Schola Cantorum Basiliensis
Scripta
Veröffentlichungen der Schola Cantorum Basiliensis
Fachhochschule Nordwestschweiz / Musik-Akademie Basel
Hochschule für Musik Basel
Band 10
Herausgegeben von Martin Kirnbauer
Martin Kirnbauer (Hg.)
Zwischen Vieltönigkeit und Mikrotonalität
Materialien und Beiträge aus dem Forschungsprojekt «Studio31»
Schwabe Verlag
Die Publikation wurde gefördert durch die Maja Sacher Stiftung, Basel.
Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, keine Bearbeitung 4.0 International.
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© 2024 bei den Autor:innen; Zusammenstellung © 2024 Martin Kirnbauer, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Basel, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz
Abbildung Umschlag: Rekonstruktion des Arciorgano von Studio31 und der Werkstatt
Bernhard Fleig, Basel 2016; Photo S. Drescher
Korrektorat: Lektorat Borkam, Langenhagen; Bird und Hübner, Berlin
Gestaltungskonzept: icona basel gmbh, Basel
Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg
Layout: icona basel gmbh, Basel
Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde
Druck: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5097-3
ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5193-2
DOI 10.24894/978-3-7965-5193-2
Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche.
Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.
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Inhalt
Martin Kirnbauer: Einleitung VII
Zu Nicola Vicentino
Martin Kirnbauer: Nicola Vicentino (1510–1577) – Ein biographischer Abriss .................................................. 3
David Gallagher: Vicentino’s missing music ...................... 9
Grantley McDonald: Nicola Vicentino: Tradition and Polemic ....... 85
… und seinen Instrumenten
Martin Kirnbauer: Vicentinos Instrumente – Eine Spurensuche 103
Martin Kirnbauer: Das Werbeblatt für das Arciorgano: Edition, Übersetzung und Kommentar ......................... 115
Johannes Keller: Organi di legno – Ein Blick auf die Quellen ......... 129
Johannes Keller: Das Basler Arciorgano und Clavemusicum omnitonum .. 137
Robert Bamert: Der Gehäuseentwurf für den Basler Nachbau des Arciorgano ............................................ 171
… und ihren Stimmungen
Johannes Keller: Die «adaptiv-reine Stimmung» des Arciorgano Überlegungen zum «Modo d’accordare il nostro Archicembalo con le quinte perfette in ogni tasto» ............................... 189
Caspar Johannes Walter: Idee – Substitut – Modell. Strukturelle Zusammenhänge von mitteltönigen Stimmungssystemen ........... 213
Michel Roth: A Musical Essay on Vicentino’s 2nd Tuning (1555) .......................................... 245
… sowie zu Kontexten
Jakob Ullmann: Platon und die frage der kleinsten intervalle ......... 255
Conrad Steinmann: Musica ritrovata secondo l’antica prattica ........ 281
Jörg Fiedler: Die Air a la Grecque von Charles Delusse –Vierteltonmusik des 18. Jahrhunderts oder modischer Gräzismus? ..... 289
Patrizio Barbieri: Suremain de Missery’s new theory of temperament following early investigations into auditory frequency discrimination (Paris, 1810–1816). With some considerations added ............... 301
Roman Brotbeck: Ein pansonorer Findling im 31-Ton-System –Anmerkungen zur Etude op. 42 von Ivan Wyschnegradsky .......... 325
Christopher Stembridge: Almost Forty Years of Splitting Keys –How I arrived chez Descartes ................................. 345
Einleitung
Martin Kirnbauer
Der vorliegende Band versammelt Texte und Materialien, die in Zusammenhang mit einem 2015–2017 an der Basler Hochschule für Musik/FHNW durchgeführten und von der Schweizerischen Kommission für Technologie und Innovation geförderten Forschungsprojekt Studio31 – Entwicklung einer portablen Orgel und eines Cembalos mit 31 Tönen in der Oktave stehen.1 Wie im sperrigen Untertitel angekündigt, führte das Projekt zum erfolgreichen Bau zweier Instrumente: zum einen zur Rekonstruktion des Arciorgano nach den Ideen von Nicola Vicentino (1510–1577), gebaut von Bernhard Fleig und seinem Mitarbeiter Thierr y Dobler, und zum anderen zu einem Nachbau des einzigen original erhaltenen Cembalos aus der Renaissance mit 31 Tönen pro Oktave, des Clavemusicum omnitonum von Vito Trasuntino (Venedig 1606), gefertigt von Markus Krebs.
Die Zielsetzung des Projektes bestand allerdings nicht nur in der Entwicklung und Herstellung der beiden genannten Instrumente, um damit musikpraktisch ein bis heute weitgehend unbeachtetes ‹vieltöniges› historisches Repertoire erschliessen zu können, vielmehr bereichern diese auch das Instrumentarium für zeitgenössische Musik um mikrotonale Tasteninstrumente. Entsprechend thematisierte das abschliessende Symposium Studio31 – Zu den neuen Instrumenten Arciorgano und Clavemusicum omnitonum, das vom 23. bis 25. November 2017 in Basel stattfand, ein breites Spektrum von Themen, die zeitlich von der Antike bis in die Gegenwart reichten, in Form von Wort- wie Musikbeiträgen.2 Hierbei kamen neben direkt mit dem Forschungsprojekt Studio31 verbundenen Themen zu Nicola Vicentino und zur Rekonstruktion der Instrumente auch Aspekte vieltöniger wie auch mikrotonaler Musik aus späterer Zeit zur Sprache, die teilweise im vorliegenden Band abgedruckt werden. So wurden neben einer praktischen Demonstration von Vicentinos enharmonischer Solmisation durch Anne Smith und Ivo Haun sowie einer kritischen Sichtung seines theoretischen Rüstzeugs durch Grantley McDonald vor allem spätere Versuche einer realen Umsetzung einer feineren Differenzierung der Tonstufen vorgestellt, wie etwa von Delusse aus dem 18. Jahrhundert (Jörg Fiedler)
1 Vgl. https://www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/musik/hochschule-fuermusik-klassik/projekte/studio-31 (5. September 2023).
2 Vgl. https://www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/musik/hochschule-fuermusik-klassik/veranstaltungen/veranstaltungen_archiv_2017–2018/studio31-abschluss tagung-24-25-11.2017 (5. September 2023).
oder von Tanaka Shōhei aus dem 19. Jahrhundert (Daniel Walden) sowie von Adriaan Fokker (Ere Lievonen) und Ivan Wyschnegradsky aus dem 20. Jahrhundert (Roman Brotbeck).3 Eine Art historische Klammer stellen hier zum einen die künstlerisch-praktische Rekonstruktion antiker griechischer Musik dar (Conrad Steinmann) und zum anderen der persönliche Rückblick von Christopher Stembridge auf seine Erfahrungen mit ‹vieltönigen› Cembali. Fast alle diese Beiträge waren von klanglichen Verdeutlichungen begleitet, die in dieser Dokumentation leider fehlen müssen.
Einen weiteren Schwerpunkt des Symposiums bildeten grundsätzliche Fragen zur Unterscheidbarkeit dieser ‹kleinsten Intervalle›: bereits bei Platon in der Antike (Jakob Ullmann), in Stimmungsdebatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Patrizio Barbieri)4 wie auch wiederum in Hinblick auf die musiktheoretische Einordnung der sich daraus ergebenden klanglichen Phänomene (Caspar Johannes Walter und Jon Wild).5
In dem Band sind weiter Texte aufgenommen worden, die seinerzeit in Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt entstanden und hier zu Dokumentationszwecken abgedruckt werden,6 da sie eine wesentliche Arbeitsgrundlage für das Projekt darstellten. Diese kurzen Texte werden weitgehend unverändert wiedergegeben, nur bei wesentlichen neuen Erkenntnissen wurden Hinweise ergänzt. Diese betreffen vor allem Forschungen von David Gallagher, in dessen gründlichen Beitrag Vicentino’s Missing Music eine Vielzahl von neuen Informationen zu Nicola Vicentino und seinem Werk enthalten sind. Auch das inzwischen als Folgeprojekt von Studio31 durchgeführte SNF-Projekt Vicentino21
3 Der ursprünglich für diesen Band vorgesehene Beitrag von Daniel Walden mit Tasuku Tanaka, Tanaka Shōhei’s Keyboards As Instruments of the Global History of Theory, ist inzwischen erschienen in: Acta Musciologica 95/2 (2023), 151–176.
4 Während der Drucklegung erreichte uns die traurige Nachricht, dass Patrizio Barbieri Ende Januar 2024 verstorben ist. Sein Beitrag erscheint so ungewollt posthum und in Gedenken einen grossen Gelehrten und wissenschaftlichen Freund, der die Basler Aktivitäten für die Vieltönigkeit seit vielen Jahren mit Interesse verfolgt und tatkräftig unterstützt hat.
5 Der geplante Beitrag von Jon Wild, On the qualities of 7th-chords available in a 31-tone universe and the varieties of proximate voice-leading among them, kann leider nicht in diesem Band erscheinen.
6 So meine Beiträge Nicola Vicentino (1510–1577) – Ein biographischer Abriss, Vicentinos Instrumente – Eine Spurensuche und Das Werbeblatt für das Arciorgano: Edition, Übersetzung und Kommentar sowie von Johannes Keller, Organi di legno – Ein Blick auf die Quellen. Hingewiesen sei hier darauf, dass Zitate aus Nicola Vicentinos Traktat L’antica musica ridotta alla moderna prattica (Rom: Antonio Barrè 1555) mit folio-Angabe sowie in Klammern die Angabe des Buches und des Kapitels identifiziert werden; die zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht fertiggestellte digitale Edition von Vicentino21 verwendet die gleiche Zitierweise, nur erweitert um eine Absatzzählung.
mit dem Ziel einer digitalen Edition, Übersetzungen und praktischer Erkundung von Vicentinos zentralem Traktat L’antica musica ridotta alla moderna prattica (Rom 1555) führte zu einer Fülle von neuen Erkenntnissen, die aber separat publiziert werden sollen.7 Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass die Existenz der beiden Instrumente und insbesondere des in Basel durch Studio31 rekonstruierten Arciorgano eine wesentliche materielle Voraussetzung dieses Folgeprojekts war.
Ebenfalls einen vor allem dokumentarischen Charakter haben die Beiträge, die sich auf die konkrete Rekonstruktion der beiden Studio31-Instrumente beziehen. So schildert der Architekt Robert Bamert, welchen Überlegungen zur Gestaltung des Orgelgehäuses des Basler Arciorgano führten, während Johannes Keller Grunddaten und Entscheidungen beim Bau der beiden Studio31-Instrumente durch Markus Krebs und Bernhard Fleig dokumentiert. Weiterführende Überlegungen dazu finden sich in seiner Dissertation Was ist ein Arciorgano?. 8
Zu diesen dokumentarischen Texten gehört auch sein Beitrag zur «adaptivreinen» Stimmung des Arciorgano, der sowohl die Entscheidung für eine der von Vicentino beschriebenen Stimmungsvarianten begründet wie auch dessen Besonderheiten hervorhebt. Hier vermischen sich allerdings die baulichen Vorentscheidungen ein Stück weit mit Resultaten von Studio31, da gewisse Überlegungen und Beobachtungen erst anhand des rekonstruierten Instrumentes möglich waren. In diesem Kontext sind auch die Beiträge Idee – Modell – Surrogat: Über die Zusammenhänge mitteltöniger und reiner Stimmungssysteme von Caspar Johannes Walter und A Musical Essays on Vicentino’s 2nd Tuning (1555) von Michel Roth zu situieren. Letzterer lotet einige der musikalischen Möglichkeiten von Vicentinos Stimmung in Form einer Komposition aus.
Wie bereits mit dem Hinweis auf das Folgeprojekt Vicentino21 deutlich wurde, ermöglichten die im Basler Projekt rekonstruierten Instrumente «mit 31 Tönen in der Oktave» nach dem Projektende 2017 vielfältige Aktivitäten: in der Forschung, in Kompositionen, in Konzerten und Aufnahmen sowie im Unterricht. Einiges davon registriert die Webseite https://www.projektstudio31. com/ – dort sei auf das ‹+› hingewiesen, das einerseits für die ja tatsächlich 36 Tasten in der Oktave beim Arciorgano steht, andererseits die prinzipielle Offenheit gegenüber Klangkonstellationen beschreibt, die nach Caspar Johannes Walter an die Grenzen der Tonsystemdiskussion gehen. Organisatorisch werden die Projekte und der Einsatz der beiden Instrumente vom Verein Studio31
7 Vgl. https://www.fhnw.ch/plattformen/vicentino21/ (5. September 2023); https://vicentino 21.ch/ (5. September 2023).
8 Hochschule für Musik Freiburg/Br. 2024.
kuratiert, im Auftrag der Hochschule für Musik Basel, der die Instrumente gehören.
Am Schluss dieser Einleitung stehe der Dank an alle Beteiligten: Hier ist in erster Linie den Autoren zu danken – verbunden mit einer Entschuldigung –, die sich lange, ja allzu lange haben gedulden müssen. Gedankt sei auch allen Beteiligten am Forschungsprojekt, namentlich den Kollegen von der Forschungsabteilung des Instituts Klassik der Hochschule für Musik Basel, Michael Kunkel und Christoph Mohr, die das initiale Forschungsprojekt Studio31 seinerzeit wesentlich unterstützt haben. Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen des Schwabe Verlags, die die Drucklegung wie immer reibungslos und kompetent betreut haben. Schliesslich ist der Maja Sacher-Stiftung für die grosszügige finanzielle Unterstützung der Publikation zu danken, ohne die dieses Buch nicht möglich wäre.
Durchaus programmatisch zu verstehen ist die Platzierung dieser Publikation als zehnter Band der Reihe Schola Cantorum Basiliensis Scripta, die sich ja als Ziel gesetzt hat, aktuelle Themen und Forschungsergebnisse der Historischen Musikpraxis zu präsentieren und so «zu einer vertieften Beschäftigung mit der Vielfalt Alter Musik anzuregen», wie es in der Beschreibung der Reihe heisst. In diesem Sinne ist das hier dokumentierte Forschungsprojekt Studio31 ein ideales Beispiel dafür, wie Gegenstände und Fragestellungen der Historischen Musikpraxis auch für ganz andere musikalische Spielarten fruchtbar werden. Zugleich ist Studio31 ein Beleg für den gelebten und lebendigen Austausch zwischen den verschiedenen Instituten der Hochschule für Musik Basel.
Basel, im Januar 2024
Martin Kirnbauer
Zu Nicola Vicentino
Porträt von Nicola Vicentino im Frontispiz seiner L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom: Antonio Barrè 1555.
Nicola Vicentino (1510–1577) –
Ein biographischer Abriss
Martin Kirnbauer
Über das Leben von Nicola Vicentino (1510–1577) sind nur vergleichsweise wenige Fakten bekannt. Eine Zusammenstellung der verstreut vorliegenden Informationen führt gleichwohl zu einer spannenden und wechselvollen Biographie, die wichtige Hinweise für die Kontextualiserung seiner Musik und seiner musikalischen Ideen bietet.
Geboren wurde Nicola Vicentino 1510 vermutlich in Vicenza. Über seine Familie, Ausbildung und Tätigkeit in den ersten 25 Jahren seines Lebens ist nichts bekannt, allerdings kann vermutet werden, dass er schon in Vicenza Kontakt mit dem Humanisten Gian Giorgio Trissino (1478–1550) hatte.1 Sicher ist, dass er die Weihen erhielt und den Titel ‹Don› führte, wenn auch bislang ein Beleg darüber fehlt, wo und wann dies stattfand; in einem Dokument von 1563 wird er als «clericum vicentinum» bezeichnet, also aus dem Bistum Vicenza.2 Weiter bezeichnete er sich 1546 in seiner ersten Publikation als Schüler von Adrian Willaert (ca. 1490–1562),3 der ab 1527 im nicht weit von Vicenza entfernten Venedig tätig war und davor in Diensten der Este (von Kardinal Ippolito I. und von Herzog Alfonso) stand; die Verbindung Willaerts zu den Este könnte auch Vicentinos späteren Kontakt zu ihnen erklären. Gewidmet ist dieser erste Druck allerdings einer adligen Dame aus Vicenza, Lucretia Chiericata, die ihn vielleicht protegiert hatte, möglicherweise aber auch nur den Druck finanzierte.4
* Der folgende Text entstand für den Research-Blog von Studio31 im Oktober 2015 und wurde für die Publikation nur geringfügig überarbeitet. Alle Übersetzungen vom Verfasser.
1 Henr y W. Kaufmann und Robert L. Kendrick, Art. «Vicentino», in: New Grove 2 26 (2001), 526–528: 526. Später ist ein Kontakt mit dem Ferrareser Humanisten Lilio Giraldi belegt, siehe Henry W. Kaufmann, The Life and Works of Nicola Vicentino (1511 – c. 1576), o. O.: American Institute of Musicology 1966 (Musicological Studies and Documents 11), 20.
2 Dies bei seiner Wahl als Kapellmeister in Vicenza am 9. Januar 1563; Giovanni Mantese, Storia musicale vicentina, Vicenza: Banca Cattolica del Veneto 1956, 47 Fn. 36.
3 Del unico Adrian Willaerth discipulo don Nicola Vicentino Madrigali a cinque voci per theorica et pratica da lui composti al nuovo modo dal celeberrimo suo maestro ritrovato, Libro primo, Venedig [: Scotto] 1546.
4 Sie war vermutlich die Frau von Girolamo Chiericata, der den Architekten Palladio förderte; Jane A. Bernstein, Music Printing in Renaissance Venice: The Scotto Press (1539–1572), New York etc.: Oxford University Press 1998, 340.
Zu dieser Zeit beschäftigte sich Vicentino aber bereits seit gut zehn Jahren mit den antiken Genera und dem, was er später «nuove armonie» nannte. Das geht zum einen hervor aus seinem Gesuch um ein venezianisches Privileg für den Druck und die Ausübung entsprechender Musik im Oktober 1549.5 Hier begründete er sein Gesuch unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass er sich bereits seit 15 Jahren damit beschäftigt habe:
[…] gia anni .15. habbi datto opera agli studij della theoricha et praticha musicale et cum gravissime fatiche et vigilie, ha restituito al mondo la praticha del cantar et sonar le dui generi (gia tanto tempi persi) […]
[…] hat sich seit 15 Jahren dem Studium der Theorie und Praxis der Musik gewidmet und mit grosser Anstrengung und Aufmerksamkeit der Welt die Praxis des Singens und Spielens der beiden (seit so langer Zeit verlorenen) Genera zurückgegeben […]
Diese Datierung ‹um 1534› wird auch durch Ghiselin Danckerts (ca. 1510–1565) bestätigt.6 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Vicentino bereits zu dieser Zeit (oder doch bald darauf) in Verbindung mit dem Este-Hof in Ferrara stand. Neben hochgestellten Schülern dort, die er in seinem 1555 erstmals gedruckten Traktat L’antica musica auflistet,7 befand er sich in Diensten von Kardinal Ippolito II. (1509–1572), dem der Traktat auch gewidmet ist. Bislang war als aktenmässiger Beleg dafür nur eine Zahlung an «cantori del card. Ippolito II d’Este» von 1554 bekannt.8 Dank den Forschungen der englischen Historikerin Mary Hollingsworth, die die weitgehend erhaltenen Rechnungsbücher des Kardinals sichtete und auswertete, lassen sich nun Zahlungen an «Don Nicola cromaticho capellano», wie er dort genannt wird, zwischen 1551 und 1559 belegen.9
5 Richard J. Agee, The Privilege and Venetian Music Printing in the Sixteenth Century, Ph.D. Diss. Princeton 1982, 101–102, 179, 222–223; das folgende Zitat auf p. 202.
6 Ghiselin Danckerts, «Trattato sopra una differentia musicale» (in: I-Rv Ms. R. 56, fol. 382r). Hier berichtet Danckerts auch von einem notariellen Vertrag zwischen Vicentino und Sängern des Kardinals (und u. a. auch des Bischofs von Vicenza) Niccolò Ridolfi 1549, ihnen seine Kunst zu lehren; vgl. Kaufmann, The Life and Works, 22, und Maria Rika Maniates, Nicola Vicentino, Ancient Music Adapted to Modern Music, New Haven und London: Yale University Press 1996 (Music Theory Translation Series), xv–xvi.
7 Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom: Antonio Barrè 1555, fol. 10v (I.4): demnach unterrichtete Vicentino Alfonso (1533–1597) dessen Tante Leonora (1515–1575) sowie seine Schwestern Lucrezia (1535–1598) und Leonora (1537–1581).
8 Hier wird ein «Messer Nicolo» genannt; Walter Weyler, «Documenten betreffende de Muziekkapel aan het Hof van Ferrara», in: Vlaamsch Jaarboek voor Muziekgeschiedenis 1 (1939), 81–113: 93.
9 Vgl. Mar y Hollingsworth, The Cardinal’s Hat: Money, Ambition and Housekeeping in a Renaissance Court, London: Profile 2004. Einen sehr herzlichen Dank an Mary Hollingsworth für die freundliche Überlassung ihrer Materialien.
Ippolito II. d’Este pflegte gute Beziehungen zu Frankreich und hielt sich 1536–1539 am Hofe des französischen Königs François I. auf, der auch seine Erhebung zum Kardinal durchsetzte (Mailänder Erzbischof war er schon mit zehn Jahren geworden, indem er das Amt von seinem Onkel Ippolito I. geerbt hatte). Kardinal Ippolito II. d’Este war insgesamt dreimal «papabile» (1549, 1555 und nochmals 1559), scheiterte aber als profranzösischer Kandidat an einer prokaiserlichen Allianz. Seine mächtige Stellung in Rom verlor er abrupt mit der Wahl von Papst Paul IV. am 23. Mai 1555 – einen Tag nach der Datierung des Impressums von Vicentinos Traktat. Ippolito II. wurde der Simonie und des liederlichen Lebens angeklagt, verlor seinen Posten als ‹governato› von Tivoli und musste ins Exil nach Ferrara fliehen.10 Die Bindung von Vicentino an diesen mächtigen Kardinal und Kirchenfürsten lädt einerseits zu der reizvollen Überlegung ein, wie wohl die europäische Musikgeschichte verlaufen wäre, wenn Vicentino der Kapellmeister eines Papstes geworden wäre. Andererseits erklärt der jähe Fall des Kardinals 1555 vielleicht auch ein Stück weit die Erfolglosigkeit des zur gleichen Zeit publizierten Traktates von Vicentino. Obwohl sich Vicentino schon seit Jahren mit dem Thema beschäftigt hatte, scheint er erst gegen Ende der 1540er Jahre die konkrete Absicht zur Veröffentlichung eines Traktates gehabt zu haben. Das belegt zum einen das bereits erwähnte venezianische Privileg 1549 und zum anderen die Aussage zu Beginn der L’antica musica, er habe im Jahre 1550 damit begonnen.11 Unterbrochen wurde die Arbeit daran durch den berühmten Rechtsstreit mit einem portugiesischen Sänger vor der versammelten päpstlichen Kapelle, Vicente Lusitano (ca. 1520 –nach 1561). Der Streit entzündete sich an der Diskussion, ob eine bestimmte polyphone Komposition (ein nicht näher identifiziertes «Regina coeli») als diatonisch zu bezeichnen sei.12 Vicentino vertrat die vielleicht etwas spitzfindige Position, dass Musik nur dann als diatonisch (oder auch chromatisch oder enharmonisch) zu bezeichnen sei, wenn darin ausschliesslich die charakteristischen Intervalle des jeweiligen Genus benutzt würden (im Falle des Diatonischen nur Ganz- und eben ‹diatonische› Halbtöne wie zwischen e und f, also
10 Er kam erst 1559 nach dem Tode des Papstes wieder zurück nach Rom und ging 1561–1563 als päpstlicher Legat nach Frankreich; Davide Daolmi, Don Nicola Vicentino Arcimusico in Milano. Il beneficio ecclesiastico quale risorsa economica prima e dopo il Concilio di Trento. Un caso emblematico, Lucca: Libreria Musicale Italiana Editrice 1999 (Quaderni dell’Archivio per la Storia della Musica in Lombardia 1), 3.
11 Vicentino, L’antica musica, fol. 10r v (I.4): «[…] uero è che molti anni io mi son affaticato, et quando è piaciuto alla bontà à Diuina, m’ha dato il lume di principar detta prattica nella mia età de gl’anni quaranta nel mille cinque cento e cinquanta, l’anno Santo, nel felicissimo Pontificato di Papa GIVLIO III.».
12 Eine gute Zusammenfassung der Diskussion bietet Maniates, Nicola Vicentino, xvii–xxii.
keine Terzen usw.). Lusitano hingegen erkannte in der betreffenden Musik kein vollständiges chromatisches oder enharmonisches Tetrachord, weshalb sie diatonisch sei. In einem aufwendigen Verfahren, dass in Vicentinos L’antica musica wie auch in dem genannten Traktat von Ghiselin Dankerts dokumentiert ist, unterlag Vicentino und musste eine vorher vereinbarte Geldstrafe zahlen.
Ein weiterer Hinderungsgrund, den Traktat fertigzustellen, lag in der hohen Mobilität seines Dienstherrn: Bereits 1551, kurz nach der verlorenen Debatte mit Lusitano, ging der Kardinal nach Ferrara,13 vom November 1552 bis Juni 1554 war Vicentino im Gefolge des Kardinals bei der Verteidigung des belagerten Sienas anwesend.14 Kapellmeister des Kardinals war zu dieser Zeit übrigens der Franzose Pierre Sandrin (ca. 1490 – ca. 1561), was ebenso wie die späteren Frankreichaufenthalte des Kardinals für die belegte, aber bislang noch kaum untersuchte Rezeption Vicentinos in Frankreich verantwortlich sein könnte.
Anschliessend wird er sich für die unmittelbare Drucklegung der L’antica musica in Rom aufgehalten haben, wo der grossformatige und grosszügig ausgestattete Druck 1555 beim Verleger Antonio Barrè erschien.15 Wie bereits erwähnt, musste Kardinal Ippolito unmittelbar nach der Wahl von Papst Paul IV. Rom verlassen und es ist anzunehmen, dass ihm Vicentino nach Ferrara folgte.
Neben einer zweiten Auflage der L’antica musica, die mit 1557 datiert ist und vermutlich nur eine Verwertung des Restes der Erstauflage darstellt,16 ist das nächste erhaltene Dokument für Vicentino eine 1561 in Venedig gedruckte Werbeschrift für das neu gebaute Arciorgano, datiert auf den 25. Oktober. Er hielt sich aber nicht nur für die Betreuung des komplizierten Baus in Venedig auf, in einem Schreiben an den Kardinal Antoine de Perrenot Granvelle 1561 bezeichnete sich Vicentino als «M[aest]ro di Cappella di S.ta Panthaleon» in Venedig.17 Der Inhalt und die Formulierungen der Werbeschrift lassen vermuten, dass er zu dieser Zeit nicht mehr in Diensten des Kardinals war und nach einem neuen Patron suchte.
13 Vicentino, L’antica musica, fol. 95v (IV.43).
14 Vicentino, L’antica musica, fol. 95v (IV.43).
15 Barrè war Sänger in der Cappella Giulia und Zeuge beim Streitfall zwischen Vicentino und Lusitano; Maureen Elizabeth Buja, Antonio Barré and Music Printing in Mid-Sixteenth Century Rome, Ph.D. Diss. University of North Carolina at Chapel Hill 1996.
16 Siehe Kaufmann, The Life and Works, 101–102, Fn. 2; Maniates, Nicola Vicentino, xxiii Fn. 39; Buja, Antonio Barré, 106–107.
17 Brief vom 4. Januar 1561 an Kardinal Antoine de Perrenot Granvelle in E-Madrid, Real Biblioteca, Ms. II/2275, Nr. 13.
Zwischen Januar 1563 und Januar 1565 amtierte er als Kapellmeister an der Kathedrale seiner Heimatstadt Vicenza, wo zu seinen Aufgaben auch der Musikunterricht gehörte («docendum clericos musicam»).18 Ein naheliegender Kontakt zur dortigen Accademia Olimpica ist bislang nicht belegt. Von Vicenza aus ging er nach Mailand, wo er als ‹rettore› an San Tommaso in Terramara belegt ist, dort unter anderem wiederum mit der Aufgabe «insegnar canto fermo e figurato».19 San Tommaso gehörte zum Einflussbereich von Carlo Borromeo (1538–1584), dem Mailänder Erzbischof (ab 1564) und einflussreichen Kardinal beim Trienter Konzil. Hier liegt auch eine Erklärung, warum Borromeo 1565 seinen ‹vicario generale› in Mailand, Niccolò Ormaneto, beauftragt, nicht nur Vincenzo Ruffo, Kapellmeister am Mailänder Dom, «di questa musica intelligibile» zu bitten, sondern auch Vicentino um eine Messe im chromatischen Stil.20
Zwischen 1570 und 1572 stand Vicentino in Kontakt mit dem Münchner Hof von Herzog Wilhelm V., dem er über die Vermittlung von dessen Mailänder Agenten seine Musikalien sendet und dabei auch auf seine Instrumente hinwies.21 Der erhaltene Briefwechsel nennt Vicentino zusammen mit seinem Schüler Gioseppe Caimo (ca. 1545–1584), was vielleicht neue Einsichten in Vicentinos Mailänder Zeit ermöglicht. Caimo war Mitglied einer speziellen Akademie, genannt Facchini della Val di Blenio, um den Maler Giovanni Paolo Lomazzo (1538–1600).22 Weiter ist hier auch Prospero Visconti, Signore di Breme (1543–1592), zu anzuführen, der nachweislich ein «organo cromatico de don
18 Giovanni Mantese, Storia musicale vicentina, Vicenza: Banca Cattolica del Veneto 1956, 47 (zit. bei Kaufmann, The Life and Works, 36).
19 Daolmi, Don Nicola Vicentino, insbesondere 63–104.
20 Lewis Lockwood, «Vincenzo Ruffo and Musical Reform after the Council of Trent», in: MQ 43/3 (1957), 342–371: 349–350 («Aspetterò la messa del Ruffo; et se costì in Milano si trovasse don Nicola della musica cromatica, potresse pregarlo anchor lui che ne componesse una, perché dal paragone di molti musici eccellenti meglio si potrà far giudicio di questa musica intelligibile»).
21 Bertha Antonia Wallner, «Urkunden zu den Musikbestrebungen Herzog Wilhelms V. von Bayern», in: Gedenkboek aangeboden aan Dr. D. F. Scheurleer op zijn 70sten Verjaardag , s’Gravenhage: Nijhoff 1925, 369–377: 369–373; Henry Simonsfeld, «Mailänder Briefe zur bayerischen und allgemeinen Geschichte des 16. Jahrhunderts», in: Abhandlungen der Historischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22, München: Verlag der Akademie 1902, 231–575. – Denkbar wäre bei diesem Kontakt auch eine Vermittlung Orlando di Lassos, der Vicentino vermutlich in Rom getroffen hatte.
22 Daolmi, Don Nicola Vicentino, 93–95 (Caimo hier mit dem Namen «Compà Caglim» als «organistra dra Val»).
Nicola» besass.23 Dieser kulturelle Umkreis könnte vielleicht auch zur Klärung des Hintergrunds der Medaille beitragen, die auf Vicentino gemünzt wurde.24 Schliesslich erscheinen in Mailand auch zwei weitere Musikdrucke mit Motetten und Madrigalen Vicentinos, die von seinem Schüler Ottavio Resino herausgegeben wurden.25
Ein kirchlicher Visitationsbericht aus dem Jahre 1572 weiss von unordentlichen Zuständen zu berichten (so fehlen die für einen Priester notwendigen Bücher, auch werden eine Frau und Kinder unklarer Abstammung bemängelt).26
1577 starb Nicola Vicentino, vermutlich infolge einer der in Mailand grassierenden Pestwellen.27
23 Stefano Della Torre und Richard Schofield, Pellegrino Tibaldi architetto e il S. Fedel di Milano. Invenzione e costruzione di una chiesa esemplare , Como: NodoLibri 1994 (Storia d’arte 4), 37.
24 Vielleicht Annibale Fontana (1540–1587) zuzuschreiben; vgl. Daolmi, Don Nicola Vicentino, 193–216: 199.
25 Archimusici theorici et practici. et novae harmoniae inventoris. Nicolau Vicentini, Moteta cum quinque vocibus, Liber quartus, Mailand: Paolo Gottardo Pontio 1571; Madrigali a cinque voci, di l’arcimusico Don Nicola Vicentino practico et theorico et inventore delle nuove armonie …, Libro quinto, Mailand: Paolo Gottardo Pontio 1572.
26 «Visitato pre Nicola Vicentino curato ulterior non ha li libri requisiti [= richiesti], ha in casa una donna senza licenza già doi anni fa con certi figliolini ma non si sa de chi siano figlioli et vi è un poco di suspitione, ha in casa uno strumento di musica qual dicer esser organo compìto.»; zit. nach Daolmi, Don Nicola Vicentino, xix, 86.
27 Ercole Bottrigari, Il Desiderio overo De’ Concerti di varij Strumenti Musicali, Venedig: Ricciardo Amadino 1594, 41 («Morte di Nicola Vicentino. Contaggio grandissimo in Italia. 1576. & 1577.»); vgl. auch Daolmi, Don Nicola Vicentino, 101–104.