Philosophische Ästhetik
Schwabe Verlag
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Korrektorat:Anna Ertel, Göttingen
Cover:icona basel gmbh, Basel
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert &Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5189-5
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5190-1
DOI 10.24894/978-3-7965-5190-1
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Jochen Briesen, ChristophDemmerling, Lisa Schmalzried: Einführung: Ästhetik als Teilbereich der Philosophie
Teil I. Ästhetische Eigenschaften
Maria Elisabeth Reicher: Was sind ästhetische Eigenschaften?
Birgit Recki:
Larissa Berger: Erhabenheit –
Teil II. Ästhetische Objekte
Lukas Daum, Reinold Schmücker: Kunst als ästhetisches
Lisa Schmalzried: Der Mensch als ästhetisches Objekt
Martin Seel: Über das Verhältnis
Olaf Müller: Abstrakte Gegenstände und deren ästhetische Eigenschaften?.
Teil III. Ästhetische Erfahrung und Urteil
Jakob Steinbrenner: Ästhetische Erfahrung
Jochen
Teil IV. Das Schöne, das Gute und das Wahre
Íngrid Vendrell Ferran: Ästhetik und Ethik
Christoph Demmerling: Kunst und Erkenntnis
Sarah Hegenbart: Ästhetik und Intersektionalität
Ästhetik als Teilbereich der Philosophie
Jochen Briesen, Christoph Demmerling, Lisa Schmalzried
Dieses Handbuch will seine Leser*innenindie philosophische Ästhetik einführen und ihnen einen Überblick über zentrale Themen dieses Teilbereichs der Philosophie vermitteln. Mithilfe der Beiträgesollen die Leser*innenein Gefühl für die Problem-und Fragestellungen der einzelnen ästhetischen Themenbereiche bekommen und zentrale historische und zeitgenössische Positionen und Theorien kennen-und verstehen lernen. Hiervon ausgehend sollen sie diese eigenständigweiterdenken und bearbeiten können. Gleichzeitig sollen die Beiträge auch unterschiedliche Zugänge zu ästhetischen Fragestellungen vorstellen. Einige Beiträge sind eher systematisch, andere historisch ausgerichtet, und es finden sowohl analytisch als auch phänomenologischoder hermeneutisch geprägteZugänge einen Platz. Unser Handbuch versteht sich somit als Einladung an unsere Leser*innen, sich von der philosophischenÄsthetik und deren Vielfalt begeistern zu lassen.
Ehe jedoch die nachfolgenden Beiträge in die einzelnen Themen und Fragestellungen eintauchen, stellt sich zu Beginn dieses Handbuchs die Frage, was die philosophische Ästhetik als philosophische Disziplin auszeichnet.Unter Philosoph*innen, die sich mit der Ästhetik beschäftigen, besteht keine Einigkeit darüber, wie genau man diese Frage beantworten soll. In dieser Hinsicht teiltdie Ästhetik das Schicksal der Philosophie im Allgemeinen. Ebenso wie man auf die Frage, was Philosophie ist, unterschiedliche Antworten findet, trifft dies auch auf die Frage, was Ästhetik ist, zu. Im erstenTeil dieser Einleitung werden wir daher zunächst einige gängige Charakterisierungen der Ästhetik als philosophischer Disziplin diskutieren(s. Abschnitt 1).
Im zweiten Teil gehen wir dann explizit den Fragen nach, wie sich die Ästhetik erstens zu anderenphilosophischen Teilbereichen sowie zweitens zu nichtphilosophischen, aber dennoch verwandten Disziplinen verhält (s.Abschnitt 2).Die erste dieser Fragen ist insofern interessant, als die philosophische Ästhetik erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts als eigenständige philosophische Disziplin wahrgenommenwird, ästhetische Themen aberauch vor dieser Zeit von Philosoph*innen behandelt wurden. So wurdenFragen, die wir heute als klassisch ästhetische bezeichnen, wie beispielsweisejene nach der Aufgabe von Kunst oder dem Wesen der Schönheit, bereits in der Antike und im Mittelalter diskutiert, ohne dass sie zu dieser Zeit als ästhetische Fragestellungen ausgezeichnet wurden(siehe z. B. Beardsley 1966). Häufig wurdensie im Zuge moralphilo-
sophischer oder politischer Überlegungen, erkenntnistheoretischer Probleme oder religiöser Themen aufgegriffen. Daher drängt sich die Frage auf, ob und wie sich die Ästhetik von anderen philosophischenDisziplinen abgrenzt.
Diezweite oben angeführte Frage nach dem Verhältnisder Ästhetik zu verwandten nichtphilosophischen Disziplinen istebenfalls interessant. Denn Disziplinenwie beispielsweise die Kunst- oder Literaturwissenschaftenoder dieempirische Ästhetik befassen sich nicht nur mit zum Teil sehr ähnlichen Gegenstandsbereichen,sondern liefern zumTeil auch Ergebnisse, auf die im Rahmender philosophischen Ästhetikzurückgegriffen wird. DieFrage, ob und wiesich die philosophischeÄsthetik vonverwandten nichtphilosophischen Disziplinen unterscheidet, wirddaher ebenfalls im zweiten Teil dieser Einleitung behandelt.
Im dritten Teil werden wir dann einen kurzen Überblick über die in diesem Handbuch herausgegriffenen Themenbereiche und Fragestellungen sowie über den jeweiligenArgumentationsgang der einzelnen Beiträge liefern.
1. Ästhetik als philosophische Disziplin
Was zeichnet die philosophische Ästhetik aus?Umdiese Frage zu beantworten, bietet es sich an, zwei untergeordnete Fragen zu adressieren:(1) Wasist der Gegenstandsbereich der philosophischen Ästhetik?(2) Mit welchenFragestellungen beschäftigt sich die philosophische Ästhetik?Die bereits angesprochene Uneinigkeit darüber, was die philosophische Ästhetik ist, überträgt sich auch auf die Beantwortung dieser beiden Unterfragen. Sowohl der genaue Gegenstandsbereich als auch die Fragestellungen der Ästhetik werden unterschiedlichbestimmt. Diese Uneinigkeit erschwert die Suche nach einer theoretisch befriedigenden Charakterisierung der Ästhetik als philosophischer Disziplin und wirft die Frage auf, wie man entscheiden soll, welche Charakterisierung zu bevorzugen ist.
Im Folgenden werden wir die Definitionsvorschläge und Antworten auf die Fragen (1) und (2)vor dem Hintergrund eines philosophisch informierten und möglichstinklusiven Verständnisses dessen, was Ästhetik ist, diskutieren. Wir greifen also auf unsere Kenntnisder Ästhetik als philosophische Disziplin zurück, so wie sie zurzeit betrieben wird. Soweit möglich, möchten wir nicht sagen, was die Ästhetik sein sollte, sondern versuchen, sie unvoreingenommensozu beschreiben, wie sie heute im Rahmen unterschiedlicher Traditionen betrieben wird.
Begibt man sich auf die Suche nach einer angemessenen Definition der philosophischen Disziplin der Ästhetik, kommt man nicht umhin, zunächst auf ihren Namensgeber Alexander Baumgarten zu verweisen.Erstmals definierte er die Ästhetik 1735 in seiner Magisterarbeit Meditationes philosophicae de nonnul-
lis ad poema pertinentibus (Baumgarten 1983). Bekannt wurde seine Definition, die er 1750 in seinemzweibändigen Werk Aesthetica gab:«DIE
ÄSTHETIK
(Theorie der freien Kunste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönenDenkens, Kunst des Analogonsder Vernunft)ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.» (Baumgarten 2007, 11)
Baumgartens Denken ist stark durch Leibniz und Wolff geprägt und zugleich will er sich von beiden Denkern abgrenzen. So verfolgt er das Ziel, den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung als eigenständigen und dem der Vernunft und des Verstandes nicht untergeordneten Erkenntnisbereich zu verteidigen. Die philosophische Disziplin, die sich mit diesem Bereich der Erkenntnis beschäftigt, bezeichneterals «Ästhetik». Hier spielt die Auseinandersetzung mit der Schönheit, als der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, eine ebenso zentrale Rolle wie die Frage, wie in der Kunst Schönheit dargestellt werden kann. Bei Baumgarten ist die Ästhetik demnacheinerseits Teilgebiet der Erkenntnistheorie, die sich mit den unterensinnlichen Erkenntnisvermögen beschäftigt, andererseits beschäftigt sie sich mit dem Schönen und der Kunst. Themader Ästhetik sind die Wahrnehmung durch die Sinne, Fähigkeiten wie die Imagination, das Gedächtnis oder die Intuition. Sie befasst sich mit Fähigkeiten, die eine Art von Erkenntnis ermöglichen, die von begrifflicher Erkenntnis zu unterscheiden ist. Ziel der Ästhetik ist es nach Baumgarten aber nicht nur, die unteren Erkenntnisfähigkeiten zu beschreiben, sondern sie zu kultivieren. Und an dieser Stelle kommt die Auseinandersetzung mit dem Schönen und der Kunst ins Spiel. Auch wenn Baumgartens ästhetische Theorie seine Zeitgenossen und direkten Nachfolger, allen voran Kant und Schiller, stark beeinflusst hat, wird Baumgarten heutzutage meist nur als Namensgeber der Ästhetik genannt, ohne dass seiner Aesthetica die gleiche philosophische Aufmerksamkeit geschenkt würde wie anderenklassischen ästhetischen Schriften. Auch wir müssen in dieser Hinführung davon absehen, die Tiefen von Baumgartens ästhetischer Theorie auszuloten (siehe hierzu z. B. Franke 2018). Vielmehr wollen wir im Folgenden drei weniger theoretisch aufgeladene Verständnisse von Ästhetik ansprechen:Ästhetik (1) als Lehre des Schönen, (2)als Kunstphilosophie und (3)als philosophische Theorie des Ästhetischen.
1.1 Ästhetik als philosophische Theorie der Schönheit
Die Blütezeit der Ästhetik begann Mitte des 18. Jahrhunderts und endete Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Tod Hegels. Viele namhafte Philosophen dieser Zeit haben sich auch mit ästhetischen Themen beschäftigt und so sind zentrale Werke der Ästhetik entstanden, wie beispielsweise Hutchesons An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (2004 [1725]), Burkes APhilosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (2008
[1757]), Humes Of the Standard of Taste (1985a [1757]), Kants Kritik der Urteilskraft (1963 [1790]), Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (2000 [1795]) oder Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1971 [1835–1838]). Wirft man einen Blick in diese Werke, fällt auf, dass sie sich alle auf die eine oder andere Weise mit einem Thema beschäftigen:Schönheit. Und so mag man – zumindest mit Blick auf die klassische Blütezeit der Ästhetik – dem Duden recht geben, der die Ästhetik als die «Wissenschaft, Lehre vom Schönen»(2023) bestimmt.
Folgt man diesem Verständnis, so umfasst der Gegenstandsbereich der Ästhetik zum einen Schönheit und zum anderen das Schöne, also schöne Dinge, Personen oder Landschaften und vieles andere mehr. ÄsthetischeFragestellungen sind entsprechend solche, die sich um die Schönheit und das Schöne drehen. Zu diesen gehört allen voran die Frage, was Schönheit ist, d. h. ob und wie man «Schönheit»definieren kann. Verbunden hiermit ist die Frage, ob Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Klassisch objektivistische Schönheitstheorien verneinen dies, insoweit sie Schönheit als bewusstseinsunabhängige Eigenschaft begreifen. So beurteilt und erfährt man einen Gegenstand als schön, weil er schön ist –es ist demzufolge der beurteilte Gegenstand, dem die Eigenschaft der Schönheit zukommt. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob es objektgebundene hinreichende oder notwendige Kriterien der Schönheit gibt und welche dies gegebenenfalls sind. Subjektivistische Schönheitstheorien betonen im Gegensatz dazu die (starke)Bewusstseinsabhängigkeit von Schönheit. So ist etwas schön, weil wir es als schön erfahren. Im Rahmen einer solchen subjektivistischen Theorie beschreibt eine Aussage wie z. B. «Diese Blume ist schön»weniger die Blume als vielmehr unsere jeweiligen mentalen Zustände und Prozesse. Die Aussage «Diese Blume ist schön»ist also in gewisserHinsicht gleichbedeutend mit «Diese Blume gefällt mir». Im Rahmen dieser subjektivistischen Ansätze verschiebt sich das Augenmerk daher auf unsere Schönheitserfahrung. Gibt es eine besondere Erfahrung der Schönheit, wie kann man sie gegebenenfalls beschreiben und wie unterscheidetsie sich von anderen Erfahrungen?
Zu den klassischen Themen rund um Schönheit gehört auch die Frage, was dazu befähigt, Schönheit zu erfahrenbzw. gegebenfalls zu erkennen, wenn Schönheit eine Eigenschaft der Objekteist. So wird diskutiert, ob es einen besonderen Schönheitssinn gibt und wie dieser zu beschreiben ist. Will man für keinen solchen Schönheitssinn argumentieren, stellt sich dennoch die Frage, ob es bestimmte Bedingungen gibt, die Rezipient*innenerfüllenmüssen, um Schönheit erfahren zu können. Neben diesen allgemeinen Fragen in Bezug auf Schönheit kann man sich auch auf das einzelne Schöne konzentrieren, sei es das schöne Kunstwerk, der schöne Mensch oder die schöne Landschaft. Auch hier kann überlegt werden, was beispielsweise Kunstschönheit, menschliche Schönheit oder Naturschönheit auszeichnet,wie sie erfahrenwird, was ihre Wirkung ist oder was die Voraussetzungen sind, sie zu erfahren.
10 Jochen Briesen, Christoph Demmerling, Lisa Schmalzried
Diese sicher nicht vollständige Auflistung von Fragestellungen vermittelt einen ersten Eindruck davon, womit sich die Ästhetik beschäftigt, versteht man sie als philosophische Lehre des Schönen.Wie auch einige Beiträge dieses Handbuchs zeigen, sind dies zweifellos zentrale Fragestellungen der ästhetischen Debatte (siehe Beiträge von Recki und Schmalzried). Jedoch werden Fragen rund um Schönheit und das Schöne seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der ästhetischen Debatte immer weniger diskutiert (siehe im Detail hierzu z. B. Schmalzried 2022, 3–11). Und auch wenn in den letzten Jahren wieder ein zunehmendes philosophisch-ästhetisches Interesse an der Schönheit und dem Schönen zu beobachten ist, lässt sich der Gegenstandsbereich der Ästhetik nicht auf Schönheit und das Schöne eingrenzen,ohne hierbei zentrale ästhetische Fragestellungen und Themen außen vor zu lassen.Dies lässt sich exemplarisch veranschaulichen, wenn man an folgende zwei Gruppen von ästhetischen Fragestellungen denkt: Zum einen ist Schönheit zwar zweifellos eine zentrale ästhetische Eigenschaft, jedoch nicht die einzige. So wird sie in der zeitgenössischen Debatte meist nur als eine ästhetische Eigenschaft unter vielen genannt (siehe z. B. Sibley 1959). Hierauf mag man reagieren und darauf verweisen, dass Schönheitsurteile insoweit eine Sonderstellung einnehmen, als sie verdiktiveästhetische Urteile sind (siehe Zangwill 2001, 24). Anders formuliert, beurteilen wir etwas als schön, weil wir ihm eine oder mehrere positive substanziellere ästhetische Eigenschaften, wie beispielsweise Eleganz oder Anmut, zuschreiben.Wir möchten nicht bestreiten, dass es diese Verwendungsweise von «schön»gibt. Jedoch existiert auch eine Verwendungsweise, die auf Schönheit als substanziellere ästhetische Eigenschaft verweist. Wennman beispielsweise eine Person als schön bezeichnet, so weist man ihr eine konkrete ästhetische Eigenschaft zu. Eine elegante Person muss demnachnicht auch schön sein. Zum anderen und für den derzeitigen Kontext noch entscheidender können nicht alle positiv konnotierten ästhetischen Eigenschaftenunter den Oberbegriff «Schönheit»gebracht werden. Exemplarischzeigt sich dies an der zweiten zentralen ästhetischen Eigenschaft des 18. Jahrhunderts:Erhabenheit (siehe den Beitrag von Berger). Erhabenheit ist einepositiv konnotierte ästhetische Eigenschaft, doch grenzen beispielsweise Burke (2008)oder auch Kant (1963, §§ 23–29)das Schöne aus gutem Grund klar vom Erhabenen ab. Diese kurzen Ausführungen verdeutlichen bereits, dass eine Bestimmung der Ästhetik als Schönheitslehredie Debatten über die Vielzahl ästhetischer Eigenschaften nicht vollständig erfassen kann. Es gibt einen zweiten zentralen Themenbereich, der durch die Definition der Ästhetik als Lehre des Schönen nicht in Gänze erfasst wird. Es handelt sich um die ästhetische Debatte über Kunst. Diese Aussage mag zunächst verwundern, da man Kunst und Kunstwerke als klassische Beispiele für etwas Schönes ansehen mag. Die darstellenden und bildenden Künste, die Dichtkunst und Musik werden denn auch im 18. Jahrhundert als die schönen Künste beschrieben. So könnteman argumentieren,dass für die Ästhetik als Theorie der Schönheit
Kunst und Kunstschaffenzentrale Themen sind, da es primäres Ziel von Kunst ist, schön zu sein. Kunst wird teilweise nicht nur als ein paradigmatisches Beispiel für etwas Schönes angesehen, sondern Kunstschönheit wird darüberhinaus manchmal auch als höchste Form der Schönheit bestimmt (siehe z. B. Hegel 1971). Viele herausragende Kunstwerke, insbesondere auch zeitgenössische Werke, sind jedoch nicht (imklassischen Sinne)schön und Künstler*innenstreben nicht alle danach, schöne Werke zu erschaffen. Da man somit (gute)Kunst nicht per se als Beispielfür etwas Schönes fassen kann, so lässt sich die vielseitige ästhetische Debatte über Kunst ebenfalls nicht unter der Definition von Ästhetik als Theorie der Schönheit fassen.
Zusammenfassend lässtsich somit festhalten, dass die Auffassung, die Ästhetik sei die philosophische Lehre vom Schönen, zwar auf einen zentralen Gegenstandsbereich verweist, aber deutlich zu eng gefasst ist, um der Ästhetik in Gänze gerecht zu werden.
1.2 Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst
Wie eben angesprochen ist die Kunst ein wichtiger Gegenstandsbereich der ästhetischen Debatte. Das war sie bereits in Baumgartens Aesthetica und auch Hegel beginnt seine Vorlesungen über die Ästhetik wie folgt:
Diese Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet;ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schönen, und näher ist die Kunst, und zwar die schöne Kunst[,] ihr Gebiet. Für diesen Gegenstand freilich ist der Name Ästhetik eigentlich nicht ganz passend, denn «Ästhetik»bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, […]. Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist «Philosophie der Kunst»und bestimmter «Philosophie der schönen Kunst». (Hegel 1971, 37)
Hegel hadert mit der Bezeichnung «Ästhetik»und deren ursprünglicher Bedeutung als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis. Zugleich schlägt er eine neue Bezeichnung für die Ästhetik als philosophische Disziplin vor. Er setzt sie mit der Philosophie der (schönen) Kunst gleich. Dieses Verständnis von Ästhetik als Kunstphilosophie, ohne die eindeutige Verbindungzur Schönheit, war gerade im 20. Jahrhundertäußerst einflussreich.Soschreibt zur Jahrtausendwende Carroll: «Inthe broadest sense, ‹aesthetics› is roughly equivalent to ‹the philosophy of art›.» (Carroll 1999, 156)
Folgt man dieser Auffassung, so umfasst der Gegenstandsbereich der Ästhetik die Kunst und Kunstwerke, aber auch Künstler*innen, Kunstrezipienti*innen und Kunstkritiker*innen. Es geht um Kunstschaffen, Kunsterleben und Kunstbewertung. Um diesen Themenbereich zu präzisieren, haben sich Ästhetiker*innen insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingehend mit der Frage beschäftigt, ob und wie «Kunst»definiert werden kann. Durch die
Entwicklungen in der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerietenklassische Kunstverständnisse in Bedrängnis, da Objekte, die auf den ersten Blick nicht von Alltagsgegenständen zu unterscheidenwaren, als Kunst galten. Es wurde intensiv die Frage diskutiert,obesbestimmte Eigenschaftengibt, die Kunstwerke von Nicht-Kunstwerken unterscheiden, oder ob der Unterschied in ihrem Entstehungsprozessoder in ihrer Rezeption liegt. Einige Autor*innen haben auch geltend gemacht, dass man Kunst überhaupt nicht definieren kann oder dass lediglich normativ aufgeladene Kunstdefinitionen formuliert werden können (siehe Weitz 1959;vgl. auch den Beitrag von Daum &Schmücker).
Dies führt uns zu einer nächsten großen kunstphilosophischen Frage, nämlich jener, was den Wert von Kunst ausmacht. Vielen von uns ist es wichtig, sich mit Kunst zu beschäftigen, sie zu schützen, zu erhalten und möglichst leicht zugänglich zu machen. Warum ist das so?Warum ist Kunst für uns Menschen von so großer Bedeutung?Damit zusammenhängend stellt sich auch die Frage, was eigentlich gute Kunst ausmacht?Was genau bestimmtihre Güte?Kommt es allein auf die formalen Eigenschaften eines Werkes an?Oderwird ein Kunstwerk auch zu einem besseren Werk, wenn wir etwas von ihm lernen können und durch das Werk unser Verständnis von uns selbst, der Welt und dem menschlichen Erlebenerweitern?Oderwird ein Kunstwerkdadurch zu einem guten Kunstwerk, dass die Künstler*innen in dem Werk Emotionen ausdrücken und/ oder durch das Werk eine besondere emotionale Wirkung im Publikum erzielen?Oder ist es doch eher die kunsthistorische Stellung eines Werkes, die seinen Wert als Kunstwerk bestimmt?Müssen wir uns diesbezüglich auf eine Antwort festlegen oder kann sich der Wert eines Kunstwerkes aus ganz unterschiedlichen Facetten zusammensetzen ?All diese Fragen sind nicht losgelöst von der Frage, was eigentlich die Aufgabeund Funktion von Kunst ist bzw. sein sollte – vorausgesetzt, es ergibt überhaupt Sinn, Kunst bestimmte Funktionen zuzusprechen. Soll Kunst primär gefallen oder ästhetisch ansprechend sein?Sollund kann Kunst Wissen vermitteln und, wenn ja, welche Art von Wissen?Soll Kunst uns zu (moralisch)besseren Menschen machen?Soll Kunst provozieren und schockieren?
Hier sieht man, dass man meist auch über die (intendierte)Wirkungvon Kunst spricht.Hiermit rückt die Kunstrezeption und -kritik in den Mittelpunkt der Betrachtungen. So wird u. a. diskutiert, was die Voraussetzungen dafür sind bzw. sein sollten, um Kunst angemessenzuerfahrenund zu beurteilen. Es wird jedoch nicht nur über die Kunstrezipient*innen diskutiert, sondern auch über die Kunstschaffenden. Eine klassische Frage ist, was das künstlerische Genie ausmacht. Auch die Frage, was der künstlerische Ausdruck ist und wie der künstlerische Schaffensprozessabläuft, wird hier verhandelt, ebenso wie die Frage, was Kreativität auszeichnet.
Neben diesen allgemeinen Fragen gibt es auch kunstphilosophische Debatten, die sich auf einzelne Kunstgattungenund Genres beziehen. Sowohl im HinEinführung:Ästhetik
blick auf die Werke und deren Wirkung als auch bezogen auf die Künstler*innen und deren Schaffensprozessund die Kunstrezeption stellen sich für die einzelnen Kunstgattungen teils spezifischeFragen. So werden beispielsweiseimHinblick auf die Musik andere Fragen verhandelt als im Hinblick auf die Malerei, die Literatur, den Film oder die Fotografie. Und auch einzelne Genres rufen teils spezifische Fragen hervor. In Bezug auf Tragödien und Horrorgeschichten wird beispielsweise diskutiert,wie es möglich ist, diese zu genießen, und ob man sie angesichts des dargestellten Leids und Horrors genießen sollte (siehe z. B. Carroll 1990;Hume 1985b). Diese Frage stellt sich bei Komödiennicht auf die gleiche Weise.
Erneut sollen diese Fragen nur einen Einblick in die zentralenThemen der Ästhetik, verstanden als Kunstphilosophie, geben und keinen vollständigen Überblick. Sie reichen aber aus, um sich zu fragen, ob man das gesamte Spektrum von ästhetischen Fragen erfasst, wenn man die Ästhetik mit der Kunstphilosophie gleichsetzt. Ein Blick in klassische Schriften der Ästhetik und auch in die zeitgenössische Debatte zeigt, dass, auch wenn man die Bedeutung von kunstphilosophischen Themen nicht unterschätzen darf, der Gegenstandsbereich der philosophischen Ästhetik weiter gefasst ist.
Würde man den ästhetischen Gegenstandsbereich auf die Kunst einschränken, sähe man sich zunächst mit dem Problem konfrontiert, dass, wie bereits angedeutet, keine Einigkeit darüber besteht, wie genau man «Kunst»definieren soll. So ist umstritten, welche Dinge überhaupt als Kunst gelten sollen. Je nach Kunstdefinition fallen beispielsweise Werke der Populär-und Unterhaltungskultur in den Bereich der Kunst oder auch nicht. Die ästhetische Debatte umfasst jedoch auch Fragestellungen im Hinblick auf Werke der Populär- und Unterhaltungskultur. Hierauf könnte man reagieren und argumentieren, dass, wann immer innerhalb der Ästhetik diskutiert wird, ob etwas als Kunst gilt, diese Diskussion Teil der Ästhetik ist, da sie dazu beiträgt, den Kunstbegriff zu schärfen. Selbst wenn man diese Erwiderung akzeptiert, so beschäftigen sich, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits angedeutet wurde, Ästhetiker*innen auch mit Objekten, bei denen nicht diskutiert wird, ob es sich um Kunst handelt. Landschaften können ästhetische Fragen aufwerfen, ebenso wie Menschen oder auch Gebrauchs- und Designgegenstände (siehe die Beiträge von Seel und Feige). Und auch abstrakte Gegenstände, wie beispielsweise Ideen, Handlungen oder Beweise, können ästhetische Qualitäten aufweisen (siehe den Beitrag von Müller). In Bezug auf all die genanntenGegenstände lässt sich sinnvoll fragen, ob ihnen eine ästhetische Eigenschaft (wie z. B. Schönheit oder Eleganz)zukommt und worauf diese gegebenenfalls beruht.
Obwohl kunstphilosophische Fragestellungen somit für die Ästhetik von zentraler Bedeutung sind, wäre es ein Fehler,die Ästhetik mit der Kunstphilosophie gleichzusetzen. Wer eine solche Gleichsetzung vornimmt, übersieht all die ästhetischen Fragestellungen jenseits des Kunstbereichs.
Einführung:Ästhetik
1.3 Ästhetik als philosophische Theorie des Ästhetischen
Die beiden bisher diskutierten Definitionsvorschläge haben zwar auf zentrale Themenbereiche der Ästhetik verwiesen, waren jedoch zu eng gefasst, um die ästhetische Debatte ganz abzubilden. So bezieht sich der Definitionsvorschlag der Ästhetik als Lehre vom Schönen einseitig auf eine ästhetische Eigenschaft, wohingegen die Definition der Ästhetik als Kunstphilosophie nur ein ästhetisches Phänomen, die Kunst, erfasst. Als Reaktion auf den ersten Definitionsvorschlag wurde auf die Vielfalt ästhetischer Eigenschaftenverwiesen, als Reaktion auf den zweiten auf die Vielfalt ästhetischer Phänomene. Dies führt zu dem nächsten Definitionsvorschlag. So bestimmt Muelder Eaton die Ästhetik beispielsweise wie folgt:«Philosophical aesthetics is the study of the nature and componentsofaesthetic experience.» (Muelder Eaton1994, 19)Und Reicher schreibt:«Die philosophische Ästhetik ist die Theorie der ästhetischen Phänomene in ihrer Gesamtheit, oder kurz:des ‹Ästhetischen›. ‹Das Ästhetische› hat drei Hauptaspekte, die eng zusammenhängen, nämlich:ästhetische Eigenschaften, ästhetische Gegenstände und ästhetische Erfahrung.» (Reicher 2015, 16)Ästhetik wird hier als die philosophische Theorie des Ästhetischen begriffen.
Folgt man dieser Definition,soist der Gegenstandsbereich der Ästhetik das Ästhetische. Diese Antwort ist jedoch wenig hilfreich, solange ungeklärtbleibt, was genau das Ästhetische eigentlich ist. Eine allgemeineAntwort hierauf zu geben, ist schwierig, zumal in der Debatte diese Frage unterschiedlich konkretisiert wird. So wird u. a. gefragt:Was zeichnet eine ästhetische Erfahrung aus und wie unterscheidetsie sich von einer nichtästhetischen Erfahrung?Oder: was ist das Charakteristische einer ästhetischen Eigenschaft?Umwas für eine Art von Eigenschaft handelt es sich hierbei?Wie hängen ästhetische von nichtästhetischen Eigenschaftenab? Gleichermaßen kann man überlegen, was ein ästhetisches Urteil auszeichnet und wie sich dieses von anderen Arten von Urteilen unterscheidet. Was ist außerdemeine ästhetische Einstellung?Und was macht einen ästhetischen Gegenstand, ein ästhetisches Ereignis oder Phänomen aus?Diese Beispiele veranschaulichen, dass man die Grundfrage, was das Ästhetische ist, in Hinblick auf unterschiedliche Aspekte – Eigenschaften, Objekte, Erfahrungen, Urteile und Einstellungen, um einige Beispiele zu nennen – anwenden kann.
Die Antworten, die hierauf gegeben werden, sind häufig nicht unabhängig voneinander :Somag man argumentieren, dass ein ästhetisches Objekt ein Träger ästhetischer Eigenschaften ist und ästhetische Eigenschaftenebenjene sind, die ästhetische Erfahrungen auslösen. Folgt man dieser Argumentation, so rückt die ästhetische Erfahrung in den Mittelpunktder Betrachtungen, da sie den Kern des Ästhetischen auszeichnet.
Man sollte an dieser Stelle kurz innehalten und auf einen möglichen Zirkel hinweisen:Wüsste man beispielsweise, was eine ästhetische Eigenschaft ist, so könnte man eineästhetische Erfahrung als die Erfahrung einer ästhetischen Ei-
genschaft und ein ästhetisches Urteil als ein Urteil, das sich auf eine ästhetische Eigenschaft bezieht,bestimmen. Wenn das aber funktionieren soll, so muss man ästhetische Eigenschaften selbst unabhängig von ästhetischen Erfahrungen und Urteilen bestimmen, ansonsten endet man in einem Zirkel. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf diesen drohenden Zirkel zu reagieren. Man kann ihn z. B. dadurch vermeiden, dass man entweder ästhetische Eigenschaften, Erfahrungen oder Urteile auf etwas Nicht-Ästhetisches zurückführt (s.z.B.Briesen 2020, Kap. 2).Oder man kann ihn umgehen, indem man entweder ästhetische Erfahrungen, Eigenschaften oder Urteile als grundlegend und nicht weiter erläuterungsbedürftig bestimmt. Oder man akzeptiert den Zirkel als unvermeidbar und vertraut auf unser vortheoretisches Verständnis von etwas Ästhetischem, das in der philosophischen Reflexion schrittweise klarer herausgearbeitet werden kann.
Neben der Auseinandersetzung mit der Frage, was genau das Ästhetische vom Nicht-Ästhetischen unterscheidet, fallen in den Bereich der Ästhetik als philosophische Theorie des Ästhetischen auch konkretere Fragestellungen, die unterschiedliche ästhetische Erfahrungen, Eigenschaften, Urteile oder Objekte thematisieren. So wird beispielsweise nicht nur diskutiert,was eine ästhetische Eigenschaft von einer nichtästhetischen unterscheidet und wie diese von nichtästhetischen abhängt, sondern man kann auch einzelne ästhetische Eigenschaften herausgreifen und hinterfragen, was sie auszeichnet, von welchen ästhetischen und nichtästhetischen Eigenschaften sie abhängen, wie sie erfahrenwerden oder wie man sie generieren kann. Die in Abschnitt 1.1 skizzierte philosophische Debatte rund um Schönheit fällt somit in den Bereich der Ästhetik.
Wie verhält es sich mit den kunstphilosophischen Überlegungen, die in Abschnitt 1.2 skizziert wurden? Fallen diese auch in den Bereich der Ästhetik als Lehre des Ästhetischen?Eine mögliche Antwort ist, dass auch die Kunstphilosophie vollständig von der philosophischen Theorie des Ästhetischen erfasst wird, da Kunstwerke paradigmatische ästhetische Objektesind. Kunstwerke werden dazu geschaffen,Träger von ästhetischen Eigenschaftenzusein und ästhetische Erfahrungenhervorzurufen, somit ist auch die Kunstphilosophie zentraler Teil der philosophischen Theorie des Ästhetischen, so eine mögliche Annahme.
DieSchwierigkeit dieser Antwortist,dassesinnerhalb derästhetischenDebatteumstrittenist,obman alle Kunstwerke wirklich alsTrägerästhetischerEigenschaftenverstehen sollte.Dies hängt, wasnicht weiter verwundern wird,auch davonab, wasman genauunter einerästhetischenEigenschaft versteht. So gibt es beispielsweise Ansätze, dieästhetischeEigenschaften mitkunstkritischen Eigenschaften gleichsetzen, also jenen,die in positiverebensowie in negativerHinsicht denWerteines Kunstwerkes ausmachen(siehez.B.Gaut2007, 34–35). Folgt mandiesemAnsatz, so istesbegrifflich wahr, dass Kunstwerke ästhetischeObjekte sind.Das Problemdes Ansatzes istdannallerdings, dass manwieder einige Eigenschaften undObjekte,die traditionell alsästhetische ausgezeichnet wurden,
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ausdem Blickverliertund dieÄsthetikmehroderweniger gleichbedeutendmit derKunstphilosophieversteht. Machtman sich fürein anderesVerständnisvon ästhetischen Eigenschaftenstark,ist es eine offene Frage, ob alleKunstwerkeästhetischeObjekte undallekunstkritischen Eigenschaftenästhetische Phänomene sind.Dannbesteht dieGefahr, dass dieAspekte derkunstphilosophischenDebatte,die nichtdas im engerenSinne Ästhetischethematisieren,wiederaus demBereichder Ästhetik herausfallen. Da kunstphilosophischeThemenund Fragestellungen eine so zentrale Rolle in derzeitgenössischenÄsthetikspielen, spricht dies somitdagegen,die Ästhetik mitder philosophischenTheorie desÄsthetischen gleichzusetzen.
1.4 Zwischenfazit:Ästhetik als philosophische Theorie des Ästhetischen und Künstlerischen
Was folgt aus den bisherigen Überlegungen für die Frage, wie man die Ästhetik als philosophische Subdisziplin bestimmen sollte? Zunächst einmal scheinen traditionelle Definitionen zu scheitern. Die philosophische Ästhetik ist mehr als die philosophische Lehre des Schönen, der Kunst oder auch des Ästhetischen. Wir schlagen demnach vor, die Ästhetik – so wie sie heute in der akademischen Philosophie von unterschiedlichen Denkschulenbetrieben wird – als die philosophische Theorie des Ästhetischen und Künstlerischen zu begreifen.Demnach ist eine Theorie dann der philosophischen Ästhetik zuzuordnen, wenn sie sich mit dem Ästhetischen oder dem Künstlerischen oder beidem befasst. Diese Definition erfasst zum einen die Bedeutung, die kunstphilosophische Themen und Fragen für die ästhetische Debatte haben. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass es auch ästhetische Fragestellungen jenseits des Bereichs der Kunst gibt. Mit dieser disjunktiven Definition lässt sich aus unserer Sichtder historischen Entwicklung der Disziplin gerecht werden.
Zugleich veranschaulicht diese Definition,dass es bestimmte Themenbereiche und Fragestellungen gibt, bei denen umstritten ist, ob sie in den Bereich der Ästhetik fallen. Dies liegt daran, dass sowohl die Frage, was Kunst ist, als auch jene, was das Ästhetische ist, intensiv und vor allen Dingen kontrovers diskutiert werden. Das hat u. a. auch zur Folge, dass weder die Frage nach den Grenzen der Kunst noch jene nach den Grenzen des Ästhetischen eindeutig beantwortet werden kann. Wenn jedoch ein Artefakt oder Phänomen diskutiert wird und hier immer wieder auch Bezüge zu klassischen ästhetischen Fragestellungen hergestellt werden, spricht dies dafür, diese Diskussion als Teil der Ästhetik einzuordnen. Hiermit lässt man zu, dass sich Themen und Fragestellungen der Ästhetik mit der Zeit verändern und neben den klassischen auch neue Themen und Fragestellungen aufgeworfen werden.
2. Ästhetik in Abgrenzung zu anderen philosophischen und ästhetischen Disziplinen
Nachdem wir eine Definition der Ästhetik als philosophische Theorie des Künstlerischen und Ästhetischen vorgeschlagen haben, stellt sich die Frage, wie sich die Ästhetik zu anderen Bereichen der Philosophie verhält und ob sie bei genauerer Betrachtung überhaupt ein eigenständiger Bereich ist. Auch gilt es zu klären, wie sich die philosophische Ästhetik von anderen nichtphilosophischen Bereichen unterscheidet, die sich ebenfalls mit dem Künstlerischen bzw. dem Ästhetischen beschäftigen. Die Frage nach der Abgrenzung und Eigenständigkeit der Ästhetik innerhalb der Philosophie wird im ersten Abschnitt dieses Teils diskutiert, die Frage nach dem Verhältnis der philosophischen zur nichtphilosophischen Ästhetik im zweiten Abschnitt.
2.1 Ästhetik als eigenständige philosophische Teildisziplin
Versteht man unter Ästhetik die philosophische Theorie des Ästhetischen und Künstlerischen, so liefert dies bereits einen Grund, die Ästhetik als eine eigenständige Disziplin auszuzeichnen. Ihr Gegenstandsbereich, das Ästhetischeund Künstlerische, wird von keiner anderen Disziplin in den Mittelpunktgestellt und keine andere versucht explizit herauszufinden, was ggf. das Spezifische an dem Ästhetischen und Künstlerischen ist und welche besonderenphilosophischen Problemstellungen und Rätsel sich diesbezüglich ergeben.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine Überschneidungen zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Fragestellungen und Debatten gäbe. In Bezug auf fast alle bisher skizzierten Themenbereiche lassen sich Überschneidungen dieser Art feststellen. So weisen die Debatten zu ästhetischen Eigenschaften Überschneidungen zu allgemeinen metaphysischen bzw. ontologischen Fragen zur Natur von Eigenschaften auf (siehe den Beitrag von Reicher), ebenso wie die Debatten zu ästhetischen Erfahrungenauf allgemeine Fragen und Unterscheidungen aus der Philosophie des Geistes Bezug nehmen (siehe den Beitrag von Steinbrenner). Analoges gilt auch für die Diskussionen über ästhetische Urteile und Aussagen, die stark von sprachphilosophischen Einsichtengeprägt sind und außerdem Bezüge zur Metaethik aufweisen (siehe den Beitrag von Briesen). Darüber hinaus kann auch die der Ästhetik zugeordnete Frage, ob und inwiefern Kunst moralisch zu bewerten ist, nicht unabhängig von allgemeinen Überlegungen aus der normativen Ethik beantwortet werden (siehe den Beitrag von Vendrell Ferran); ebenso wie die Debatten zum erkenntnismäßigen Mehrwert der Kunst nicht ohne Unterscheidungen und Argumenteder Erkenntnistheorie auskommen (siehe den Beitrag von Demmerling). Die im Rahmen der Ästhetik behandelten Themen- und Problembereiche weisen also Überschneidungen mit ei-
ner Vielfalt anderer philosophischerTeildisziplinen auf, z. B. der Metaphysik, der Philosophie des Geistes, der Sprachphilosophie, der normativen Ethik, der Metaethik sowie der Erkenntnistheorie.
Die vielfältigen Überschneidungen verweisen darauf,dass sich die philosophische Ästhetik weder nahtlosinden Bereichder theoretischennoch in den der praktischenPhilosophie einordnen lässt. So gibt es einige ästhetische Fragestellungen, die an Debatten der theoretischenPhilosophie, andere, die an Debatten der praktischen Philosophie anknüpfen.Dies könnte man als Indiz dafür ansehen, dass es sich bei der Ästhetik nicht um einen eigenständigen philosophischen Teilbereichhandelt, sondern dass sich unterschiedliche philosophische Disziplinen eben auch mit dem Künstlerischen und Ästhetischen auseinandersetzen.
Gegen diese Auffassung sprechen zwei Punkte. Erstens fällt auf, dass man den Gegenstandsbereich des Künstlerischen und Ästhetischen nicht ohne Weiteres analog zu anderen Gegenstandsbereichen behandeln kann. Man denke beispielsweise an die Beziehung zwischen Ästhetischem und Moralischem. Noch ehe man in die Tiefen der philosophischen Auseinandersetzung einsteigt, erkennt man, dass ästhetische und moralische Eigenschaften, Urteile oder Einstellungen nicht zwingend gleich zu analysieren sind. Manche Intuition, die in Bezug auf das Ästhetische stark ausgeprägt ist, ist hinsichtlich des Moralischen nicht gleichermaßenvorhanden. Während man beispielsweise eher geneigt sein mag, der Aussage, über Geschmacklasse sich nicht streiten, zuzustimmen,mag man zögern, der Aussage, über Moral lasse sich nicht streiten, zuzustimmen. Zweitens bildet der Verweis auf das Künstlerische und Ästhetische als Gegenstandsbereich eine guteinhaltlicheKlammer, die ästhetische Fragestellungen als solche hinreichend von Fragestellungen andererTeilbereiche der Philosophie abgrenzt. Angesichtsder Tatsache, dass eigentlich jede philosophische Teildisziplin mehr oder weniger starke Überschneidungen mit jeweils anderenTeildisziplinen aufweist, scheinen uns die beiden Punkte Grund genug, um an der philosophischen Ästhetik als eigenständiger philosophischer Disziplin festzuhalten.
Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und dafür votieren, dass die Ästhetik auf einen dritten Teil der Philosophie verweist. Die grundsätzliche Zweiteilungder Philosophie in theoretische und praktische Philosophie könnte zu kurz greifen und den ästhetischen Teilbereich übersehen. Um diese Theseargumentativ zu untermauern, kann man beispielsweise auf die platonische Trias des Wahren, Guten und Schönen verweisen. Grob skizziert ist der Gegenstandsbereich der theoretischen Philosophie das Wahre, der der praktischen Philosophie das Gute, womit der Bereich der Ästhetik eben das Schöne, verstanden als das Künstlerischeund Ästhetische, ist. Alternativ könnteman sagen, dass im Zentrum der theoretischen Philosophie die Frage steht:Was können wir (wie) wissen?Die Grundfrage der praktischenPhilosophie lautet:Was sollen wir tun? Demnach bliebe für die ästhetische Philosophie die Frage:Was können oder sol-