Bergende Berge
Reduitfantasien in der Literatur ANDREAS BÄUMLER
Signaturen der Moderne
Herausgegeben von Andrea Bartl, Christof Hamann und Alexander Honold
Bd. 7
Herausgegeben von Andrea Bartl, Christof Hamann und Alexander Honold
Bd. 7
Schwabe Verlag
Publiziert mit freundlicher Unterstützung durch den SchweizerischenNationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, die Universität Luzern sowie das Urner Institut Kulturen der Alpen.
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© 2025 Andreas Bäumler, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Basel, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz. Jede kommerzielle Verwertung durch andere bedarf der vorherigen Einwilligung des Verlages.
Abbildung Umschlag: © Marco Volken
Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel
Cover:Kathrin Strohschnieder, stroh design, Oldenburg
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert& Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5179-6
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5180-2
DOI 10.24894/978-3-7965-5180-2
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1Eingänge
1.2 Reduit als Quarantäne:Phantasmagorien
1.3
3Zeitgeschichten:Historiografische Schachtarbeit im réduit national
3.1 Aktivdienst revisited:Camouflage der Erinnerung (Frisch).
3.2 Fingierte Forschung:Der Historiker als Schachtarbeiter (Walter). .. 145
3.3 «Nein»: Verfahren der Verweigerung (Burger).
3.4 Tiefen-Psychologie:Fantasieren im alten Armeebunker (Acklin).
4Endzeiten:Rückzugsfantasien im Modus der Dystopie
4.1 Winterkrieg:Inder Gegenwart der Apokalypse(Dürrenmatt)
4.2 Zeitobsessionen:Zwischen Endzeit und Erdgeschichte (Delarue). ..
4.3 «Alptraum im Alpraum»: Der Untergrund im Zeichen des Bösen (Giger).
4.4 Ein «gigantisches, steinernes Menetekel»: Das Ende der Moderne (Kracht).
Zwischen der alten Gotthardpassstrasse und dem Stausee Lago di Lucendro auf gut 2000 Metern über Meeresniveau steht ein altes, mit Quadersteinen gemauertes Portal. Hinter einem unscheinbaren Tor aus schwerem Eisen eröffnet sich ein langer Stollen, dessen kalt ausgeleuchtete Felsen- und Stahlbetonwände den Weg tief in den Berg hinein weisen. 300 Meter im Innern des Gotthardmassivs, wo Soldat:innen bis 1994 ihre Wiederholungskurse absolvierten, erwarten einen heute keine Truppenunterkunft mit Stahlrohrbetten, Kommandoposten und Munitionsdepotsmehr,sondern ein komfortables Hotel mit 22 schlichten Zimmern, einem noblen Restaurant und gediegenem Wellnessbereich mit Dampfund Sprudelbädern sowie in gläsernen Boxen untergebrachten Seminar- und Ausstellungsräumen:das Viersternefelsenhotel La Claustra.Nun mag bereits die Vorstellung, sich in den scheinbar endlosen, labyrinthischangelegten Gängen, Schächten und Hallen im Verborgenen des Berges beherbergen zu lassen, jene Angstzustände auszulösen, auf die der Name des Hotels anspielt:die Klaustrophobie – eineAngst, die sich beim Aufenthalt in engen, geschlossenen Räumen einstellen und Panikattacken mit Hyperventilation bewirken kann. Doch auf der Webseite wird ganz im Gegenteil mit einem «einmalige[n] Ambiente von Entspannung und Geborgenheit»geworben.1
Mit der klanglichen Ähnlichkeit zwischen Berg und Beherbergung, Herberge, auberge und albergo hat es auch seine etymologischeBewandtnis:Zwar meint das Wort Berg in erster Linie etwas Hohes und Erhabenes, dann aber auch das Bergen und Verbergen, das Hüten und In-Sicherheit-Bringen 2 Ausserdem verweist das wurzelverwandte germanische berga im Ablautverhältnis auf einen befestigten Wohn- und Verteidigungsbau, die Burg. Berge bieten die Möglichkeit des sicheren Rückzugs, sie lassen Zuflucht und Versteck finden. In nochmals extremerer Weise ist die künstlich geschaffene KaverneimReduit ein von aussen uneinsehbarer und damit höchst metaphorischer Zufluchtsort. Der bergende Berg verspricht Hotelgästen wie Soldat:innen Schutz vor den Zudringlichkeiten, Verwerfungen und Bedrohungen ihrer jeweiligen Gegenwart. Auf diese Weise betrachtet, kommt sich die militärische und die gastwirtschaftliche, die histori-
1 http://www.claustra.ch [Juli 2024].
2 Vgl. Jürgen Söring:Dichtung und Berge. In: KulturPoetik 19:2, 2019, S. 205–221, hier S. 215 f.
sche und die gegenwärtige Nutzung der Anlage auf dem Gotthardpass recht nahe – ja es scheint, als vermischten sich die Gegenwart und die Vergangenheit. Jedenfalls wird man auf der Webseite darauf vorbereitet, dass es einem beim Betreten des Eingangsstollens vorkomme, «wie wenn im feuchtnassen Gestein noch das Schnaufen, Rotzen, Scheppernder Soldaten gespeichertwäre, die zu Aktivdienstzeiten diese Katakomben bewohnt haben».3 Die Versprechungen des Reduits bestehendemnach nicht nur in der militärischen Funktionalisierung des alpinen Geländes, und sie erschöpfen sich auch nicht allein in Fragen nach der nationalen Identität. Glaubt man dem Onlinewerbetext des Seminar- und Erlebnishotels, so liegen seine Verheissungen darin, an diesem Ort mit dem Taktder normalen Zeit brechen zu können, abseits von der Geschichte zu stehen und ausserhalb der gewöhnlichen Zeitläufte zu weilen:«Losgelöst vom Strom der Tagesaktualitäten entsteht in La Claustra Raum für inspiriertes Arbeiten, entspannte Kommunikationund kreativesDenken.» Tief «imBerg, wo nur Fels, Licht und Wasser sind und kein Handyempfang und kein Fernsehgerät», biete das Hotel seinen Gästen die einzigartige Möglichkeit, «reduziert auf das Wesentliche, zusammenzukommen, sich auszutauschen, Visionen zu entwickeln und sich zur Gemeinschaftzuformen».4 Die Werbung zielt auf einen inneren Zusammenhang zwischen räumlicher Begrenztheit und gedanklicher Weite, zwischen sensorischer Konfusion und intellektueller Klärung ab und deklariert den weltabgewandten Höhleninnenraum zum idealen Ort zur Ordnung und Neuordnung der ausserhalb liegendenLebenszusammenhänge, zu einem Ort der «Gedankenarbeit», an dem das Aus- und Bevorstehende gedacht, besprochen, geplant werden kann;5 soweit die Werbung von La Claustra.
Normalerweise würde man diese Vorzüge eher dem Gipfel als dem Berginnern zuschreiben.Wer sich mit dem anstrengenden Aufstieg von den normalen Lebenszusammenhängen löst und vertikal Abstand gewinnt zur Zeitmaschinerie des Alltags, ist leichter in der Lage, das Leben und seine Belange zu ordnen, dabei neue Ideen zu entwickeln und Gemeinschaftzuformen. Die Höhenpositionierung vermag Dinge in Perspektive zu setzen, die normalerweise verwischt sind. Bergeshöhen bieten die Möglichkeit, die umliegende Welt im Totaleindruck und als Ganzheit zu zeigen. Verschafft der Gipfel also Weitsicht, Überschau und damit maximale räumliche Orientierung, so ist es gerade die Abwesenheit selbst der
3 Was gemäss Reisemagazin Geo Saison (2014)eines der «100 schönsten Hotels in Europa» ist, war 1938 Prototyp einer neuen Generation von Armeebunkern. Das Artilleriewerk San Carlo verfügte 1938 über damals völlig neuartige Panzertürme zur Verteidigung der Gotthardachse gegen das faschistische Italien. Doch erst im Kriegsjahr 1942 war auch die Unterkunft für die 200 Soldaten fertig gebaut, die sich im Fall eines Angriffs hier, in der Kernzone der Reduitstellung, verschanzt hätten. Der Umbau des Artilleriewerks zwischen 1998 und 2004 war die erste Transformation einer solchen militärischen Anlage in eine zivile Nutzung.
4 http://www.claustra.ch [Juli 2024].
5 Ebd.
basalen Referenzpunkte, die das Berginnere charakterisiert:ImUntergrund ist der Blick in alle Richtungen durch die Felswand begrenzt, sodass zwischen hoch und tief, links und rechts, Ost und West, ja selbst zwischen oben und unten nicht mehr zu unterscheidenist. Wie sich Körper und Psyche verhalten, wenn bei längerem Aufenthalt in einer Höhle jeder Bezug zu Raum und Zeit verloren geht, hat das 2021 im Südwesten Frankreichs durchgeführte Deep-Time-Experiment gezeigt:Der Referenzverlust führte bei den meistenTeilnehmenden dazu, dass sich ihr Zeitempfinden verlangsamte.6 Unter Grund scheinen die Minuten, Stunden und Tage nicht wie gewohnt zu fliessen. Man ist tatsächlich in radikaler Weise «vom Strom der Tagesaktualitäten»abgeschnitten. «Man verliert hier die Zeit», konstatiert auch der La-Claustra-Besitzer Rainer Geissmann im Interview mit dem Deutschlandfunk.7 Der Abstand zur lebensweltlichen Gegenwart verschafft einesonderbare zeitliche Leere und eine klösterliche Ruhe, die wiederum produktive Prozesse in Gang zu setzen vermag. Der geschlossene Innenraum erlaubt der Fantasie, was die offene Weite verwehrt:mentalen Freilauf, Musse, Konzentration und stille Kontemplation.
Diese Denkfigur liegt auch HansBlumenbergs Thesevon der «Höhlengeburt der Fantasie»zugrunde.8 Einleitend in sein monumentales Werk Höhlenausgänge (1989)beschreibt der deutsche Philosoph die Höhle als Prototyp eines kultisch-künstlerischen Medienlaboratoriums – allerdings weniger in Zusammenhang mit der sinnlichen Extremerfahrung eines fenster- und geräuschlosen Raumes denn aufgrund einer topologischen Raumanordnung. In ihrer Eigenschaft als negativer Raum, als Aushöhlung, steht die Höhle der äusserenWeltweite spiegelbildlichentgegen.Blumenberg geht davon aus, dass die Höhle – als zentrale Metapher menschlicher Kultur – zunächst in intuitiver Weise Ausdruck jener pränatalen Geborgenheit sei, nach der sich der geburtstraumatisierte Mensch zeit seines Lebens zurücksehne. Doch ist die der Höhle zugewiesene «anthropologische Zeitraumtiefe»9 doppelt codiert. Parallel zum ontogenetischen Argument einer tief vertrauten, aber vorbewussten Erinnerungandie eigene Herkunft aus dem Mutterleib führt Blumenberg ein phylogenetisches Argument ins Feld:Nach dem kollektiven Austreten aus dem schrumpfenden Regenwald in die offene Savanne habe der Homo erectusnur noch in Erdhöhlen den Schutz,
6 Christian Clot: Deep time. 40 jours sous terre. Une exploration hors du temps. Paris:Robert Laffont 2021.
7 Geissmann weiter:«Das stellen Sie dann schon beim Essen fest, man trinkt einen Wein, die Zeit vergeht, es ist zeitlos hier.» Katja Lückert:Eine Nacht im Felshotel. https://www.deutsch landfunk.de/gotthard-pass-eine-nacht-im-felshotel-100.html [Juli 2024].
8 Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 29.
9 «Die Verweigerung des Angebots, aus dem Dunkel des unterirdischen Schosses ans Licht der Realitäten herauszutreten, muss uns tiefer bekannt sein als irgendeine datierbare und lokalisierbare Erinnerung [ ]; sie muss eine anthropologische Zeitraumtiefe hinter sich haben.» Ebd., S. 25.
die Geborgenheit und die Ruhe finden können, die ihm vormals der dichte Urwald geboten habe. Weil «sich zwar in ihr leben, nicht aber der Lebensunterhalt finden lässt», ist der Höhleninnenraum jedoch immer schon ein Schwellenraum, ein liminaler Ort des Übergangs vom warmen Dunkel einer paradiesischen Vorgeschichte in das kalte Licht der gegenwärtigen Welt,10 denn am Höhlenausgang beginnt eineRisikowelt, die unberechenbar ist und in der prinzipiell allespassieren kann. Angesichts dieser Erfahrung, so Blumenberg, erkenne sich der exponierte Mensch als Mängelwesen und entwickle zur Substitution seine kulturellen Hilfsmittel:«Im Schutz der Höhlen, unter dem Gebot der Mütter, entstand der Widerspruch des freien Schweifens der Zurückbleibenden, entstand die Fantasie.»11
Die Symbole, Mythen, Bilder und Geschichten, welche die vom Jagdbetrieb ausgeschlossenen «Träumer,Erzähler, Narren, Bildermacher, Possenreisser»in der Höhle unter mütterlicher Aufsicht entwerfen, sind auch für die Jäger unverzichtbar, denn sie bieten ihm eine «sekundäreZuflucht».12 Durch die dortige Kulturisationwird das Überraschungs- und Gefahrenpotenzial ihres äusseren Leistungsraums heruntergespielt, der Mangel an Gewissheit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit mit Fiktion kompensiert. «[D]ie Lockungen der Rückkehr in die Höhle»bestehen also darin, dass hier die wirklichen Verhältnisse gemässigt und berechenbar erscheinen.13 Die Höhle wird zum «Möglichkeitsraum»und damit «zum Stützpunkt für die Bewältigung der Wirklichkeit im Vorgriff auf deren Horizonte».14 Wenn es darum geht, «das Abwesende und Ausstehende oder Bevorstehende operabel»zumachen,15 dann spielt das kollektive Geschichtsbewusstsein eine entscheidende Rolle, denn die Rückkehr in die Höhle ist bei Blumenberg immer auch als Rückwendungzum kulturellen Erbe, zu den vergangenen Mysterienund den gemeinsamen Vergangenheitserfahrungen zu verstehen. Höhlen sind vor allem auch «Zufluchtsorte für das Überwundene»16 oder, wie die Literaturwissenschaftlerin Sabine Haupt formuliert, «Reservate des Vergangenen und an der Oberfläche Verschwundenen ».17 Die Beherbergung im umhüllenden Höhlenraum verspricht also nicht nur pränatale Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit, sondern darüberhinaus einebesondere Ausgangslage für Visionsentwicklung, Gemeinschaftsbildung und für die memoria historica.
10 Ebd., S. 29.
11 Ebd., S. 30.
12 Ebd., S. 33, 47.
13 Ebd., S. 55.
14 Ebd., S. 36 (Hervorh. i. O.).
15 Ebd., S. 35.
16 Ebd., S. 551.
17 Sabine Haupt:«Kryptopische»Zeit-Räume. Unterirdische und ausserirdische Topographien als Reservate von Temporalität. In:Hartmut Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur. DFG-Symposion 2004. Stuttgart, Weimar:J.B.Metzler 2005, S. 501–535, hier S. 506.
Auch das Reduit,wie es die Literatur weit über den Ablauf seiner militärischen Nutzbarkeit immer wieder neu hervorbringt, ist ein Medienlaboratorium im Sinne Blumenbergs:ein Schauplatz von Bild- und Geschichtsproduktion und damit ein paradigmatischer Ort des Erzählens, des Schreibens und der Schrift, ein Ort des Abschweifens, ein point of departure für alternative Biografien und abweichende Geschichtsverläufe. Mit der Militarisierung der schweizerischen Alpen ist eine wirkmächtige Imaginationsgeschichte verbunden, die sich heute noch fortschreibt. Die vorliegende literaturwissenschaftliche Untersuchung bringt die imaginativen Anteile dieser Militärstrategie erstmals in einen Gesamtzusammenhang und schreibt damit eine andere,ingewisser Weise komplementäre Literaturgeschichte der Alpen. Am Ausgangspunktder hier versammelten Werke steht die ambivalente Faszination, die vom Reduit als Motiv, Topos und Schauplatz ausgeht. Anstelle der bekannten idealisierten und idyllisierten Naturlandschaft kommt so eine unsichtbar im Untergrund schlummernde,oftmals technisch überformte und durchwegs obskure Bedeutungswelt zum Vorschein. Für ihre Analyse ist ein Faktorvon besonderem Interesse, der auf den ersten Blick in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Artilleriewerken, Bunkern und Stollen des Reduits zu stehen scheint:der Faktor Zeit. Die Studie fragt spezifisch nach den imaginären Zeitkonzeptionen, die mit literarischen Reduitnarrativen verbunden sind. Mit dem Fokus auf das besondere Raum-Zeit-Verhältnis, das dem Reduitschauplatzmit seinen Schächten, Tunneln und Höhlen eignet, kommen Zeitkonzeptioneninden Blick, die jeweils über den nationalen Rahmen hinausweisen und in grundsätzlicher Weise die gewohnten kalendarisch-linearen Zeitauffassung infrage stellen. Die These lautet, dass das Reduit seine langfristige Wirkmacht als literarischer Topos weniger in seiner militärischen Funktion als vielmehrinseiner verborgenen Eigenschaft als Reservat heterogener Eigen- und Anderszeiten hat. Bevor auf diese chronotopische18 Dimension spezifisch eingegangen wird, gibtdas erste Unterkapitel dieser Einführung einen kurzen Überblick in die bisherige militär- und kulturhistorische Forschung zum Thema.
18 Das Konzept des Chronotopos hat der Literaturtheoretiker Michail Bachtin in die Romananalyse eingeführt, um «[d]en grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen »zubeschreiben. S. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen übersetzt von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin:Suhrkamp 2008, S. 7.
Das réduit national19 ist das monumentale Vermächtnis einer Verzweiflungstat. Als sich die Schweiz nach dem überraschenden Zusammenbruch Frankreichs am 20. Juni 1940 durch die Achsenmächte vollständig eingekreist sah und eine integrale Verteidigung des nationalen Territoriums nicht mehr leisten konnte,20 entschied sich der schweizerische Generalstab für eineradikale Notlösung:Das eingeschlosseneLand würde auch in Anbetracht der faschistischen Übermacht Widerstand leisten – wenn auch nicht an der Grenze, so doch in den Bergen, in einem Gelände, das für die deutschen und italienischen Panzerund Flugmaschinen unpassierbar sein würde.Umdort den Feind in einem partisanenhaften Gebirgskrieg so lange wie möglichaufreiben zu können, wurde zwischen St-Maurice im Westen und Sargans im Osten vorsorglich ein dezentrales, weitverzweigtes Bunkernetzwerk gegraben:Infanteriebunker, Artilleriefestungen, Tunnelsysteme, unterirdische Munitions- und Treibstoffdepots wurdeninGneis und Granit ein-
19 Der Begriff réduit national ist streng militärgeschichtlich genommen nur für die Kriegsjahre 1940–1945 gültig im Sinne der von General Guisan ausgegebenen Operationsbefehle Nr. 11–13. Allerdings werden 1947 innerhalb der Festungstruppen drei Reduitbrigaden (Berner Oberland, Ob- und Nidwalden/Oberhasli und Innerschweiz)neu geschaffen und auch die Gebirgsbrigaden wurden damals neu als Reduitbrigaden bezeichnet. Ab 1951 spricht man dann von Festungsbrigaden, die mit der Armeereform 61 dem Gebirgsarmeekorps 3unterstellt und 2003 ebenfalls abgeschafft wurden.
20 Die schwach motorisierte Armee war wenig mobil. Selbst für eine vorgeschobene Stellung im Mittelland hatte sie zu wenig Tiefe:Kaum Panzer- und Fliegerabwehr, nur wenige moderne Jagdflugzeuge standen zur Verfügung und auf ausländische Hilfe konnte nicht gezählt werden, seit Frankreich kapituliert und Grossbritannien sich auf dem Kontinent zurückgezogen hatte. Deshalb wurde mit dem zwölften Operationsbefehl vom 25. Juli 1940 entschieden, die Front dergestalt zu verkürzen, dass ihre Ausdehnung in Proportion zu den verfügbaren Kräften stand. So wurde gleichzeitig der Möglichkeit Rechnung getragen, dass ein Angriff von allen Seiten her erfolgen könnte. Spezifisch zum Reduit und zur Debatte über die dissuasive Wirkung gibt es selbstredend eine grosse Anzahl militärhistorischer Studien. Beispielsweise Hans Senn: Der schweizerische Generalstab,Bd. 7: Anfänge einer Dissuasionsstrategie während des Zweiten Weltkrieges. Basel, Frankfurt a. M.: Helbing &Lichtenhahn 1995;Georg Kreis:Vier Debatten und wenig Dissens. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 4, 1997, S. 451–476;Jakob Tanner:«Réduit national»und Aussenwirtschaft. Wechselwirkungen zwischen militärischer Dissuasion und ökonomischer Kooperation mit den Achsenmächten. In:Philipp Sarasin, Regina Wecker (Hrsg.): Raubgold, Reduit, Flüchtlinge. Zur Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zürich:Chronos 1998, S. 81–103. Zum schweizerischen Verteidigungsdispositiv im Juni 1940 vgl. Jakob Tanner:Die Ereignisse marschieren schnell. Die Schweiz im Sommer 1940. In: Andreas Suter, Manfred Hettling (Hrsg.): Struktur und Ereignis, Geschichte und Gesellschaft. Göttingen:Vandenhoeck &Ruprecht 2001, S. 257–282. Ich beziehe mich für das Folgende primär auf den militärhistorischen Überblick von Rudolf Jaun: Geschichte der Schweizer Armee. Vom17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Zürich:Orell Füssli 2019.
betoniert, zudem Standseilbahnen und versteckte Flugplätze eingerichtet. Insgesamt wurde das nationaleTerritorium um gut 250 Kilometer Stollenlänge in das Innere der Alpen erweitert.
Der strategische Rückzug in die Alpen kam der faktischen Preisgabe territorialer Integrität gleich. Es war nicht die Idee Henri Guisans, sondern der Vorschlag des Basler Obersts Oscar Adolf Germann, Front und Hinterland zu vertauschen.21 An der Grenze wäre ein deutscher Angriff nur leicht verzögert worden, um währenddessen die dort stationierten Streitkräfte in den operativ bedeutsamen Zentralraumzuverschieben (s.Abb. 4).Nachdem man die Zufahrtswege gesprengt und die potenziellen Aufmarschgeländekünstlich überflutet hätte, wären in dieser stark begrenzten Hauptwiderstandszone im Besonderen die Alpendurchstiche am Gotthardund Simplon verteidigt oder aber, im Worst Case, gezielt gesprengt worden, um sie dem deutsch-italienischen Zugriff für immer zu entziehen. Eine dissuasive Wirkungerhoffte sich die Armeeführung also durch zwei Aspekte:Erstens wurde darauf spekuliert, dass die auf Blitzkrieg spezialisierteWehrmacht einen langen, verlustreichen Gebirgskrieg scheuen würde. Zweitens drohte man den Achsenmächten, die für ihre Kriegswirtschaft hochwichtigen Alpentransversalen zu zerstören.
Wiegenau derKampf an denReduiteingängen hättegeführt werden sollen, darüberweiss selbst dieheutige Militärgeschichtewenig.22 Fest steht, dass Hitler Verbände zumAngriffauf dieSchweiz bereitstellteund Aufklärung betrieb, wie KlausUrner 1990 mitQuellen ausdem Führerhauptquartierhat nachweisenkönnen.23 Fest stehtaberauch, dass diemeisten dieser Bauten erst 1942 einsatzbereit waren – zu einemZeitpunkt also,andem sich dieGefahreines deutschenAngriffs aufdie Schweizbereits deutlich verringert hatte.24 Undobschon dieArmeeführung dieZentralraumstellung bereits1944wieder aufgab undbei Anrücken derAlliiertendie Bataillone zurück an dieGrenzebeorderte,wurdedas unterirdischeBunkernetzwerkinden folgendenJahrzehnten massiv ausgebaut. DieArmee rüstete dieAnlagen mitden neustenWaffennach undbrachte sieauf denaktuellenStand derTechnik,wozuauchSchutzmassnahmengegen atomare, biologischeund chemische Waffen gehörten.25 Es warenenormeBudgets,die derBundimKalten
21 Vgl. Willi Gautschi: General Henri Guisan. Die schweizerische Armeeführung im Zweiten Weltkrieg. Zürich:Verlag Neue Zürcher Zeitung 1989, S. 298.
22 Rudolf Jaun:Militärgeschichte zwischen Nischendasein und massenmedialer Aufmerksamkeit. In: Traverse 20, 2013, S. 123–140, hier S. 132 f.
23 Klaus Urner: «Die Schweiz muss noch geschluckt werden!» Hitlers Aktionspläne gegen die Schweiz. Zwei Studien zur Bedrohungslage der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zürich:Verlag Neue Zürcher Zeitung 1990.
24 Vgl. Gautschi:General Henri Guisan, S. 176.
25 Ausgangspunkt für weitere Geländeverstärkungen war die Konzeption der militärischen Landesverteidigung des Bundesrats von 1966, die vor allem der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen Rechnung trug.
Kriegzur Modernisierung undErweiterung derintramontanen Militäranlagen zur Verfügungstellte.26 Wasimletzten Weltkriegals militärischerNotbehelf füreine konventionelleInvasionkonzipiertwordenwar, erschien auch unterden nuklearenBedingungen einesmöglichen drittenWeltkriegsplausibel,und so wurdedie Befestigungsgeschichte in derSicherheitslogikdes Kalten Kriegs fortgeschrieben –alsDefensivantwortauf Atom-und Wasserstoffbomben ausder Luft.27
Weil die Erfahrung der Unversehrtheit im Zweiten Weltkriegdirektauf die Alpenbunker zurückgeführt wurde, speiste sich, wie Thomas Maissen betont,ein quasireligiöser Glaube an die Unantastbarkeit der unterirdischen Überlebensinseln.28 Was genau die Alpen an militärischer Infrastruktur verbergen, war bis zum Ende des letzten Jahrhunderts streng geheim. Die klassifizierten Objekte wurden mit falschen Dächern, aufgemalten Fenstern und Landschaftsattrappen aufwendig getarnt und somit fastunsichtbar in die alpine Landschaft integriert. Die strikte Geheimhaltung hat massgeblich zur Legendenbildung rund um das Reduit beigetragen. Zahlreiche Bildbände, Fotostrecken und Videodokumentationen zeugen heute noch von einer ungebrochenen Faszinationfür die verborgene Sicherheitsarchitektur und für die vielfältigen Techniken der Camouflage.29
Seit 1998 versucht das Bundesamt für Rüstung armasuisse, die ausgemusterten Objekte abzustossen, und verkauft die «marktfähigen»Sperrstellen und TiefenbunkeranPrivate. In physikalischer und klimatischer Hinsicht macht sie die konstant niedrige Temperatur von 12 bis 14 8Cund die hohe Luftfeuchtigkeit von rund 90 Prozent zu geeigneten Wein-, Whisky und Käselagern und ideal für industrielle Edelpilzkulturen.30 In den Bunkerbrachen sind ausserdemServerräume für Kryptomining eingerichtet worden.Die Umnutzung des Reduitsals Datenbunker passt schliesslich vorzüglich zum Narrativ der Sicherheit. Andere
26 Vgl. Thomas Buomberger: Die Schweiz im Kalten Krieg 1945–1990. Baden:Hier und Jetzt 2017, S. 33.
27 Vgl. Gustav Däniker:Zurück zur Strategie. Konsequenzen des neuen Kriegsbildes für die schweizerische Landesverteidigung. In: Si vis pacem:Militärische Betrachtungen von Schweizern. Festschrift für Georg Züblin zum 60. Geburtstag. Frauenfeld:Huber 1964, S. 84–101.
28 In einem «zivilreligiösen Auserwähltheitsglauben», schreibt Maissen, «richtete sich die Schweizer Nachkriegsgeneration auf ein Leben unter dem Boden ein». Thomas Maissen:Auserwähltes Volk – unter dem Boden. In:Sylvia Rüttimann, Monika Hardmeier (Hrsg.): Im Untergrund. Below ground level. Nürnberg:Verlag für moderne Kunst 2007, S. 81–84, hier S. 84.
29 So widmete beispielsweise die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte den sechsten Band ihrer Reihe zu ungewöhnlichen Aspekten Schweizer Architektur der besonderen Ästhetik der Festungsanlagen:Juri Jaquemet, Thomas Bitterli, Maurice Lovisa, Michael Peuckert: Festungen in der Schweiz =Fortifications de Suisse. Bern:Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 2017. S. auch den Bildband von Christian Schwager:Falsche Chalets. Zürich: Edition Patrick Frey 2004. 2021 veröffentlichte der Fotograf Reto Sterchi eine Fotostrecke bei National Geographic: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2021/02/reduitdas-geheime-militaerbunker-netzwerk-der-schweizer-alpen [Juli 2024].
30 Beispielsweise https://www.gotthardbiopilze.ch[Juli 2024].
Bunkeranlagensind nach der Entklassifizierung von privaten Vereinen aufwendig als Militärgeschichtsmuseen für den Tourismus hergerichtet worden. Allerdings haben sich die Reduitobjekte unterdessen aufgrund der immensen Stromkosten für viele Investoren und Vereine als untragbareHypotheken erwiesen –und so entzieht sich das Reduit auch nach der endgültigen militärischen Preisgabe der Öffentlichkeit wieder.
So gewaltig die materiellen Einschreibungen in die Alpen auch sind, die man zur militärischen Sicherung der Kernzone in mühsamer Arbeit vorgenommen hat – nur als Produkt des sozial Imaginären wird dieser Militärstrategie kollektiver Wert zugesprochen. Die Alpen sind bekanntlich das «Massensymbol» der Schweiz, und zwar eines, das so «unerschütterlich ist wie das keines anderen Volkes», wie Elias Canetti glaubte.31 Man könnteauch sagen, dass mit dem Reduit, das ab 1940 im grossen Stil in die Berge getrieben wurde,ein imaginäres Konzept in eine militärische Strategie übergeht, die selbst wiederum zum Ausgangsund Fokuspunkt schweizerischer Identitätsdiskurse wird. Jakob Tanner spricht von einem «Metaort der staatlichen Bedeutungswelt», der «das ganze Erinnerungsarsenalund das magischeBilderrepertoireder gesamten schweizerischen Eidgenossenschaft»umfasst habe.32 Dieses ‹Erinnerungsarsenal› ist gut untersucht. So hat der Historiker Guy P. Marchal bereits 1990 nachgezeichnet, wie Bilder und Narrative unterschiedlicher Provenienz einen nationalen Identifikationsraum formiert hätten, in dem der unvermeidbar gewordene Rückzug in die Alpen 1940 verstanden worden sei. Die Strategie für sich sei «keinesfalls selbstverständlich»gewesen, wenn nicht damit «die ideell schon längst entworfene Sendung der Schweiz, für Europa Hüterin am Gotthard zu sein, militärisch umgesetzt»worden wäre:
In diesem granitenen Felsen verteidigte man die Essenz der Schweiz, sicherte man ihre Daseinsberechtigung für die Zukunft. [ ]Das Réduit schützte den Staat, nicht die Bevölkerung;aber mit dem Staat schützte es ‹das nationale Erbe›.Nur vor diesem bewusstseinsmässigen Hintergrund ist es zu verstehen, warum damals das Volk von den nagenden
31 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1980 [1960], S. 192 f. Weiter heisst es dort:«Die Verteidigungspläne der Schweiz während der beiden vergangenen Kriege bringen diese Gleichsetzung ihrer Nation mit der Alpenkette selbst auf merkwürdige Weise zum Ausdruck. Alles fruchtbare Land, alle Städte, alle Stätten der Produktion hätten im Falle eines Angriffs geräumt werden sollen. Die Armee hatte sich auf die eigentliche Kette der Berge selbst zurückgezogen und dort erst gekämpft. Volk und Land wären geopfert worden. Aber die Armee auf den Bergen hätte weiter die Schweiz vorgestellt und das Massensymbol der Nation war zum Lande selbst geworden.»
32 Jakob Tanner:Die Krise der Gedächtnisorte und die Havarie der Erinnerungspolitik. Zur Diskussion um das kollektive Gedächtnis und die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges. In: Traverse 6, 1999, S. 16–38, hier S. 30.
Zweifeln erlöst wurde und so begeistert auf den am 25. Juli 1940 ausgegebenen Réduitbefehl reagierte.33
Jüngere Forschungen haben zwar gezeigt, dass die totale gesellschaftliche Akzeptanz des Reduitkonzepts, wie sie Marchal hier fast feierlich beschreibt,34 selbst ein Produkt der Geschichtsschreibung sei. So hat das Oral-History-Projekt Archimob offengelegt, wie differenziert und auch widersprüchlich das Meinungs-und Stimmungsbild in der Bevölkerung diesbezüglich gewesen sei und dass auch die Aktivdienstgeneration in den Kriegsjahren keineswegs so homogen eingestellt gewesen sei wie oft gedacht.35 Dennochist Marchals Aussage natürlich richtig, dass Guisans Reduit in einen weiteren ideengeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden muss. Die motivischen Elemente und wirkmächtigen Bilder, vor deren Hintergrund die realisierte Militäroption akzeptiert werden konnte, verfolgt er bis ins späte Mittelalter zurück, als die mediale Geografie der Alten Eidgenossenschaft erstmals bewusst auf die Alpen zentriertwurde. Marchals wegweisendeStudiereiht sich in eine Vielzahl metahistorischer Publikationenein,die zu Beginn derNeunzigerjahreerschienenund sich mitder Konstruktion nationaler Identitätbefassten.36 Eric Hobsbawmsund TerenceRangers Thesevon der Invention of Tradition (1983) folgend, untersuchten Historiker: innenmit kulturwissenschaftlichen Methoden diegegenwärtigen undhistorischen Alpen- undGeschichtsbilder. VieledieserideologiegeschichtlichenBeiträgestehen in einemexpliziten Zusammenhang mit derumstrittenenBundesfeiervon 1991,
33 Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel:Schwabe 2007, S. 158 f.
34 Marchal bezieht sich dafür auf einen Zeitungsartikel von Paul Rosenkranz:Réduit und Rütlirapport. Die Schweiz nach dem Fall von Frankreich. In: Bündner Tagblatt,11. Mai 1981.
35 Archimob: Archive der Zeit des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz. 383 deutschsprachige Zeitzeugen. Vereinigung Archimob 2000. S. auch http://archimob.ch [Dezember 2022]. Vgl. weiter Christof Dejung:Dissonant memories. National Identity, Political Power, and the Commemoration of World War Two in Switzerland. In: Oral History 35:2, 2007, S. 57–66. Viele Soldaten fühlten sich mit dem Reduit verraten und konnten den Entscheid nicht nachvollziehen, dass sich die Armee fortan nur selbst schützen würde. Selbst ein Korpskommandant wendet in einer Armeekonferenz Anfang Juli 1940 noch ein, es habe doch «keinen Sinn, Gebirgsstöcke und Gletscher zu verteidigen, wenn das Mittelland mit seinem reichen volkswirtschaftlichen Ertrag samt dem Grossteil des Schweizervolks kampflos dem Feinde preisgegeben wird». Aus gutem Grund verschwiegen die öffentlichen Mitteilungen der Armeeleitung vom Sommer 1940 allesamt den genauen Inhalt des neuen Verteidigungsdispositivs. Noch die 1943 in grosser Auflage verteilte Propagandaschrift Wir halten durch spricht mit keinem Wort vom Reduit. Max Hofer: Wir halten durch. Zürich:Aschmann &Scheller 1943. 36 Dieser umfangreiche Aufsatz zum Geschichtsbild von den ‹Alten Eidgenossen› im Wandel der Zeiten vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist erstmals erschienen in: Historischer Verein der Fünf Orte (Hrsg.): Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft,2.Bd. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft. Olten:Walter 1990, S. 307–403.
mitder dieoffizielleSchweiz noch einmal – wiezuZeitender GeistigenLandesverteidigung – Arbeit am Mythos von«1291»betrieb.37 AlsReaktion darauf formierte sich «einekleineGeschichtsbewegung»,deren erklärtesZiel«dasBlossstellen» deralten Legenden undMythenwar 38 Buchtitelwie Aufwen schoss Tell? Beiträgezueiner Ideologiegeschichteder Schweiz (1991), ErfundeneSchweiz.Konstruktionennationaler Identität (1992), Bauern,Hirtenund «frume edle puren». Bauern-und Bauernstaatsideologieinder spätmittelalterlichenEidgenossenschaft undder nationalen Geschichtsschreibung derSchweiz (1992) oder Sonderfall?Die SchweizzwischenRéduit undEuropa (1992) machen diedekonstruktiveStossrichtung dieser Forschungendeutlich.39
Ein nächster Anlass für kritische Studien über die helvetischen Selbstbilder bot das Jahr 1998. Die Erinnerungandie Gründungdes liberalenBundesstaats von 1848 sahen viele Historiker:innen als Chance, um eine nationale Erzählung stark zu machen, die weniger auf die Alpen fokussieren und stattdessen die fortschrittlichen demokratischen Institutionen und die Guten Dienste ins Zentrum rücken würde.40 Seither sind viele weitere Untersuchungen zum alpinen Bildhaushalt und zur schweizerischen Kulturpolitik erschienen, in denen die Kritik an der Ideologisierung von Landschaft weiter ausdifferenziert wird. Hervorzuheben ist insbesondere Ursula Amreins Habilitationsschrift «Los von Berlin!» Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das «Dritte Reich» (2004), in der
37 In diesem «Jubeljahr», das der Bund zum 700-Jahr-Jubiläum verordnete, sollte das «Erbe als Auftrag»hochgehalten werden. Eduard Stäuble, Erwin Jaeckle: Grosse Schweizer und Schweizerinnen. Erbe als Auftrag. Hundert Porträts. Stäfa:Gut 1990.
38 Silvia Ferrari, Dominik Siegrist:Unterwegs zu einer Ideologiegeschichte der Schweiz. In: Silvia Ferrari, Alex Anderfuhren (Hrsg.): Auf wen schoss Wilhelm Tell?Beiträge zu einer Ideologiegeschichte der Schweiz. Zürich:Rotpunktverlag 1991, S. 7–20, hier S. 8, S. 9.
39 Guy P. Marchal, Aram Mattioli (Hrsg.): Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität =LaSuisse imaginée. Bricolages d’ une identité nationale. Zürich:Chronos 1992;Matthias Weishaupt: Bauern, Hirten und «frume edle puren». Bauern- und Bauernstaatsideologie in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft und der nationalen Geschichtsschreibung der Schweiz. Basel, Frankfurt a. M.: Helbing &Lichtenhahn 1992;Anna Maria Ronzani: Sonderfall? Die Schweiz zwischen Réduit und Europa. Leitfaden für LehrerInnen und SchülerInnen zur Ausstellung «Sonderfall?Die Schweiz zwischen Réduit und Europa», 19. August bis 15. November 1992 im Schweizerischen Landesmuseum Zürich. Zürich:Schweizerisches Landesmuseum 1992. 40 Barbara Welter: Die Erfindung der Schweiz 1848–1998. Bildentwürfe einer Nation. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich zum 150jährigen Bestehen des Schweizerischen Bundesstaates und zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums. Zürich:Schweizerisches Landesmuseum 1998;Catherine Bosshart-Pfluger, Albert Tanner, Urs Altermatt (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert. Zürich:Chronos 1998;Manfred Hettling, Martin Schaffner, Mario König, Andreas Suter, Jakob Tanner (Hrsg.): Eine kleine Geschichte der Schweiz. Der Bundesstaat und seine Traditionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998;Jattie Enklaar, Hans Ester (Hrsg.): Vivat Helvetia. Die Herausforderung einer nationalen Identität. Amsterdam:Atlanta 1998.