Geschichte und Theorie der Kunst
Herausgegeben von Claudia Blümle, Markus Klammer und Ralph Ubl
Band 1
David Misteli Van Gogh in Paris Malerei und Ausdruck in
der Moderne
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
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Gestaltungskonzept: icona basel gmbh, Basel
Cover: Schwabe Verlag Berlin
Satz: Daniela Weiland, Textformart, Göttingen
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5173-4
ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5174-1
DOI 10.24894/ 978-3-7965-5174-1
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Vorbemerkungen
Aufstieg und Fall eines Postimpressionisten: Roger Fry über Vincent van Gogh 7
EINS
1888: Im Salon des Indépendants / Im Zeichen expressiver Präzision 39
ZWEI Van Goghs Terrain vague
Vorbemerkungen Aufstieg und Fall eines Postimpressionisten: Roger Fry über
Vincent van Gogh
London, frühes 20. Jahrhundert. Für Roger Fry bestand kein Zweifel daran, dass die Malerei Vincent van Goghs für die moderne Kunst die überwältigende Offenbarung war.1 Zumindest 1910. In dem Jahr hatte der Kunstkritiker der Bloomsbury Group in den Grafton Galleries die ebenso viel beachtete wie skandalisierte Ausstellung «Manet and the Post-Impressionists» organisiert, in der neben Édouard Manet, Paul Cézanne, Henri Matisse und weiteren Malern der französischen Avantgarde auch van Gogh mit zahlreichen Werken vertreten war.2 Die Ausstellung hinterließ der Kunstgeschichte die einflussreiche, wenn auch strittige Bezeichnung Postimpressionismus und wies van Gogh eine prominente Stellung in der Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei zu (Abb. 1).3
Das Begleitessay stellt Cézanne, Gauguin und van Gogh als die drei entscheidenden Maler vor, die im Laufe der 1880erJahre gegen die Kunst des Impressionismus opponierten.4 Stein des Anstoßes, so Fry, war eine programmatische Gemeinsamkeit: die Entschlossenheit, den Ausdruck des individuellen Temperaments des Malers zum unhintergehbaren ästhetischen Prinzip der modernen Malerei zu erheben.5 An der Frage, wie dieses künstlerische Ziel am besten erreicht werden sollte, entzweite sich die französische Avantgarde allerdings. Den roten Faden, der die kurze Schrift durchzieht, bildet die Unterscheidung zwischen Darstellung (engl. representation) und Ausdruck (engl. expression), entlang derer Fry die Bruchlinie zwischen Impressionismus und Postimpressionismus verlegt. Da sich die Impressionisten vor allem auf die subjektive Wahrnehmung von Licht und Schatten konzentriert hätten, sei es ihnen gelungen, mit ihrer Malerei bis dato ungekannte Aspekte von Objekten zum Vorschein zu bringen. Ihre Werke, so wird suggeriert, folgten daher dem Prinzip einer immer raffinierteren Darstellung.6 Die Postimpressionisten hingegen lehnten die Vorstellung eines passiv registrierenden, wahrnehmungsorientierten Malmodus zugunsten einer als expressiv verstandenen Herangehensweise ab: Die Emotionen auszudrücken, welche die Wahrnehmungsgegenstände evozierten, konnte hier auch bedeuten, im Werk eine Deformation der Formen in der Natur vorzunehmen und die naturalistische Darstellung einzelner Bildobjekte dem stimmigen Ausdruck des Werks insgesamt unterzuordnen.7 Fry denkt Darstellung und Ausdruck also als sich gegenseitig aufhebend: je mehr Darstellung, desto weniger Ausdruck, und umgekehrt. Wie so oft in der Zeit um 1900 dienen auch hier Kinderzeichnungen zur Erläuterung: Während die Zeichnung eines Kindes
ohne Kunstfertigkeiten außerordentlich expressiv ausfällt, erfreut sich das geübte Kind wiederum so sehr am gekonnten Kopieren der Wirklichkeit, dass darunter die Expressivität seiner Zeichnungen leidet.8 Dieses Beispiel, das ebenfalls dem Begleitessay entnommen ist, lässt die semantische Überlagerung der Kritik an der Darstellung als Ausdrucksebene eines Bildes mit einer Skepsis gegenüber konventionellen künstlerischen Verfahren der Bildgenese erkennen. In der Matrix einer anthropologisch konfigurierten Moderne sind es nicht ausgebildete und versierte, sondern «primitive» Künstler, die frei von Kon-
1. Ausstellungsposter «Manet and the PostImpressionists», 1910. Halbtondruck, 69,8 × 50,1 cm. The Courtauld, London.
ventionen und somit unverstellt auf authentischen Ausdruck zuzugreifen vermögen.9 Diesen Künstlern, beziehungsweise einer eurozentristischen Fiktion davon, gedachte Fry mit «Manet and the Post-Impressionists» ein Forum zu bieten.
In modernistischen Kreisen
Im Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Darstellung nahm van Gogh eine Sonderstellung ein. Die Geschichte lässt sich wie folgt umreißen: Manet ist die Vaterfigur für die Postimpressionisten sowie auch für die Impressionisten. Während sich Letztere von seiner Ablehnung des Chiaroscuro hätten inspirieren lassen, habe Cézanne die Vereinfachung der Formen und Komposition aufgenommen, die er beim modernistischen Meister entdeckt habe, und daraus Gemälde geschaffen, deren primäres Ziel eine kohärente, von geometrischer Einfachheit geprägte Gestaltung der Bildfläche gewesen sei.10 So dürfen wir uns vorstellen, wie Cézanne ausgehend von Manet den Sprung zu einer Malerei machte, in welcher der Ausdruck eines Gemäldes seiner (naturalistischen) Darstellung übergeordnet war. Darauf folgte Gauguin, der «Theoretiker» unter den Postimpressionisten, dessen Interesse einer rätselhaften Ästhetik galt, die Fry als die «Grundgesetze der abstrakten Form» (engl. fundamental laws of abstract form) bezeichnet. Gauguin distanzierte sich damit seinerseits von den Impressionisten und von einer Malerei im Zeichen der Darstellung, weil er die Macht (engl. power) erkannte, die abstrakte Formen und Farben auf die Wahrnehmung und Vorstellungswelt von Bildbetrachter*innen ausüben können.11 Auch van Gogh kam nach Cézanne (Fry stellt sich irrtümlicherweise vor, dass sich van Gogh an Cézannes Malerei orientiert habe), aber seine künstlerische Position zwischen Ausdruck und Darstellung fasst Fry zwiespältig auf:
Van Goghs krankhaftes Temperament zwang ihn, seine stärksten Emotionen in Malerei auszudrücken […] Dennoch akzeptiert auch er im Großen und Ganzen die allgemeine Erscheinung der Natur; nur sucht er vor jeder Szene und jedem Gegenstand zuerst nach der Qualität, die ihn zuallererst so seltsam ansprach. Das ist er entschlossen, um jeden Preis festzuhalten.12
Was van Gogh auszeichnet, ist sein «krankhaftes Temperament», das ihn zum Ausdruck besonders starker Emotionen be-
fähigt (oder nötigt), die die Motive in ihm wecken.13 Dergestalt fällt van Goghs Malerei in einzigartiger Weise expressiv aus, während ein gewisser Grad an Darstellung weiterhin nicht hintergangen wird. Wie wir sehen werden, ist es dieses unentschiedene Verhältnis zur Darstellungsebene des Bildes, welches das Werk des Malers einige Jahre später auf Konfrontationskurs mit Frys Ästhetik bringen wird. Doch noch ist es im Winter 1910/11 nicht so weit. Womöglich hegte Fry schon dann Zweifel an der Bedeutung von van Goghs Malerei – die skizzierte Unentschiedenheit könnte etwas in die Richtung implizieren. Aber selbst wenn dies der Fall war, hinderten sie den Kritiker offenbar nicht daran, van Gogh zu einem der Helden seiner Geschichte des Postimpressionismus zu küren. Gerade deshalb sind Frys Essay und Ausstellung auch für das Thema dieses Buches aufschlussreich, denn van Goghs Malerei tritt darin als eine wichtige Episode in der Geschichte der modernen Malerei auf. Die Hervorhebung mag auf den ersten Blick verwundern, gilt van Gogh doch weithin als entscheidender Wegbereiter der Moderne und neben Leonardo da Vinci und Andy Warhol als einer der populärsten Künstler*innen der Kunstgeschichte.14
Ausschlaggebend ist an dieser Stelle jedoch die kunsthistorische Orientierung, mit der die Bedeutung des Malers gewöhnlich eruiert wird. Denn als hätten van Goghs weltweite Popularität und die Bannkraft seiner bewegten Biografie den Blick auf sein Werk verstellt, wird die kunsthistorische Bedeutung seiner Malerei außerhalb seiner Zeit, in der Zukunft der modernen Malerei verortet, die sich auf ihn als Vaterfigur beruft und für die er eine ungemeine Wirkmacht entfaltete.15 Van Gogh avanciert dadurch zu einer strahlenden Referenzfigur für die Kunst des 20. Jahrhunderts, bei der leicht in den Hintergrund rücken kann, dass die künstlerischen Herausforderungen seiner Zeit nicht zwangsläufig deckungsgleich mit denjenigen seiner nachfolgenden Kolleg*innen waren. Anders gesagt wird die Bedeutung van Goghs für die Geschichte der Malerei durch seinen Einfluss auf jüngere Maler*innen und die Kunst des 20. Jahrhunderts bestimmt, gewissermaßen als eine posthume Signifikanz. Darin unterscheidet sich van Gogh wesentlich von anderen kanonischen Maler*innen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Mary Cassatt, Paul Cézanne, Gustave Courbet, Paul Gauguin, Édouard Manet, Camille Pissarro, Georges Seurat, um nur einige zu nennen –, die als wichtige Modernist*innen gelten, deren Werk als zeitgenössische Reflexion sozial- und wissenschaftsgeschichtlicher Verhältnisse
und als Schlüssel für das Verständnis der Geschichte und die historischen Bedingungen der modernen Malerei im ausgehenden 19. Jahrhundert interpretiert wird.16 Damit wird nicht suggeriert, dass diese Maler*innen nicht auch einen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen hatten (im Gegenteil zeigen die genannten Beispiele gerade, wie das eine das andere nicht auszuschließen braucht); gleichwohl wird ihre kunsthistorische Bedeutung so situiert, dass wir vermittels ihrer Werke etwas über die zeitgenössische Geschichte der Malerei erfahren. Frys Geschichte des Postimpressionismus macht jedoch genau das auch für van Gogh geltend. Zugegeben, Frys Interpretation ist nicht mit kunsthistorischen Modernismus-Studien zu vergleichen; gleichwohl stoßen wir bei ihm auf die Ansätze einer Van-Gogh-Lektüre, die dem Werk des Malers eine zentrale Bedeutung für unser Verständnis der französischen Avantgardemalerei der 1880er-Jahre zuschreibt. Van Goghs Malerei ist aus der Sicht Frys eine Reaktion auf die Malerei des Impressionismus und Teil einer Avantgarde, die in Zweifel geraten war über die Eignung des Mediums der Malerei, die gegenständliche Welt immer raffinierter zu repräsentieren. In ihr reflektiert sich dieses Unbehagen und artikuliert sich gleichzeitig eine Reaktion darauf; ein künstlerischer Versuch, aus der «Sackgasse» zu entkommen, in der sich die moderne Malerei vermeintlich wiederfand.17 Fry rückt die kunsthistorische Bedeutung von van Goghs Werk nicht nur in den malereigeschichtlichen Horizont der 1880er-Jahre, sondern identifiziert diese Bedeutung auch mit einer spezifischen Semantik, nämlich der Geschichte des Ausdrucks in der Malerei der Moderne. Nicht von ungefähr hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Gruppe der Maler, die er 1910 in London ausstellte, als «Expressionisten» zu bezeichnen, bevor er sich für die unverfänglichere Bezeichnung «Postimpressionismus» entschied.18 Das ist der Faden, den dieses Buch aufnimmt: die Frage, ob die Bedeutung van Goghs für die Geschichte der modernen Malerei nicht vorrangig in einer Wirkungsgeschichte, sondern in einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Möglichkeiten von Ausdruck in der Malerei zu situieren wäre; zumal zu einer Zeit, als Expressivität ganz im Brennpunkt des Interesses der französischen Avantgarde stand.
Malerei, Pathologie, Leben
Aus Frys Perspektive konnte van Goghs Malerei dieses Versprechen nicht halten. In einem kurzen, mit «Vincent van Gogh» betitelten Essay rechnete er 1927 mit dem niederländischen Maler ab und revidierte seine Einschätzung der 1910er-Jahre beträchtlich.19 Im selben Jahr war auch seine Biografie über Cézanne erschienen, von dem Virginia Woolf später schreiben würde, dass er für Fry «jenseits jeder Analyse [lag, D. M.], zu der er fähig war».20 Diese Faszination dürfte dazu beigetragen haben, dass Cézanne, mit dem van Gogh 1910 noch in einem Atemzug genannt worden war, 1927 als Folie herangezogen wurde, vor der sich das Unvermögen des jungen Malers abzeichnete.21 Für das Thema des Ausdrucks ist diese spätere Neubewertung von mehr als lediglich anekdotischem Wert. Van Goghs Ausschluss aus dem Olymp der Postimpressionisten wirft die Frage nach dem Ausdrucksbegriff auf, mit dem Frys Kunstkritik operierte, und ermöglicht eine erste, provisorische Bestimmung des Verhältnisses von van Goghs Malerei zu Vorstellungen von Ausdruck in der Moderne.
Die eloquente Härte, mit der Fry van Goghs Malerei 1927 kritisierte, ist frappierend:
Jeder, der van Goghs Briefe las, wird gespürt haben, dass seine Persönlichkeit schöner und interessanter war als alles, was er vollbrachte. Denn van Gogh war nicht in erster Linie ein Künstler, und seine Persönlichkeit brach nur deshalb zu einem gequälten und mühseligen Ausdruck in der Malerei durch, weil sie anderswo auf unüberwindbare Hindernisse gestoßen war.22
Fry erkennt in van Gogh einmal mehr einen Künstler. Aus dem «krankhaften Temperament» von 1910 ist eine Persönlichkeit geworden, für die das Bild eines Druckkochtopfs herangezogen werden könnte: Durch das verdampfende Wasser war der Druck so gestiegen, dass er zum Entweichen den Weg des geringsten Widerstandes suchte – ein Ventil, das in van Goghs Fall die Malerei gewesen sein soll. Diese Vorstellung wird uns vertraut vorkommen, handelt es sich doch um ein Verständnis von unmittelbarem und unwillkürlichem Ausdruck in der Kunst, dem Ausfließen einer bewegten Innensphäre in das Werk als deren «Behältnis», das die*den Künstler*in als Ausdrucksinstanz setzt und für das van Gogh paradigmatisch geworden ist. Schon
im ersten monografischen Artikel über den Maler hatte Albert Aurier 1890 von einem «brodelnden Gehirn» (franz. cerveau en ébullition) gesprochen, «das seine Lava in sämtliche Schluchten der Kunst ergießt».23 Auch für Octave Mirbeau war van Goghs Schaffen eng mit dem «zerebralen Schicksal» des Malers verbunden, das sich zwischen «Feurigkeit» und «überempfindlicher Sensibilität» (franz. sensibilité hyperesthésiée) aufspannte und ihn gerade dadurch zu einem «visionären Künstler» werden ließ.24 Die Verbindung zwischen (Psycho-)Pathologie und künstlerischem Schaffen, die diese frühen Kritiker ziehen, ist gewiss den dramatischen Umständen von van Goghs Tod geschuldet; einer sich selbst beigebrachten Schussverletzung, deren Folgen er am 29. Juli 1890 erlag.25 Zugleich ist sie auch als Signatur einer Epoche zu verstehen, in der sich die Künste mit der naturwissenschaftlichen Erforschung von Körper und Geist sowie deren Pathologien zu verschränken und sich als Experimentierfeld für den Ausdruck unbewusster und unwillkürlicher Prozesse zu kultivieren suchten.26
In Frys Lektüre ist es jedoch ausgerechnet van Goghs Temperament, das ihn disqualifizierte, als Künstler erwogen zu werden. Stattdessen kommt Fry zum radikalen Schluss, dass van Gogh selbst – die Persönlichkeit und sein Leben – viel schöner und interessanter sei als alles, was er als Künstler je zustande brachte.27
Die Verlagerung von der Signifikanz des Werks zur Signifikanz des Lebens ist bemerkenswert und weist, wie ich denke, in zwei miteinander verflochtene Richtungen. Auf der einen Seite spiegelt sich darin die Faszination für das kurze und bewegte Leben des niederländischen Malers, die durch frühe Veröffentlichungen der Briefwechsel geweckt und gefördert wurde.28 In ihr wirkt die Vorstellung, dass «die Stationen seiner Krankheit […] zugleich diejenigen seines Werkes (Arles – Saint-Rémy –Auvers) [sind, D. M.]», die heute indes durch eine umfangreiche Forschungsliteratur zur Entmystifizierung van Goghs ergänzt wird.29 Dass van Goghs Leben kulturgeschichtlich bedeutender sei als sein Werk, wird die Rezeption des Malers im 20. Jahrhundert prägen, auch wenn die Unterscheidung meist implizit bleibt.30 Fry jedenfalls vollzog mit seinem späteren Artikel eine 180-Grad-Wende, mit der er darauf einschwenkt, dass van Goghs Werk bedeutend in Bezug auf den Maler selbst sei, nicht aber für die Geschichte der modernen Malerei seiner Zeit. Mit anderen Worten tritt das Werk in Funktion von seiner Biografie.31 Auf der anderen Seite wäre es voreilig, die Verlagerung von Werk zu Leben ausschließlich als methodisches Problem
einer Kunstgeschichte zu behandeln, bei der das Verständnis von Künstler*in und Werk aus deren*dessen Lebensgeschichte und -umständen konstruiert wird.32 Die Sichtweise droht zu übersehen, wie eng das Verhältnis von Werk und Leben bei van Gogh gedacht werden kann, ohne das Werk mit dem Leben als Erklärungsgrund kurzzuschließen. Gottfried Boehm verstand van Gogh als Vertreter eines neuen Typus von Künstler*in der Moderne, der sich selbst zur Ressource wird und für den künstlerische Produktion und Selbstzerstörung nicht nur Hand in Hand gingen, sondern sich gegenseitig bedingten.33 Van Gogh wird historisch fixiert und auf einem schmalen Grat situiert, in dem Leben und Werk nicht einseitig, aber wechselseitig in Funktion voneinander treten. Von ihren Zuspitzungen befreit, bleibt eine These über das Verhältnis von Leben und Werk, in der das Leben des Künstlers als historische Semantik des Werks figuriert; und zwar in der Form individueller Lebensgeschichte und der Historizität des Verhältnisses selbst. Für van Gogh legt sie nahe, unter «Ausdruck des Selbst» (engl. self-expression) als zentralem Anspruch und künstlerischem Ziel der Postimpressionisten eine Vorstellung von Ausdruck zu verstehen, die als Hervorbringung des Selbst im Werk aufzufassen ist, durch die sich das Leben formiert und die zugleich die Form des Lebens reflektiert.34 Van Goghs Werk tritt nicht in Funktion von seiner Biografie, sondern entwirft die Selbstformation des Subjekts unter den Bedingungen des modernen Lebens als sein eigentliches Thema.
Dramatischer Ausdruck
Kommen wir nun auf die ästhetischen Kriterien zu sprechen, die zu Frys Neubewertung führten. Auch 1927 ist in den Augen Frys nicht jedes Gemälde von van Gogh misslungen; aber die Sprache des Kritikers verrät eine skeptische Grundeinstellung. Die Sonnenblumen (National Gallery, London), die van Gogh 1888 in Arles malte, bezeichnet Fry als einem «Augenblick glücklichen Selbstbewusstseins» zugehörig, «ein[em] Augenblick, in dem die fieberhafte Intensität seiner emotionalen Stimulation durch die Natur seine Umsetzungskraft nicht allzu sehr belastete».35 Die Passage gibt einen Wahrnehmungsvorgang vor, bei dem die Affizierung (engl. emotional reaction) durch das Wahrgenommene so intensiv ausfällt, dass die künstlerische Umsetzung (engl. powers of realisation) kompromittiert wird. Fry hingegen stellt sich eine Expressivität vor, bei der die Kontrolle über die
künstlerischen Verfahren und der Überblick über die Medialität der Malerei nicht entgleiten dürfen. Das wird anhand eines weiteren Beispiels deutlich, Das gelbe Haus (1888; Van Gogh Museum, Amsterdam), bei dem Fry den Vergleich mit Cézanne zieht:
Wie grundverschieden ist van Goghs Auffassung der provenzalischen Natur von Cézannes kontemplativem und reflektierendem Eindringen in ihre leuchtende Struktur! […] In markantem Gegensatz zu Cézanne steht auch van Goghs Gleichgültigkeit gegenüber der plastischen Struktur seines Terrains, die hier nur flüchtig behandelt wird. Das Interesse des Künstlers galt ganz dem dramatischen Konflikt zwischen Häusern und Himmel, und das Übrige war kaum mehr als eine Hinführung zu diesem Thema.36
Während Cézanne die Struktur seines Motivs durchdringt und sich durch eine kontemplative und reflektierte Herangehensweise hervortut, meistert van Gogh die Struktur seines Motivs (engl. plastic structure) nicht, sondern das Bild wird von dem zugespitzten Kontrast zwischen blauem Himmel und gelben Häusern dominiert. Die Differenzierung lässt sich dahingehend verstehen, dass Cézanne wechselseitig seine Eindrücke des Motivs in die formale Struktur des Gemäldes zurückreflektiert, sodass das Gemälde eine in sich geschlossene formale Einheit bildet.37 Van Gogh ist hingegen von den einzelnen Motiven so stark stimuliert, dass er die Gesamtstruktur und damit die kompositorische Einheit seiner Gemälde aus dem Blick verliert.38 Am deutlichsten tritt die Gegenüberstellung von formaler Einheit versus deren Zerfall schließlich – und wenig überraschend – in Weizenfeld mit Krähen (1890; Van Gogh Museum, Amsterdam) auf (Abb. 2). Lange Zeit für das letzte Gemälde van Goghs gehalten, hat es eine Deutungsgeschichte als Abschiedsbrief des Malers hinter sich, die Fry auf die formale Struktur des Gemäldes bezieht:39
Das dramatische Gefühl ist hier so eindringlich geworden, dass es alle anderen Belange überwiegt. Auf Fragen der Form wird keine Rücksicht mehr genommen, und Van Gogh endet, wie man aufgrund seines Temperaments hätte vermuten können, als inspirierter Illustrator. 40
Van Goghs Lauf als avantgardistischer Postimpressionist kommt damit abrupt zu einem Ende.41 Die Kontrolle über die Form
(engl. formal design) des Bildes ging in Weizenfeld mit Krähen gänzlich verloren. Deshalb mündet der malereigeschichtliche Entwicklungsbogen des Malers für Fry in der Einsicht, in van Gogh doch auf nichts anderes als einen Illustrator gestoßen zu sein. Das führt zurück zur eingangs bemerkten Opposition von Ausdruck und Darstellung in Frys Schriften zum Postimpressionismus; und das späte Urteil kommt nicht überraschend, hatte Fry van Gogh doch schon 1910 keine eindeutige Zuweisung zu Ausdruck oder zu Darstellung zugesprochen. Zugleich hat sich zwischenzeitlich an den Modalitäten etwas geändert, indem sich die Dichotomie von Ausdruck vs. Darstellung zu formale Organisation vs. Illustration verschob.
Die Verschiebung macht die Konvergenz zweier kunsthistorischer Zentralbegriffe der Moderne sichtbar: Formalismus und Ausdruck, die in Frys Ästhetik zusammenlaufen und den Blick auf die zeitgenössische Kunst sowie auf die alten Meister neu formatieren.42 Dass die moderne Malerei die Vermittlung von gegenständlichen Inhalten hinter sich lassen sollte, ist ein formalistischer Topos, mit dem Fry Kunstkritiker wie Clement Greenberg beerben wird. So gesehen weist Frys Kunsttheorie in die Zukunft der Malerei und unterstreicht ihre Zugehörigkeit zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts – «Frys Formalismus hatte die Zukunft in der Hand».43 Dass Fry van Goghs Malerei auf der Basis mangelnder formaler Organisation ablehnte, darf zumindest hypothetisch als Indiz dafür gelten, weshalb er bis auf wenige Ausnahmen durch das 20. Jahrhundert hindurch und im Gegensatz zu Manet, Cézanne und Matisse durch formalistische und modernistische Raster fiel.44 Wie aber ist Ausdruck in der Malerei auf das ästhetische Kriterium der formalen Organisation beziehbar, durch das er ersetzt worden zu sein scheint?
2. Vincent van Gogh, Weizenfeld mit Krähen, 1890 (F 779). Öl auf Leinwand, 50,5 × 103 cm. Van Gogh Museum, Amsterdam.
Die Idee, dass der Inhalt von Kunst primär ihre Expressivität sein soll, erfuhr mit dem Fokus auf die formale Organisation von Kunstwerken nicht so sehr eine Abwertung als vielmehr eine folgenreiche Umdeutung. Folgenreich, wie wir gesehen haben, besonders für van Gogh, der dadurch malereigeschichtlich an Bedeutung einbüßte. Umso virulenter ist in unserem Zusammenhang, dass dem Bedeutungsverlust entlang der Verschiebung von Ausdruck vs. Darstellung zu formaler Organisation vs. Illustration zwei sich konkurrenzierende Ausdrucksmodelle zugrunde liegen, die Roger Fry im Rahmen von «Manet and the Post-Impressionists» noch miteinander zu versöhnen suchte.
Als Fry 1927 schrieb, Weizenfeld mit Krähen lege Zeugnis von van Goghs Ende als «inspiriertem Illustrator» ab, verknüpfte er das mit dem Ausdruck von «dramatischen Gefühlen». Sein Formalismus richtet sich demnach nicht so sehr gegen die Kategorien der Darstellung oder Illustration als gegen einen dramatischen Ausdruck. 45 In «Retrospect» (1920) legt der Kritiker seinen Vorbehalt gegen die «die allgemein akzeptierte Auffassung [dar, D. M.], dass die Kunst die Gefühle des Lebens ausdrückt»:46 «Dem Künstler ging es eigentlich nicht um sie [die Gefühle des Lebens, D. M.], sondern nur um den Ausdruck einer besonderen und einzigartigen Art von Emotion, der ästhetischen Emotion.»47
Die Unterscheidung, die Fry an der Stelle trifft, ist gravierend. Ausdruck in der Kunst soll nichts mit dem Leben zu tun haben, nicht mit der Kommunikation von Gefühlen befasst sein, die Menschen im Leben empfinden und ausdrücken, sondern mit einer spezialisierten ästhetischen Emotion, die sich von der Psychologie des Alltags wesentlich unterscheidet. Das ist die eigentliche Ebene, auf der sich Frys Ablehnung von Illustration abspielt: Die Befürchtung, dass die Expressivität des Kunstwerks auf etwas verweisen könnte, das sich aus einer anderen als seiner immanenten formalen Ordnung konstituiert; so wie die Emotionen, die wir auch außerhalb der Erfahrung von Kunstwerken erleben und deren Vorhandensein in einem Kunstwerk deswegen als ‹Repräsentation des realen Lebens› (engl. actual life) gewertet werden kann.48 Letztere sind van Goghs Stolperstein. Seine Gemälde drücken nicht ein ästhetisches Empfinden aus, das aus der Gesamtstruktur (engl. plastic structure) des Bildes erwächst, sondern die dramatische Signifikanz, welche die Motive für den Maler hatten. Anders gesagt drückt sich in van Goghs Gemälden die Affizierung (engl. emotional reaction) aus, welche die Motive im Akt des Malens in ihm aus-
lösten. Deshalb ist van Goghs Malerei in der Repräsentation der Realität verhaftet, ohne dass naturalistische Darstellung oder die Wiedererkennbarkeit der Bildobjekte ins Gewicht fallen. Es liest sich beinahe rechtfertigend, wenn Fry seinen Gesinnungswandel erklärt:
Van Gogh hatte sich von den plastischen Künstlern seiner Umgebung angewöhnt, nahezu jede Erscheinung als Ausgangspunkt für eine Gestaltung zu betrachten. Doch sein ganzes Wesen zwang ihn dazu, selbst den unbedeutendsten Gegenstand, ein Paar Stiefel oder einen Stuhl, als mit dramatischer Bedeutung aufgeladen zu betrachten. Plastisch erscheint er daher nur in seiner Annäherung an die Natur, in den Motiven, die er wählt.49
Indem van Gogh auf nahezu alles, was sich vor seiner Staffelei befand, emotional stark reagierte, konnten seine Gemälde eher zufällig als intendiert den Anschein erwecken, mit dem Ziel einer ausgewogenen Gesamtstruktur geschaffen worden zu sein. Tatsächlich jedoch habe dieser Ausdruck aus der Summe unzähliger, voneinander unabhängig stimulierter Impulse resultiert, die van Gogh in einem Gemälde «illustrierte». Dieses Ausdrucksmodell unterscheidet sich von dem, mit dem die Postimpressionisten 1910 inauguriert wurden. «Den Künstler zum vollständigen Ausdruck seines Selbst zu befähigen», lautete der Leitgedanke, in den sich auch die beschriebenen Ausdrucksvorgänge in van Goghs Malerei gut einfügen.50 Doch der*die Maler*in als Subjekt des Ausdrucks, als Instanz, die sich im Gemälde ausdrückt – d. h. die Idee, dass Künstler*innen in einem Kunstwerk ihre Gefühle bzw. sich selbst veräußerlichen –, hatte sich in der Zwischenzeit grundlegend transformiert.51 Frys Einwand gegen van Gogh beschränkt sich nicht darauf, dass die «Übertragung» der subjektiven Erfahrung der Malerin oder des Malers auf das Medium der Malerei zu ungestüm oder zu unkontrolliert verlaufen wäre. Die Kritik ist globaler und betrifft auf folgenreiche Weise die Einbindung von Maler*innen in die Expressivität ihrer Werke. An die Stelle des Ausdrucks des Selbst rückt das spezielle «ästhetische Empfinden» (engl. aesthetic emotion), das Maler*innen nicht so sehr ausdrücken als bewerkstelligen. Daraus folgt, dass bei Frys späterem Ausdrucksmodell die Formen selbst bzw. die Organisation der Gesamtstruktur die Expressivität des Kunstwerks ausmachen, bei dem die Maler*innen sozusagen als