. Sie haben auch wertvolle Hinweise zur Methodik der Streitkräftetransformation gegeben, mit welcher an meiner Dozentur gearbeitet wird. Ein Beispiel für die Anwendung dieser Methodik findet sich im Anhang mit der Transformation der Schweizer Luftwaffe 1990–2022.1
1 Vgl. Mauro Mantovani, Ralf Müllhaupt, «Analysing armed forces transformation: methodology and visualization», in: Defense &Security Analysis [2020], DOI:10.1080/ 14751798.2021.1959731. Vgl. auch Mauro Mantovani, Sahra Strizzolo, David Hager, Ralf Müllhaupt, «Streitkräfteentwicklung:Analysemethodik und Visualisierung», in: Military Power Revue der Schweizer Armee (MPR),2/1991, S. 20–33.
Die vorliegende Arbeit entstand als Teil meines Forschungs- und Studienaufenthalts, den ich im Kalenderjahr 2022 erleben durfte. Ich danke der Höheren Kaderausbildung der Armee, dass mir dieses Sabbatical ermöglicht wurde. Für den äusserst gewinnbringenden Gedankenaustausch über frühere Versionen des Manuskripts danke ich insbesondere Dr. Christian Catrina, Dr. Robert Diethelm, Prof. Dr. Rudolf Jaun, Privatdozent Dr. Alexander Krethlow, Korpskommandant a. D. Simon Küchler, Dr. Reto Müller, Divisionär a. D. Paul Müller, lic. phil. Bruno Rösli, Oberstleutnanta.D.Dr. Rudolf P. Schaub sowie Oberst a. D. Heinrich L. Wirz. Auch meinen Mitarbeitern an der MILAK, M.A. Andrea Erny, Dr. Marcel Berni, M. A. Roman Knubel, M. A. Jann Rüter und M. A. Michel Wyss danke ich für wertvolle Hinweise. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Werkes liegt jedoch allein bei mir. Die Publikationerfolgt losgelöst von meiner Anstellung an der MILAK bzw. des VBS.
Dr. Mauro Mantovani, Dozent Strategische Studien, MILAK an der ETH Zürich, Ende Juni 2024
Seit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 ist die Schweizer Armee tiefgreifend umgestaltet worden. Dies manifestierte sich in mehreren Armeereformen, welche die Bestände reduzierten und die Strukturen anpassten, aber auch durch eine Reihe von zwischenzeitlichen Doktrinanpassungen, Veränderungen von Beständen, Beschaffungsentscheiden und Ausserdienststellungen von Material. Sie betrafen hauptsächlichden Verteidigungsauftrag, also die Fähigkeitder Schweizer Armee, einen bewaffneten militärischen Angriff abzuwehren.Diese «Kernkompetenz»bildet die zentrale Legitimation, ja raison d’être von Streitkräftenund steht im Zentrum des Interesses der vorliegenden Arbeit.
Die «Kernkompetenz Verteidigung»2 wurde seit dem Ende des Kalten Krieges im Ganzen verringert, was sich in den militärischen Doktrinen, also den Einsatzgrundsätzender Armee3,inder Organisationsstruktur, in der «Ressourcierung», also der personellen Alimentierung,Finanzierung, Ausrüstung und Bewaffnung, aber auch in der praktischenAusbildung, insbesondere von Kadern und Verbänden äusserte. Die Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee wird heute, vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine,besonders auf bürgerlicher Seite als ungenügendwahrgenommen und hat zur Erhöhung des Kreditrahmens für die Armee geführt.
2 Nominell sind die Aufgaben der Armee in der Bundesverfassung, Art. 58, gleichgestellt. Vonder Verteidigung als «Kernfähigkeit»der Armee wird spätestens seit dem Reglement Operative Führung XXI,Ziffer 42, gesprochen.
3 Das Verständnis von Doktrin folgt der Definition des Reglements Taktische Führung 95: «Gesamtheit der im Hinblick auf die Umsetzung der sicherheitspolitischen Zielsetzungen von der Armee befolgten Einsatzgrundsätze.» (TF 95, Anhang, S. 4).Vgl. auch das Armeeleitbild XXI,S.992:«Die militärische Doktrin […]definiert eine gemeinsame Sicht der Prinzipien, nach denen die Armee eingesetzt wird, und ermöglicht dadurch auf allen Stufen eine einheitliche und trotzdem flexible Führung.»
Bundesrat und Parlamentwollen bis 2035 die Ausgaben für die Landesverteidigung von heute 0,7 auf 1Prozent des Bruttoinlandproduktes erhöhen, wobei die Kooperation mit der Nato verstärkt werden soll. Das diesbezügliche Meinungsspektrum hat sich in bemerkenswerter Weise verschoben.4
Mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit beleuchtet diese Arbeit also die vier Armeereformen seit 1990:die «Armee 95», die «Armee XXI», den «Entwicklungsschritt 08/11»(ES 08/11) und die unlängst für abgeschlossen erklärte «Weiterentwicklung der Armee»(WEA). Ihnen gemein ist die schrittweiseReduktion der Dienstdauer der Armeeangehörigen und der Anzahl Verbände (Truppenkörper). Im Hauptteil der Arbeit sollen zunächst die wesentlichen Eckwerte dieser Reformschritte genannt und die offiziellen Beweggründe für die Änderungen gegenüber der vorhergehenden Armeeorganisation dargelegt und kritisch bewertet werden.
Die Arbeit will auf knappem Raum eine Übersicht der Entwicklungen einer Grossorganisation über mehr als drei Jahrzehnte geben und kann deshalb nicht alle Weichenstellungen berücksichtigen, geschweige denn erklären. Die Verantwortung für einzelne Entscheide zuzuweisen,stösst zudem auf eine grundsätzliche Erschwernis:Die Schweiz ist eine Demokratie, die auf Stabilitätund breite Konsensbildung ausgerichtet ist. Zu diesem Zweck ist die Eidgenossenschaft auf allen politischen und auch militärischen Stufen hochgradig partizipativ aufgebaut – «Konkordanz» durchdringt das System Schweiz. Dies bedeutet auch, dass zahlreiche Anspruchsgruppen mittels mehrstufiger Konsultationsverfahren («Vernehmlassungen») in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Eine Folge dieser politischen Kultur ist, dass Regierungspapiere allgemeine Ziele und breit formulierte Absichtserklärungen enthalten. Dies gilt auch für die Sicherheitspolitik, wo sich dieses Streben nach Konsens etwa in den Sicherheitspolitischen Berichten niederschlägt. Auf militärischer Stufe ist von «operativem Dialog»die Rede, welcher nicht nur den «Aktionsplanungs-»und den «Aktionsführungsprozess»bestimmt, sondern auch der Verabschiedung von Reglementen und Be-
4 Für 2023 und 2024 wurde der Kreditrahmen für die Armee um jeweils 300 Mio. Franken erhöht. Die geplante Erhöhung der Verteidigungsausgaben bis 2035 steht indessen auf tönernen Füssen, weil diese Ausgabekategorie «ungebunden»ist und wegen der Schuldenbremse, die den Abbau bei anderen Bundesausgaben oder aber Steuererhöhungen erfordern würde.
fehlspaketen vorausgeht.5 Kurzum, die Entscheidungsprozesse sind letztlich undurchsichtig. Nur ausnahmsweiselässt sich erkennen, wer welche Entscheide vorangetrieben hat. Personalentscheide entziehen sich gar vollständig einer historischen Ergründung.6
Diese Arbeit beschränkt sich deshalb darauf, die treibenden Kräfte zu ermitteln und die wichtigen Entscheidungen, d. h. solche mit Kostenfolgen für die Steuerzahler, zu erhellen. Sie erwähnt aber auch einzelne gescheiterte Vorhaben, dann nämlich, wenn diese von Relevanz für die weitere Armeeentwicklungwaren oder auf die Bedrohungswahrnehmung rückschliessen lassen.
Die Informationslage für die gewählte Fragestellungist gleichsam uferlos und zwingt zur Einschränkung. Die Studie basiert grundsätzlich auf vier Pfeilern:AmtlichenPublikationen des Bundesrates und der Armeeführung, Parlamentsdebatten sowie wissenschaftlichen Werken, zumeist Monographien und Dissertationen, vereinzelt aber auch Fachartikel und Memoiren, die oftmals eine erhebliche Distanz zur Verwaltung und Armeeführung aufweisen. Neben der Fachliteratur stehen der Forschung neuerdings auch Primärquellen aus dem Schweizerischen Bundesarchiv zur Verfügung:Neben den diplomatischen Dokumenten,die mittlerweile bis 1993 publiziert sind (Projekt DoDiS), konnten auch unveröffentlichte Archivakten (auf Stufe Bundesrat und Armeeführung)ausgewertet werden.Dabei zeigte sich, dass die Sperrfrist von dreissig Jahren mithilfe von Gesuchenzum Teil beträchtlich unterschritten werden kann. Besonders wichtig für die vorliegende Studie waren namentlich die Sitzungsprotokolle der Kommission für Militärische Landesverteidigung bis 1995, Studien und Sitzungsakten aus dem Projektteam Armee XXI bis hin zu Akten aus der Amtszeit des Chefs der Armee von 2009 bis 2016, André Blattmann (s.das Quellenverzeichnis).
5 Zu den verschiedenen Dialogen der operativen Führungsstufe vgl. etwa das Reglement Operative Führung 17,Ziffer 35.
6 Als Beispiel für die Intransparenz von Entscheidungsprozessen in sicherheitspolitischen Fragen sei auf den Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen (GPK)der Eidg. Räte vom 26. Januar 2017 über die Sistierung des Projekts «Bodengestützte Luft-Verteidigung (BODLUV)2020» verwiesen. Die GPK beurteilten nach uneingeschränkter Akteneinsicht und eingehender Befragung der Beteiligten den Sistierungsentscheid als «weder sachlich noch politisch nachvollziehbar.» Vgl. Kap. 5.4.
Wegen der Nähe zur Gegenwart und des eingeschränkten Zugangs zu Archivakten konnte die historische Forschung erst vor wenigen Jahren beginnen, sich mit der Entwicklung der Schweizer Armee seit dem Ende des Kalten Krieges zu beschäftigen. Herausragend ist hier die Dissertation von Jens Malte Amrhein aus dem Jahr 2017: Die Restrukturierung der Schweizer Armee 1984 – 2003:Auseinandersetzung um Armeeaufträge und Kampfkonzepte. Amrhein analysiertdie Entwicklung der Kampfdoktrin und das Aufkommen des Friedensförderungsdienstes als erster mit teilweisem Zugang zu Archivquellen. Eine wertvolle Grundlageder vorliegenden Arbeit sind auch die Dissertationen von Marc Andrew Lutz (2017), Akteure und Semantiken der Schlüsselakteure auf den öffentlichen politischen Arenen 1990 – 2003,sowie von Fritz Kälin (2018), Die schweizerische«Gesamtverteidigung». Totale Landesverteidigung im Kalten Krieg als kleinstaatliche Selbstbehauptungsstrategie im 20. Jahrhundert,die allerdings beide auf die politisch-mediale Debatte fokussiert sind. Wichtig ist ferner Rudolf Jauns Überblickswerk von 2019, Geschichte der Schweizer Armee. Vom17. Jahrhundert bis in die Gegenwart,wobei speziell die letzten drei Kapitel zu nennen sind. Bei diesen stützt sich das Werk weitgehend auf Amrhein und Lutz, geht allerdings zeitlich über diese hinaus, indem sie die Armeeentwicklung bis zum Start des Reformprojektes WEA von 2017 beschreibt und dabei den öffentlichen Debatten bzw. DiskursenumMilitärfragen und den sozialen Entwicklungen besondersbreiten Raum gibt. Ebenfalls unverzichtbar ist das Werk des ehemaligen Höheren Stabsoffiziers Paul Müller von 2023, Die Reformen der Schweizer Armee seit 1961. Eine persönliche Innensicht,das den Akzent auf die organisatorischen EntwicklungenimVerteidigungsdepartement (EMD/VBS)und der Armee legt. Ebenfalls 2023 hat der Politikwissenschafter Christian E. N. Bühlmanninseiner Doktorarbeit Acteurs et transformations des politiques de défense militaire suisses (1948 – 2008)sous l’ angle du cadre des coalitions advocatives eine systematische Analyse der Protagonisten der Armeedebattenbis zum ES 08/11 vorgelegt. Eine nützlicheGrundlage für vertiefte Analysen zur Entwicklungder Logistik der Schweizer Armee ist schliesslich die umfangreiche Materialsammlung von Roland Haudenschild, Logistik der Schweizer Armee. Vonder Militärverwaltung zur integrierten Logistik der Zukunft 1848 – 2023,wobei Band 2dem Zeitraum seit 1990 gewidmet ist.
Die vorliegende Monographiebezweckt, die Armeeentwicklung auf rechtlicher,politischerund militärischer Ebene darzustellen, letzteres mit einem Fokus auf dem operativen Denken, unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes;sie strebt somit eine Synthese zwischen Aussensicht und Innensicht an und will zugleich als allgemeinverständliches Nachschlagewerk und als Basis für weiterführende Forschung dienen. Mit ihr wird erstmals versucht, die Entwicklungder Schweizer Armee zu bilanzieren in einer Epoche der europäischen Sicherheit, die spätestens am 24. Februar 2022 zu Ende gegangen ist:Seither überzieht Russland einen souveränen Nachbarstaat mit einem völkerrechtswidrigen Angriffs-, ja Vernichtungskrieg mit weiterhin offenem Ausgang. Was auf die Ära der «kooperativen Sicherheit» in Europa folgen wird, ist ungewiss;klar aber scheint zu sein, dass eine Epoche unwiderruflich abgeschlossen ist:Vielleichtwerden die Jahrzehnte von 1989/90 bis 2022 dereinst als das Zeitalter der «Illusion der liberalen Weltordnung»bezeichnet werden.
Die Schweizer Armee basierte in den späten 1990er Jahren staatsrechtlich auf der Bundesverfassung (BV) von 1874, die in Artikel 2als ersten Zweck des Bundes die Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen festhielt. Die Bundesbehörden hatten Massnahmen zu treffen für die äussere Sicherheit und die Behauptungder Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. Dafür stand ihnen unter anderem das Bundesheer zur Verfügung.7 Gestützt auf die Militärorganisation von 1907 leitete die Truppenordnung 1961 – die namengebend für die Armee 61 war – die Modernisierung der Schweizer Armee ein.8 Sie wies am Ende des Kalten Krieges die nachfolgend beschriebenenMerkmale auf.
7 Art. 85, Abs. 6bzw. Art. 102, Abs. 9sowie Art. 19 Abs. 2BV. Vgl. zur Armee 61 weiterführend Rudolf Jaun, Geschichte der Schweizer Armee. Vom17. Jahrhundert bis in die Gegenwart,Kap. 8, S. 281–336. 8 Botschaft Truppenordnung 61, S. 336 f.: «Die wichtigsten Massnahmen […]sind die Erhöhung der Feuerkraft und die Verbesserung der Beweglichkeit der Erdtruppen sowie die Modernisierung der Luftverteidigung. Weiter gehören dazu die Verjüngung der Armee, ein ausgewogenes Verhältnis der infanteristischen Kampfmittel und der ihnen gleichzusetzenden Verbände der Leichten Truppen zu den Unterstützungswaffen, die Verstärkung des Geländes im Grenzraum, eine zweckmässigere Gliederung der Armee und eine günstigere Organisation der Versorgung.» Nach Haudenschild, Armeesynopse, S. 12.
Die Armeeführung bestand aus dem Generalstabschef, dem Ausbildungschef, den Kommandanten der fünf Korps (inkl. dem Kommando der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen)sowie dem Rüstungschef. Sie bildeten die Kommission für militärischeLandesverteidigung (KML), ab Mai 1993 die Geschäftsleitung EMD/VBS. Die Leitung der Sitzungen dieser Gremien lag stets beim Departementsvorsteher. Die Armee 61 zählte 82 eingeteilte Höhere Stabsoffiziere (HSO).
Die Struktur der Armee 61 war während der rund drei Jahrzehnte ihres Bestehens relativ konstant, indem sie aus 43 Grossen Verbänden – Armeekorps, Divisionen, Territorialzonen und Brigaden – bestand:Inder Westschweiz war es das Corps d’armée de campagne 1, in der Nordschweiz das Feldarmeekorps 2, in der Zentral- und Südschweiz das Gebirgsarmeekorps 3, in der Ostschweiz das Feldarmeekorps 4und mit landesweiter Zuständigkeit waren es die Flieger- und Fliegerabwehrtruppen. Während die Feld- und Gebirgsdivisionen auch in vom Grunddispositiv ZEUS (s.unten S. 20, Abb. 1) abweichenden Räumen eingesetzt werden konnten, handelte es sich bei den Territorialzonen und Brigaden um stationäre Verbände. Die eigentlichen beweglichen Elemente der Feldarmeekorps stellten die Mechanisierten Divisionen mit ihren beiden Panzerregimentern dar.9 Gegliedert waren die Grossen Verbände in Truppenkörper der zweiten Stufe, z. B. Regimenter, und solche der ersten Stufe, z. B. Bataillone und Einheiten (Kompanien).
Am Vorabend der Armeereform 95 gab es 202 Truppenkörper zweiter Stufe und 745 Truppenkörper erster Stufe.10
Die Armee 61 umfasste zwölf Truppengattungen:Infanterie, Mechanisierte und Leichte Truppen,Artillerie, Flieger-, Fliegerabwehr-, Genie-, Übermittlungs-, Sanitäts-, Veterinär-, Versorgungs-,Reparatur- und Luftschutztruppen.11 Sie wies Ende der 1980er Jahre einen «Sollbestand»von rund 625’000, einen «Kontrollbestand»von ca. 680’000 und einen «Effektivbe-
9 Vgl. Truppenordnung 82,Ziffer 1.5.2. Die Divisionen, S. 11 f.
10 Haudenschild, S. 14 f. mit Verweis auf den Offiziersetat.
11 Haudenschild, S. 15 f. mit Funktionsbeschreibungen der Truppengattungen.
stand»von rund 800’000 Angehörigen der Armee (AdA)auf.12 Vonden 625’000 Dienstleistenden waren ca. 45’000 Offiziere und 110’000 Unteroffiziere sowie je ca. 3’000 Angehörige des Militärischen Frauendienstes und des Rotkreuzdienstes.13 Die Armee 61 war in drei Heeresklassen eingeteilt:den Auszug (20. bis 32. Altersjahr), die Landwehr (33. bis 42. Altersjahr)und den Landsturm (43. bis 50. Altersjahr). Offiziere leisteten bis zur Erreichung des 55. Altersjahres Dienst.14
Die Dienstleistung bestand für den Soldaten aus einer Rekrutenschule von in der Regel 17 Wochen bzw. 118 Tagen, aus acht Wiederholungskursen von je 20 Tagen, aus zwei Ergänzungskursen zu 20 Tagen und einem Landsturmkurs zu 13 Tagen. Die Gesamtdienstleistung für die Soldaten betrug 330 Diensttage. Hinzu kamen maximal33Tage ausserordentliche Dienstpflicht;für das Kader (Offiziere und Unteroffiziere)war sie von entsprechend längerer Dauer:Oberste hatten 1513 Tage zu leisten, Majore 1343 Tage, Hauptleute 1174 Tage, Leutnants und Oberleutnants 929 Tage und Korporale und Wachtmeister 511 Tage.15
Die Schweizer Armee war während des Kalten Krieges schwergewichtig auf die militärische Bedrohung von Seiten der Warschauer-Pakt-Staaten ausgerichtet. Die Armee 61 basierte auf der «Konzeption der militärischen Landesverteidigung vom 6.6.66»sowie auf den «Weisungen für die operative Führung/WOF 66», die bis 1994 gültig waren. Ihren politischenÜberbau bildete ab 1973 die Konzeption der Gesamtverteidigung (vom 27. Juni 1973), welche sechs «strategische Fälle»vorsah:den Normalfall, den Krisenfall, den Neutralitätsschutzfall, den Verteidigungsfall, den Katastrophenfall und den Besatzungsfall. Im Verteidigungsfall hatte die Armee das Schweizer Staatsge-
12 Der Sollbestand von 100 Prozent zuzüglich der Mobilmachungsreserve von ca. 15 Prozent ergibt den Kontrollbestand von ca. 115 Prozent. Demgegenüber bezeichnet der Effektivbestand die Anzahl der insgesamt in der Armee eingeteilten Wehrpflichtigen, der erfahrungsgemäss ca. 40 Prozent über dem Sollbestand lag.
13 Haudenschild, S. 16.
14 Haudenschild, S. 7.
15 Haudenschild, S. 17.