reflexe 84: Wolfgang Welsch. Im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur

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WOLFGANG WELSCH

Im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur

Schwabe reflexe

84

Band

Im Spannungsfeld zwischenNatur und Kultur

Schwabe Verlag

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Druck:Hubert &Co., Göttingen

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5211-3

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5213-7

DOI 10.24894/978-3-7965-5213-7

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III.

IV.

VI.

VII.

Natur ist ein altes Thema der Philosophie. Denn die Philosophie ist von sich aus kulturlastig. Deshalb musste sie sich stets auch zum Anderen der Kultur – eben zu Natur – ins Verhältnis setzen. Sie musste, wenn sie ihrem Anspruch, das Ganze der Welt zu begreifen, genügen wollte, mit diesem Anderen zurechtkommen. Die einfachste Strategie bestanddarin, Natur zu einer Vorform der Kultur zu erklären. Zu dieser Formel griffen die Philosophen des Deutschen Idealismus, Schelling beispielsweise und Hegel. Die antiken Philosophen hingegenhatten eher der entgegengesetzten Strategie zugeneigt:die Kultur als Analogon und Fortsetzung der Natur. So meinte etwa Aristoteles, dass die Kultur die Natur nachahme, und die Stoiker sahen in der Natur das verbindliche Vorbild und Maß für jede menschliche Tätigkeit.

Zeitgenössischerscheint keine dieser beidenPositionen mehr als anschlussfähig. Dennoch:Die Annäherung zwischen Natur und Kultur, welche die genannten Positionen auf unterschiedliche Weise vornahmen – die antike Position durch Angleichungder Kultur an die Natur, die moderne durch Erklärung der Natur zu einer Vorform der Kultur – wird heute auf neuartige Weise virulent:Natur und Kultur stellen sich zunehmend als Kontinuum dar, also nicht mehr als Gegensatz, sondern als miteinander verschränkt, verbunden, verwoben. Es sind Amalgamierungen und Fusionen von Kultur und Natur, welche die zeitgenössische Wirklichkeit bestimmen und das

heutige Verständnis von Natur und Kultur prägen. Diesen Verflechtungen geht das vorliegende Buch nach.

Zu Beginn wird die in der Moderne erfolgte Verflüssigung des Gegensatzes von Natur und Kultur erläutert, um dann die evolutionäreVerschränkung beider darzulegen. Auf Fallstudien zu Novalis, der Seinsart der Steine und einer Architektur, die sich als Physeotektur versteht, folgen Ausführungen zur Problematik des Anthropozäns, zur Schubumkehr der Natur im Menschen sowie zu zeitgenössischen Hybridbildungen.Abschließend wird die Kernfrage diskutiert, welche Natur es eigentlich ist, die uns zu Recht am Herzen liegt.

‹Natur› ist ein immens großer Komplex. Er kann nicht auf eine einzelne Bestimmungreduziert werden. ‹Natur› ist ein plurale tantum. Sie umfasst die gigantischen Energieflüsse schwarzer Löcher, das Fine-tuning von Billiarden Sonnensystemen, die Sauerstoffproduktion von Pflanzen, das Liebesleben der Schmetterlinge, die Magnetfeld-Orientierung der Zugvögel, die Warnrufe der Meerkatzen – und ebenso den Hervorgang des Menschen und seiner zivilisatorischen Unternehmungen und kulturellenAnstrengungen aus der Natur. Bereits im Tierreich hat die Natur begonnen, technischeStrategien und kulturelle Eigenheiten zu entwickeln.Beim Menschen hat sich das potenziert fortgesetzt. Das reichtheute bis hin zu Phänomenen der Naturzerstörung, die uns deshalbbeunruhigen, weil sie unsere eigenen Lebensgrundlagen gefährden, ja zu vernichten drohen.

Die Kultur ist gegenüber der Natur nicht etwas schlechthin Anderes, aber sie kann sich offenbar gegen die Natur wenden. Der zivilisatorische Weg des Menschen gefährdet derzeit die natürliche Umweltsowie die Existenz des Menschen. Jedoch könnte noch dies im äußersten Fall als Verfahren der Natur selbst verstanden werden, durch welches diese es unternimmt, sich von ihrem faszinierendsten Produkt – aberauch

stärksten Widersacher – zu befreien,umendlich wieder ohne menschliche Störung ihren eigenen Weg nehmen zu können.

Darin setzt der Autor seine Hoffnung nicht. Aber vielleicht bedarf es dieser Schreckensaussicht, um in letzter Minute eine Wende des menschlichen Verhaltens herbeizuführen und die Katastropheabzuwenden.

Im Blick auf den prekären Status von Natur wie Kultur bietet dieses Buch sowohl Fallanalysen als auch Begriffsarbeit, vor allem aber sucht es zu ermutigen, die gegenwärtigenProbleme nicht zu ignorieren, sondern sich ihnen zu stellen und sie mit klarem Bewusstsein und entschlossenem Engagement anzugehen.

Berlin, 17. Oktober2023

Wolfgang Welsch

I. Natur versus Kultur ?

In welchem Verhältnis stehen Natur und Kultur zueinander? Handelt es sich um einen Gegensatz, fallen die beidenauseinander?Oder handelt es sich um eine Beziehung, gehören die beiden zusammen?

Dem westlichen Denken wird heute vielfach vorgeworfen, dass es durch Gegensätze bestimmtsei. Etwa durch den Gegensatz von Geist und Materie oder von Mensch und Welt und eben auch von Natur und Kultur. Der letztere Dualismus ist hier das Thema.

Ich werde zunächst die Hauptstadien des Natur-KulturVerhältnisses in Antike, Mittelalter und Neuzeit darstellen,um mich dann einer in der Gegenwart erfolgendenVeränderung zuzuwenden. Im Verlauf dieser Betrachtungen wird deutlich werden, dass das westliche Denken das Verhältnis von Natur und Kultur nicht immer als Gegensatz angesehen hat. In Antike und Mittelalter war das keineswegsder Fall, dort wurde vielmehr die wechselseitige Bezogenheit von Natur und Kultur betont. Erst die Neuzeit hat das Verhältnis beider als strikten Gegensatz bestimmt. Heute aberbetrachten wir das Verhältnis erneut als eines der wechselseitigen Bezogenheit, sogar einer sehr engen Bezogenheit.

Antike

In der Antike war der Gegensatz von Natur und Kultur nirgendwo total, sondern stets eingeschränkt bzw. abgemildert.

Das altgriechischeWort für Natur (physis – noch unser heutiger Terminus ‹Physik› leitet sich davon her)war allumfassend gemeint.Alles gehörtezur Natur, nicht nur Meere und Gebirge, Pflanzen und Tiere, sondern auch die Handlungen der Menschen. In dieser umfassenden Natur sollte, so hat es Heraklit um 500 v. Chr. gelehrt, ein einziges Gesetz herrschen, der Logos von aufeinander bezogenen Gegensätzen:Ebbeund Flut, Kälteund Wärme, Licht und Dunkelheit, Dürreund Fruchtbarkeit,Eintracht undZwietracht, Liebeund Hass bauen sich auf, gleichen sich aus, bauen sich erneut und anders auf und kommen wieder zum Ausgleich. Das gilt nicht nur im Kosmos,sondern ebenso in der menschlichen Welt. Die Einsicht in dieses Gesetz des Logos erlaubt, sowohl die Natur zu verstehen als auch die menschliche Welt angemessenzugestalten.1

Anfänglich also waren im antiken Denken Natur und menschliche Welt ungetrennt, bildeten eine Einheit. Das veränderte sich 150 Jahre später bei Aristoteles. Aus der Einheitlichkeit wurde Kontinuität. Aber das war noch immer etwas anderes als ein Dualismus von Gegensätzen. Natur und Kultur galten weiterhin als kongruent. Aristotelesʼ berühmte Formel dafürlautet: «ἡ τέχνημιμεῖταιτὴνφύσιν» – «die Kunst(techne) ahmt dieNatur (physis)nach».2 Aristotelesunterschied also Kunstbzw.Kultureinerseitsund Naturandererseits, aber die ersteren solltenander letzteren ihrMaß haben. Die menschliche Kunst verfährt Aristoteles zufolge bei der Herstellung von Dingen genauso wie die Natur, weil die gleichen vier Artenvon Gründen, dieinder Naturherrschen (Stoff-, Form-, Wirk-und Zielursache), auch diemenschliche Produktion bestimmen. «Wärebeispielsweiseein Haus etwas, wasvon Naturentsteht, so

würdeesauf genaudieselbe Weisezustandekommenwie jetzt durchdie handwerklicheTätigkeit.Umgekehrt würden dieNaturgebilde,wennsie nichtnur aufnatürlichemWege, sondern auch durchmenschliche Kunstfertigkeitzustandekämen,ineben derselbenWeise zustande kommen wiejetzt vonNatur.»3 Zwischen Natur und Kunst besteht also völliger Gleichtakt. Die Zusammengehörigkeit der beiden erweistsich auch darin, dass die menschliche Zivilisation das Werk der Natur fortführt, wo diese selbst es unvollendet gelassen hat. Aristotelesʼ Hauptbeispiel dafür ist der Ackerbau (das Paradigmavon Kultur schlechthin): Aus Weizenkörnern entstehen nicht auf natürliche Weise Weizenfelder, sondern dafür braucht es die Arbeit und Umsicht des Bauern, erst durch sie gelangtdas Potenzial der Natur zur Wirksamkeit. Fernerergänzt diemenschlicheKunst dieNatur dort,wodiese nurdie ersten Entwicklungsschritte besorgthat,während fürdie weitereEntwicklung gezielte menschlicheMaßnahmen erforderlich sind.Sobedürfendie Menschen zurGeburteiner Hebammeund nachher, alsKinder, desBeistands derEltern.4 In derlei Fällennimmt diemenschliche Kunstdie Vorgaben derNatur aufund führtdie natürlichangelegten Wege weiter.Sie vollendet,was in derNatur angebahnt –aber eben nurangebahnt – ist.5 In ähnlicher Weise ist auch im sittlichen Bereich entscheidend, dass eine gute Naturanlage zwar vorhanden ist, dann aber durch Erziehung und Gewöhnung ihreadäquate Ausbildungzueiner «zweiten Natur»findet.6 – Aristoteles versteht die menschliche Technik und Zivilisation also insgesamt als Analogon und Fortsetzung der Natur. Andere Denker betonten stärker die Eigenständigkeit der Kultur. Seit der Sophistik7 und dann im Hellenismus unterstrich man die Unterschiedlichkeit der Sitten und Gebräuche bei verschiedenenVölkern. Diese Unterschiedlichkeit zeige, dass die sittlichen Konventionen nicht durch die Natur geregelt sind, denndann müssten sie überall gleich sein, sondern sich

menschlicher Setzung verdanken. Bei dem einen Volk ist die Trauerfarbe Weiß, bei einem anderenSchwarz, und die einen verbrennen ihre Toten, währenddie anderensie verspeisen.8 Aber Vorsicht: Nicht alles ist relativ. Denn warum gibt es überhaupt Trauerfarben und Bestattungsriten?Weil wir Menschen allesamt sterben müssen. Trauerfarbe und Bestattungsriten sind gewiss kulturell bedingt und insofern relativ, aber ihre Grundlage – unsere Sterblichkeit – ist von der Natur verfügt, und daran ändert keine Zivilisation etwas. Die kulturellen Varianten beruhen somit auf einer invarianten, von der Natur vorgegebenen Basis.

Im Blick auf diese Grundlagenfunktion der Natur haben dann in römischer Zeit die Stoiker erneut das Maß der Natur betont und die Übereinstimmung mit der Natur zur Richtschnur sittlichen Lebens erklärt. Die menschliche Natur ist selbst ein Teil der kosmischen Natur, und so kann es zwischen Kultur und Natur keinen wirklichen Gegensatz geben, sondern die Natur ist und bleibt – von der kosmischen Ordnung an –das leuchtende Vorbild menschlicher Orientierung.

In der Antike besitzt die Unterscheidung von Natur und Kultur also keine wirkliche Sprengkraft. Auch dort, wo Natur nicht alles ist, sondern wo man der Kultur gegenüber eine gewisse Eigenständigkeit attestiert, bleibt die Natur maßgebend.

Mittelalter

Im Mittelalter steht nicht die Natur, sondern Gott an erster Stelle. Erst sekundär, als Gottes Schöpfung, gelangtdie Natur in den Blick. Dabei begründet der Schöpfungsgedanke zugleich

eine neue Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Natur – beide sind ja Geschöpfe Gottes. Schon deshalb kann die menschliche Kultur nicht in einem blanken Gegensatz zur Natur stehen.

Die Natur gilt, da sie das Werk Gottes ist, vielfach als ein Medium, durch dessen Betrachtung wir Menschen uns Gott nähern können. Sie wird als ein Buch angesehen, in dem göttliche Lehren niedergelegt sind. Dahervermag die rechte Kontemplation der Natur zur Schau Gottes zu führen. So dient die Natur unserem Seelenheil.

Im Übrigen dient sie auch ganz pragmatisch unseren Zwecken. Tiere sind für unsere Ernährung da, Vögel singen zu unserem Entzücken, und warumleuchtendie Sterne undder Mond desNachts? Kirchenvater Augustinus weiß dieAntwort: Sieleuchten, «umdie vielenMenschen zu trösten, die auch nachts arbeitenmüssen».9 Die Natur ist geradezu auf den Menschen hin ausgerichtet(Anthropoteleologie). Natur und Kultur gehen Hand in Hand.

Am Ende des Mittelalters jedoch, im Übergang zur Neuzeit, treten sie auseinander. So weist Nikolaus von Kuesgegen Aristoteles’ Versuch, die menschliche Produktivität als «Nachahmung der Natur»zuverstehen und so an die Kette der Natur zu legen, auf die Andersartigkeit genuin kulturellerKreationen hin, die nicht als Nachahmung von Natur verstanden werden können. Paradigmatisch verwendetder Cusanerdafür dasBeispieldes Löffelschnitzers,der sagt: «Ich ahme nichtdie Gestalt irgendeinesNaturdinges nach.SolcheFormenvon Löffeln, Schalenund Töpfen kommen nämlichnur durchmenschliche Kunst zustande.Daher bestehtmeine KunstmehrimZustandebringen alsimNachahmen geschöpflicher Gestaltenund istdarin der unendlichen[gemeintist:der göttlichen]Kunst ähnlicher.»10 Die menschlicheKulturund ihre Hervorbringung vonArtefaktengehenüberdie Vorgaben derNatur hinaus.Sie stelleneineSchöpfung suigeneris dar.

Ein weiteres Dokument für die Herauslösung der menschlichen Eigenwelt aus dem Zusammenhang der Natur ist Pico della Mirandolas Rede De hominis dignitate von 1486, in der Pico erklärt, dass die Menschen,anders als alle anderen Wesen, nicht in die Schöpfung eingebunden sind, sondern dieser frei und ortlos gegenüberstehen – und sich deshalb ihre Bestimmung selber zu geben haben.11

Neuzeit:Natur und Kultur in striktem Gegensatz

Gewiss hatte es, wie im Blick auf die Sophisten und den Hellenismus erwähnt, früh schon Ansätze zu einer graduellen Herauslösung der menschlichen Welt aus der Sphäre der Natur gegeben, aber eine radikale Gegenübersetzung von menschlicher und natürlicherWelt findet sich erst ab dem 16. Jahrhundert. Maßgeblichwurde dann der im frühen 17. Jahrhundert von Descartes ausgerufene strikte Dualismus von res extensa und res cogitans. Die Natur auf der einen Seite soll allein durch Ausdehnung charakterisiert und einerein materielle Angelegenheit sein – res extensa. Der Mensch und die von ihm hervorgebrachte Kultur andererseits sollen durch eine völlig andere Seinsart bestimmt sein:durch Rationalität, Denken, Geist – res cogitans. Die beiden sind noch radikaler verschieden als Feuer und Wasser, denn Feuer kann Wasser verdampfen und Wasser kann Feuer löschen. Materie und Geist, Natur und Mensch aber haben gar nichts miteinander zu tun. Sie sind völlig unterschiedliche Substanzen.

Der Unterschied gegenüberälterenAuffassungen könnte kaum größer sein. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter war die Welt als geistbestimmt verstanden worden (man denke, für die Antike, an den logos des Heraklit oder den nous des Aristoteles,und für das Mittelalter an den göttlichen Geist).

Descartes hingegensieht die Natur als bloße Materie an, die in all ihren Abläufen rein mechanischen Prinzipien folgt. Die von ihm konzipierte moderne Natur ist vollkommengeistlos. Und der Geist (einst der Regent der Welt und das innerste Prinzip der Natur)ist zu einem naturexternen Prinzip geworden – und der Mensch dadurch, eben als Geistwesen, zu einem Alien in der Welt der Natur.

Wie radikal die neueNatursicht ist, kann man sich an der Auffassung der Tiere klarmachen. Descartes zufolge sind die Tiere nicht Lebewesen, sondern bloße Automaten. Sie sind in Wahrheit gar nicht Tiere (animalia), denn ihnen fehlt das Prinzip des Lebendigseins, die Seele (anima), sie sind bloß mechanische Apparaturen. Und Descartes war auf diese aberwitzige Idee einer Entseelung alles Lebendigen auch noch stolz. Er hielt sich zugute, auf diese Weise die Menschen von dem Verdacht entlastet zu haben, sie würden«mit dem Verzehr oder dem Töten von Tieren ein Verbrechen begehen».12 Toter Materie kann man eben nichts antun.

Diemoderne Natur, diesojedes Elements vonGeist und selbst vonLebendigkeitberaubt war, konnte dann als bloßes Rohstoff-und Energiereservoir angesehen werden, das man nach Belieben ausbeuten konnteund sollte. So erklärte Francis Bacon 1620, die Menschen sollten «die Naturbesiegen»,13 und Descartesgedachtedie Menschen 1637 «zuHerrenund Eigentümern derNatur»zumachen.14 Damals wurdedas technoideNaturverhältnis begründet, dasbis in unsere Tagereicht.

Versuche zu einer Überwindung des Dualismus

Kein Wunder, dass der CartesischeDualismus Gegenreaktionen hervorrief. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde seine Überwindungzum großen Pensum und beherrschenden The17

ma. Die Vorschläge dazu waren Legion.15 Aber ganz erfolgreich war keiner von ihnen.

Diderot beispielsweise vertrat in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Auffassung, dass die Materie allenthalben empfindungsfähig sei:«VomFloh bis zum empfindenden lebendigen Molekül, dem Ursprungvon allem, gibt es keinen Punkt in der Natur, der nicht leidet und genießt»;16 das Empfindungsvermögen ist «eine allgemeine und wesenhafte Eigenschaft der Materie».17 Mithin besitzt schon die Materie etwas, was sie von der toten Materie Descartes’ unterscheidetund der Sphäredes Geistes annähert. Die gängigen Abgrenzungensind nur vordergründig Auch der Mensch ist in die große Gemeinsamkeit einbezogen, steht der Natur nicht als Sonderwesengegenüber:«Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch,jedes Mineral ist mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanzemehr oder weniger Tier. Es gibt keine scharfe Abgrenzung in der Natur.»18 Diderot verabschiedet das Cartesische Trennungsdenken. Im späten 18. Jahrhundertwerden die Versuche, über den Dualismus hinauszugelangen, immer zahlreicher. Kant plädiert 1790 in der Kritik der Urteilskraft gegenüber der mechanistischen Naturauffassung für ein organisches Naturverständnis, demzufolge sich Zwecke nicht erst in der menschlichen Welt, sondern schon in der Natur finden,wodurch die beidenSphären einander angenähert werden. Schelling propagierteine ursprünglicheEinheit von Natur und Geist.19 Schiller legt in den Kallias-Briefen dar, dass Freiheit – vermeintlich ein Proprium der menschlichen Kultur – sich schon in der Natur findet, dass die Schönheit der Natur im Grunde eine Erscheinung von Freiheit ist und dass die Natur durch ihre schönen Gebilde geradezu einen Appell an uns Menschen richtet, endlich ebenfalls frei zu werden.20 Goethe kann über einen vermeintlich harten Gegensatz von Natur und Geist nur den Kopf schütteln und betont, dass präzise Naturerfahrungbis zur Schau von Ideen zu

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