Das lange 18. Jahrhundert
Le long XVIIIe siècle
The Long Eighteenth Century
Herausgegeben von /dirigé par /edited by Nathalie Ferrand, Claire Gantet, Marian Füssel, Helmut Zedelmaier
Volume 3
Helmut Zedelmaier
Sammlungen in Bewegung
Historische Essays
Schwabe Verlag
Der Druck dieser Publikation wurde von der Universität Fribourg/Freiburg (Schweiz), des Forschungszentrums Fundamente der Moderne der LMU München und von Carola Besoldunterstützt.
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Abbildung Umschlag:Blick in eine heutige Münchner Privatsammlung,eine Art Neuauflage der frühneuzeitlichen Kunstkammer. Photo:Helmut Zedelmaier
Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel
Cover:Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg
Korrektorat:Kerstin Köpping, Berlin
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert& Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5216-8
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5217-5
DOI 10.24894/978-3-7965-5217-5
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Treppauf,
Gelehrte
Dieses kleine Buch umgreift einen großen Zeitraum, der vom 15. bis zum 20. Jahrhundertreicht. Seine Untersuchungsschwerpunkteliegenim16. bis 19. Jahrhundert, im ‹langen› 18. Jahrhundert, wie das Signum der Reihe lautet, in der es erscheint. Die Reihe «Das lange 18. Jahrhundert»versteht das 18. Jahrhundert nicht im Säkularschema oder eingefasst in politische Zäsuren, sondern als ein in die Vergangenheit und Zukunft verweisendes, in dieser Hinsicht ‹langes› Jahrhundert. Eben dieses Programm gilt auch für die vorliegenden Untersuchungen über «Sammlungen in Bewegung», für die nicht die Frage leitend ist, wie eine Sammlung in ihren ‹Beständen› in einem fest umrissenen Zeitrahmen beschrieben werden kann. Bei den im Folgenden in vier unterschiedlichen Fällen untersuchten Sammlungen interessierenvielmehrbesonders die vielfältigen Provenienzen, Transformationen und Zukünfte, also die Beweglichkeit der Sammlungen im Lauf ihrer Überlieferungsgeschichte,die in manchmal zahlreichen, manchmal nur sehr wenigen oder gar keinenSammlungsobjekten bis in die Gegenwart reicht.
Das Buch stellt Untersuchungen, die ich in den vergangenenJahren in Vorträgen zur Diskussion gestellt und teilweiseinAufsätzen publiziert habe, in einen neuen Zusammenhang. Für die vorliegende Publikation wurden sie umgearbeitet, teils erweitert, teils gekürzt und neu akzentuiert. Vielen Menschen, Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen sowie Institutionen danke ich sehr für ihre Hilfe und Unterstützung. Alois Schmid hat mich auf den handschriftlich in der StaatsbibliothekMünchen überlieferten Bericht von Johann Baptist Fickler über den Reichstag 1576 in Regensburg hingewiesen. Sigrid Sangl halfbei der Untersuchung der Frage, ob einzelne in der Münchner Kunstkammer präsentierte russische Objekte bis in die Gegenwart gelangten. Die Recherchen in der Marienbibliothek in Halle an der Saale konnte ich mit kompetenter Unterstützung von Paola Molinound gefördert von der Università degli Studi di Padova (Dipartimento di Scienze Storiche, Geografiche edell’Antichità) vornehmen. Doch ohne Anke Fiebiger, die stets freundliche und hilfsbereite Bibliothekarin der Marienbibliothek, wären wir beide nicht weit gekommen. Über das im Essay über die Marienbibliothek ausgewertete, in der Biblioteka Gdańska überlieferte KönigsbergerTagebuch von Joachim Oelhafen informierten mich zwei Danziger Kolleginnen, Zofia Tylewska-Ostrowska und Stefania Sychta, und stellten mir unbürokratisch schnell ein Digitalisat des Manuskripts zur Verfügung. Der Essay
über die mathematisch-physikalischenSammlungen der Universität Ingolstadt profitierte grundlegend von Claudius SteinsarchivarischerExpertise. Entscheidende Hinweise für den Essay über Zacharias Conrad von Uffenbach erhielt ich von Monika E. Müller und Markus Friedrich, auf das Reisetagebuch von August HermannFrancke, in dem über Uffenbachs Frankfurter Bibliothek berichtet wird, hat mich Holger Zaunstöck hingewiesen. Der Epilog verarbeitet Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2001 bis 2005 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel geförderten Projekts «Die Frage nach dem Ursprung der Kultur», bei dem ich von Juliane Raffel, Andreas Sauder und Daniel Szabó unterstützt wurde,bei der Erstellung der Datenbank von Peter Chawraj, Christian Knoop, Isabel Kobus und Ulrich Johannes Schneider. Und schließlich habe ich zahlreichen Menschen zu danken, die den vorliegenden Text in einzelnen Teilen oder als Ganzes in seinen verschiedenenArbeitsstufen gelesen und kritisierthaben, insbesondere Aleksandra Ambrozy, Paola Molino, Markus Friedrich, Fabian Krämer, Ulrich Johannes Schneider und Gabriele Zedelmaier-Murrer. Jedoch ohne großzügige Druckkostenzuschüsse der Universität Fribourg, der Ludwig-Maximilians-Universität München (Forschungszentrum «Fundamente der Moderne») und von Carola Besold, ohne das Wohlwollen und die Initiative der Herausgeber der Reihe «Das lange 18. Jahrhundert»Claire Gantet, Nathalie Ferrand und Marian Füsselsowie ohne die kompetenteund sorgfältige Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Schwabe Verlages hätte dieses kleine Buch nicht das Licht der Welt erblicken können. Gewidmet ist es der Erinnerung an meinen Lebensfreund und lebenslangen Förderer Florian Besold.
München, im Mai 2024 Helmut Zedelmaier
Über das soziale Leben von Sammlungen
Das soziale Leben von Sammlungen ist eine neuere Fragestellung der sammlungshistorischen Forschung.1 Wie Sammlungsobjekte zirkulieren,inwelche Ordnungszusammenhänge sie eingefügt werden, welcher materielle oder ästhetische Wert ihnen zugeschrieben wird, ob und wie sie gebraucht werden, wie sie funktionieren und was sie repräsentieren, ist, so die damit verbundene These, abhängig von den Institutionen und sozialen Kontexten, in denen sie leben. Ihre Bedeutung ist historischen Veränderungen unterworfen, die über ihre Überlebenschancen bestimmen,darüberentscheiden, ob sie, ausgestattet mit Aura, überleben oder irgendwann entsorgt werden.
Es ist eine der Besonderheiten moderner öffentlicher Sammlungen, dass sie juristischen Personen wie dem Staat, Kommunen, religiösen Institutionen, Vereinen, Universitäten oder Stiftungen gehören.2 Der öffentlich-institutionelle Charakter ist für das Überleben der ObjekteinSammlungszusammenhängen entscheidend. Private Sammlungen unterliegen ständig der Gefahr, auseinanderzufallen. Davorsind auch öffentliche Sammlungen nicht vollständig geschützt, und nicht alle Sammlungsobjekte sind jederzeit öffentlichzugänglich. Denn nicht selten büßen Objekte, manchmal ganze Objektgruppen, im Lauf der Zeit ihre Bedeutung ein, die ja keine feststehende ist, die ihnen vielmehr Zeitumstände und ihre Agenten, etwa Kuratoren, zuschreiben. Solche Objekte verschwinden dann im Depot. Doch sind sie dort weiterhin, gleichsam als stillgestellte Repräsentanten der Sammlung, präsent,können jederzeit erneut aktiviert werden, sobaldsich Fragestellungen und Bedeutungszuschreibungen wieder ändern. VormoderneSammlungen unterscheidensichindieserHinsichtwesentlich vonmodernenSammlungen, unddas auch dann,wennsie,wie einige großefürstliche, kirchliche oder universitäre Sammlungen,einzelnequasi-öffentliche Funktionen,etwaZugänglichkeit, erfüllt habenmögen,was Untersuchungen,die sieals Prototypen derModerne entwerfen, gern betonen. Moderneöffentliche Sammlungensindauf kontinuierliches Wachstum angelegt,was einjährlicherErwerbungsetatgarantiert. Frühneuzeitliche quasi-öffentlicheSammlungenwachsen auch,nicht selten immens,jedochnicht kontinuierlich über einenjährlichenErwerbungsetat,sondern sozusagennur gelegentlich,inder Regeldurch den Aufkauf ganzer Sammlungen,durch SchenkungenoderStiftungen. Eine Zukunfts-Versi-
cherung, dieaktuell unbedeutendgewordenenObjekten in modernen öffentlichen Sammlungen dasDepot garantiert,kennenvormoderneSammlungenauchals quasi-öffentlichenicht.Sie sind ausanderen Gründenals in derModerneprekär. Nichtnur Herrschaftswechsel undKriegebedrohenihreStabilität; auch mangelndesInteresse ihrerBesitzerund Vorsteherkann dazu führen,dassganze Sammlungenaufgelöst,verkauft, entsorgt werden unddadurchverschwinden.
Heute gibt es eine großeVielfalt öffentlicher Sammlungen, Sammlungszusammenhänge unterschiedlicher Art und Zielsetzung. Sie führen Objekte aufgeteilt in gesonderten Gebäuden mit eigenen Ordnungslogiken nach jenen Kriterien zusammen, in die sich moderne Gesellschaften differenzieren:Kunst, Religion, Kultur, Technik,Wirtschaft, Soziales, Wissenschaft. Die Vielfalt der modernen Museumslandschaft ist bekannt. Im Unterschied dazu führen die großen fürstlichenSammlungen, die sich im 16. JahrhundertinEuropa als ein ineinander verwickelter Gesamtzusammenhang formieren, aus moderner Sicht unterschiedliche Sammlungsobjektezusammen.3
Nehmen wir als Beispieldie unter Herzog Albrecht V. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in München aufgebautenSammlungen. Zwei Neubauten, Antiquarium (mit Antikensammlung und Bibliothek)und Kunstkammer, wurden errichtet. In enger Nachbarschaft gelegen, bildeten sie eine Einheit, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Bibliothek auch Gemälde, Globen und Landkarten, die Kunstkammer auch Bücher enthielt.4 Einer der Organisatoren des Münchner Sammlungszusammenhangs war der niederländische Gelehrte Samuel von Quiccheberg. In seinem 1565 gedruckten Traktat «Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi», die erste Museumstheorie,beschrieb er ein ideales Muster zur enzyklopädischenPräsentation von Sammlungen.5 Die Münchner Kunstkammer,die im erstenEssay dieses BuchsimFokus steht, reflektiert Quicchebergs Ideal auf eindrucksvolle Weise.
Die Sammlungsobjekteder Münchner Kunstkammer konnten allerdings nur wenige Jahrzehnte in relativer Stabilität verbringen. Im Jahr 1632, während des Dreißigjährigen Krieges, besetzten protestantische Truppenunter Führung von Gustav Adolf München.Sie plünderten die Kunstkammer. Viele Objekte wurden zerstört, nicht wenige wanderten nach Schweden oder an deutsche protestantischeFürstenhöfe, etwa die berühmten Münzcodices von Jacopo Strada nach Gotha.6 Bereits in den Jahren zuvor hatte Maximilian I. Objekteaus der Kunstkammer entfernen und in seine Privatgemächer bringen lassen, wo sich eine «Kammergalerie»befand.7 Auch die Büchersammlung wurde während der Besetzung Münchens geplündert. Einige wertvolle Bestände waren zuvor in Fässern nach Burghausen verbracht worden, um sie vor Plünderungen zu schützen; dennoch gab es große Verluste.8 Etwa 2000 Bände wurden abtransportiert, darunter 300 «von den calvin[ischen], lutherischen und andern khezerrischen, und sonsten verbottenen buechern», wie es in den Hofhaushaltsakten heißt.9 Die ver-
Einleitung: Über das soziale Leben von Sammlungen
schleppten Bücher gelangten an unterschiedliche Orte;heute befindensich Codices u. a. in Göttingen.10
Die Münchner Plünderung war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Entführung der «Bibliotheca Palatina»aus Heidelberg neun Jahre zuvor 11 Maximilian I. schenkte damals, 1623, die auf 50 schwer beladenen Wagen nach München verbrachte «Palatina»dem Papst «als ein Beuth zur erzaigung meiner gehorsambisten schuldigenaffection»;12 nur ein sehr kleiner Teil wurde in die Münchner Sammlungeingegliedert. Als Reaktionauf die 1632 erlittenen Bücherverluste wiederum ließ Maximilian 1635, nach der Besetzung von Tübingen durch kaiserliche Truppen, 880 Bände aus der Bibliothek auf Schloss Hohentübingen nach München abtransportieren, darunter solche, die heute als herausragende Zimelien der Bayerischen Staatsbibliothekgelten.13 Zur Vorbereitung der Aktion hatte man sich einen Katalog der Tübinger Bestände nach München schicken lassen. Zwei Hofräte erhielten den Auftrag, ihn mit den Beständen in der Münchner Büchersammlungzuvergleichen. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist in der Bayerischen Staatsbibliothek überliefert. Die beiden Hofräte markierten im Katalog, in unterschiedlichen Farben, Bücher, die von den Schweden 1632 geraubt worden waren, und solche, die noch nie zum MünchnerSammlungsbestand gehört hatten.14
Die Münchner fürstliche Büchersammlung erlitt 1632 große Verluste;und Bücher verschwanden im Lauf der Zeit auch aus anderen Gründen, u. a. deshalb, weil sie nach ihrer Ausleihe nicht wieder zurückgegebenwurden.15 Doch noch heute ist ein großer Teil der Bücher, die unter Albrecht V. zusammengeführt worden waren, in der Bayerischen Staatsbibliothek vorhanden. Hingegen schaffte es nur ein verschwindend kleiner Teil der Objekte, die damals in der Kunstkammer versammelt waren,indie Gegenwart. In München finden sie sich vereinzelt und aufgeteilt auf jene Sammlungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden, in der Schatzkammer der Residenz, in der Alten Pinakothek, im Bayerischen Nationalmuseum und im Völkerkundemuseum (das heute «Museum Fünf Kontinente»heißt).
Wie sind die unterschiedlichen Schicksale von einerseitsBüchersammlung und andererseits Kunstkammer zu erklären?Bücher sind eben Bücher, könnte man argumentieren, und ergeben als Sammlungunabhängigdavon, welchen Schicksalen diese historisch unterworfen ist, einen eigenen Zusammenhang. Schaut man nicht auf die Preziosen einer Büchersammlung, sondern auf das Insgesamt ihrer Population, ist die Bibliothek eine Ansammlung von Büchern, die, von außen betrachtet, ziemlichgleichförmig erscheinen. Hingegen sind Kunstwerke wie Gemälde, religiöse und kulturelle Objekte, Naturalia, Gebrauchsgegenstände und wissenschaftlich-technische Instrumente, wie sie in der Münchner Kunstkammer zusammenmit einzelnen Büchern gemeinsam zur Anschauung kamen, jeweils disparate Objekte.
Doch ist diese Betrachtung von modernen Sichtweisen und Erfahrungengeprägt. Schauen wir hingegensozusagen mit frühneuzeitlichen Augen auf fürstli-
che Sammlungen,erweisen sie sich vor allem als Mittel und Medien höfischer Prachtentfaltung und Repräsentation. In dieser Hinsicht waren Bücher in ihrer Verbindung mit anderen Sammlungsobjekten nicht Orte der Benutzungund Lektüre, vielmehr Objekte der Schaustellung und Anschauung. Entsprechend argumentiertendie Ratgeber Albrechts V., der zögerte, als es darum ging, die Sammlungdes Humanisten Johann Albrecht Widmanstetter, Grundstock der Münchner Hofbibliothek, zu erwerben. Eine «solche liberey», schrieb ihm der Reichsvizekanzler Georg Sigismund Seld, sei für die Hofhaltung neben den «anndern vilen seltzamen unnd anscheulichen Dingen», die der Herzog besitze (gemeint sind die Objekteder Kunstkammer), «gleichsam ain Ehr unnd Zier». Komme ein gelehrter Mann, Gesandter oder wer auch immer, so Seld, könne der Herzog ihm die Ehre erweisen und alles zur Anschauung bringen, dadurch Magnifizenz und fürstliche Herrlichkeit ausdrücken.16
In Hinsicht auf ihre Funktion als Medien fürstlicher Schaustellung unterschieden sich Bücher nicht von anderenSammlungsobjekten. Große frühneuzeitliche Büchersammlungen waren Räume der Zurschaustellung und Selbstdarstellung, wie uns dies damalige Bibliotheksdarstellungen und die Wahrnehmung zeitgenössischer Bibliotheksbesucher vor Augen führen.17 Die nüchtern funktionale, auf das Lesen und Ausleihen von Büchern abgestellte, öffentlich zugängliche, von professionellem Personal verwaltete und mithilfe von frei verfügbaren Suchsystemen erschlossene Büchersammlung, wie sie für uns selbstverständlich geworden ist, entwickelte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Erst mit dem neuen dreigliedrigen Raumsystem aus Lesesaal, Magazin und Verwaltungsbüros etablierte sich die öffentliche Bibliothek, wie wir sie kennen.18 Andererseits aber waren frühneuzeitliche Büchersammlungen nicht nur Schauräume, in denen Besucher Bücher zusammen mit anderen Sammlungsobjekten bestaunten. Denn natürlich wurden Bücher auch benutzt, d. h. gelesen. Anders als bei Sammlungsobjekten wie Gemälden ergaben sich (und ergebensich noch heute)bei Büchern signifikante Unterschiede erst durch Lektüre, im Blick in (und nicht auf )Bücher.
Als Sammlungen wiederum unterschieden sich fürstliche Bibliotheken durch eine weitere Besonderheit von anderenSammlungsgruppen. Sie galten und dienten als Instrumente der Staatsräson. Auch das verdeutlicht die Frühgeschichte der Münchner herzoglichenBüchersammlung. Dass Albrecht V. die Sammlung «Widmanstetter»überhaupt kaufte, erklärt sich vor allem aus einer konfessionellen Konkurrenzsituation.19 Erzherzog Maximilian, König von Böhmen (und ab 1564 Kaiser), interessierte sich damals ebenfalls für die Bücher Widmanstetters.Sein Interesse wurde jedoch,u.a.von Papst Paul IV., argwöhnisch beobachtet. Man verdächtigte Maximilian und einige der für ihn mit dem Aufbau seiner Büchersammlung betrauten Agenten, dem konfessionellen Gegner in die Hände zu spielen. Und das mit einigem Recht. Maximilian wurde nämlich beim Aufbau seiner Bibliothek u. a. von dem kaiserlichen Rat Kaspar von Nidbruck
unterstützt. Und Nidbruck gehörtezum Netzwerk der Förderer der ‹Magdeburger Centurien›,dem Projekt einer neuen, protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, und unterhieltmit dem Organisator des Unternehmens Matthias Flacius Illyricus eine geheime Korrespondenz. Der kaiserliche Rat Johann Ulrich Zasius, treuer Anhänger der katholischen Reformbewegung, warnte deshalb Albrecht eindringlich davor, die SammlungWidmanstetter in die Hände von Maximilian gelangen zu lassen. Dieser sei im Begriff, eine Bibliothek«ketzerischer Puecher»aufzubauen. Albrecht dürfe es nicht zulassen, dass «sovil gutt puecher», d. h. die Bücher Widmanstetters, Häretikern überlassen werden. Damit würden die «Catholici»ihren Gegnern starke Waffen in die Hände geben. Dieses Argument überzeugteAlbrecht. Jetzt kaufte er die Bücher Widmanstetters.
Der Streit um Bücher und Büchersammlungen als Waffen konfessioneller Auseinandersetzungen fand im Dreißigjährigen Krieg eine gewaltsame Fortsetzung. Auch wenn also Büchersammlungen und Kunstkammern in frühneuzeitlichen Sammlungen eng miteinander verbunden waren, beide oft auch räumlich eine Einheit bildeten, galtenund agierten Büchersammlungendoch bereits damals als ein eigener Zusammenhang. Das BeispielMünchen ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die Büchersammlung wurde hier nicht nur in einem von der Kunstkammer getrennten Raum, sondern auch in einem anderen Gebäude aufgestellt. Und im Unterschied zu anderendamaligen fürstlichen Büchersammlungenbefanden sich in der «libraria ducalis»neben den Büchern nur verhältnismäßig wenige andere Sammlungsobjekte.20 Für den Bibliothekshistoriker Uwe Jochum ist die Münchner Hofbibliothek deshalb ein frühes Beispiel für die «Trennung von Kunstkammer und Bibliothek».21 Auch der Sammlungstheoretiker Quiccheberg sah die Büchersammlung zwar eng mit den übrigenSammlungen verbunden, behandelte sie aber nicht als Teil des Klassifikationssystems, mit dessen Hilfe die Einheit unterschiedlicher Sammlungsobjektesichtbar werden sollte. Er verstand die «bibliotheca»als Arbeitsinstrument («Musea et Officina ac Reconditoria») für die Sammlungen in der Kunstkammer.22 Doch ganz unabhängig vom Münchner Beispielgilt:Wenn Bücher auch in der Epoche enzyklopädischenSammelns als besondererSammlungszusammenhang wahrgenommenwurden, hatdies auch damit zu tun, dass ihr Gehäuse, also die Bibliothek, bereits eine eingeführte Institution war, die auf einelange Geschichte zurückblicken konnte. Trotz aller Transformationen, denen sie auf dem Weg in die Gegenwart unterworfen war, gewährte sie nicht nur im Fall von fürstlichen Bibliotheken, aus denen viele der heutigenLandes- und Staatsbibliotheken hervorgingen, dem Sammlungsobjekt Buch gewissermaßen einen Schutzraum, der die meisten Bücher in die Gegenwart gelangen ließ, wie im zweiten Essay am Beispiel der Marienbibliothek in Halle an der Saale gezeigt wird – gleichwohl nur dann, wenn politische Umstände einigermaßen günstig waren. Bei der berühmten Bibliothek des Matthias Corvinus (1443–1490)inBuda etwa war dies nicht der Fall. Ihr (geschätzter)Bestand von 2000 Bänden wurde auf ganz Europa und
darüber hinaus verstreut. Doch wenn bis heute immerhin 235 der sogenannten Corvinen identifiziert werden konnten, dann hängt dies auch damit zusammen, dass sie in anderenBibliotheken überleben konnten.23
Einen solch relativ stabilen Schutzraumwie die Bibliothek hatten Sammlungsobjekte aus frühneuzeitlichen Kunstkammern nicht.Die im frühen 18. Jahrhunderteingerichtete ‹Wunderkammer› der Franckeschen Stiftungen in Halle ist in dieser Hinsicht einegroße, deshalbumso beeindruckendere Ausnahme.24 Kunstkammern gerieten auf ungleich radikalere Weise in den Sog der Transformationvon Sammlungen. Nur wenige vereinzelte Sammlungsobjekte aus frühneuzeitlichen Kunstkammern und naturwissenschaftlichen Sammlungen konnten sich in die Gegenwart retten. Der Fall der mathematisch-physikalischen Sammlungen der Universität Ingolstadt, deren institutionelle, wissenschaftliche und soziale Bewegungsgeschichte von ihren Anfängen bis in das 20. Jahrhundert im dritten Essay untersucht wird, macht es deutlich.
Woher stammt unser Wissen über historische Sammlungsbestände, über ihre Präsentation und Ordnungslogiken, ihre Bewegungen, Verschiebungen, Umbauten, Neuordnungen, über die Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben wurden?Auf welche Weise und mithilfe welcher Mittel können wir überhaupt etwas über ihr soziales Leben, Überleben oder Verschwinden in Erfahrung bringen?
Es gibt überlieferteBerichte zeitgenössischer Besucher von Sammlungen, die ihre Eindrücke schildern, Dokumente, die Aufschlüsse über die Gründungvon Sammlungen ermöglichen;auch über prekäre Situationen, etwa wenn in Kriegen Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen oder Pläne für Eroberungen von Sammlungen geschmiedet und umgesetzt werden, informieren uns überlieferte Quellen. Aufschlüsse über den Alltag von Sammlungen aber erhalten wir durch Inventare und Kataloge. Zeitgenössische Besucher berichten über einzelne Eindrücke, Inventareermöglichen es, den Gesamtzusammenhang einer Sammlung zu ermessen. Dass wir etwa über die einzelnen Objekte der Münchner Kunstkammer bis hin zur Art und Weise ihrer Präsentation um 1600 so genau Bescheid wissen, verdanken wir dem bayerischenHofrat Johann Baptist Fickler, der 1598, anlässlich des Regierungsantritts von Maximilian I., ein Inventar erstellte.25 Die einzelnen Objektewurden von Fickler und einem Schreiber im Rundgang durch die Sammlunginder Folge und Art ihrer Präsentation erfasst und beschrieben;nur die Gemälde und ein Teil der Skulpturen sind im Inventar zu selbständigen Gruppen zusammengefasst. Auf der Grundlage des Inventars von Fickler erhält man einen genauen Einblick in die Münchner Kunstkammer um 1600.
Mithilfe von Inventaren können wir sozusagen die Spur aufnehmen, etwa überprüfen, ob ein Objekt auch in späterenInventaren verzeichnet ist. Und auch dann, wenn weitere Referenzen nicht überliefert sind, können wir über die Informationen eines Inventarsversuchen, Objekteinanderen Sammlungszusammenhängen zu identifizieren, und anderes mehr. Äquivalente der Inventare sind die
Bibliothekskataloge, die in der Frühen Neuzeit meist ebenfalls Inventarfunktion hatten. Sie liegen bis zum 18. Jahrhundert nur in seltenen Ausnahmen gedruckt vor und verzeichnen die Buchbestände gewöhnlich gegliedert nach ihrer räumlichen Aufstellung (alphabetische Verzeichnisse wurden in der Frühen Neuzeit vergleichsweise selten verfasst). Die Unterschiede zwischen frühneuzeitlichen Kunstkammerinventaren und Bibliothekskatalogen führen uns nochmals zur Besonderheit frühneuzeitlicher Büchersammlungen zurück.
Nehmen wir zum Vergleich das Inventar, das Hofrat Fickler verfasst hat.
Darin finden wir zu jedem Objekt knappe Beschreibungen seiner individuellen Besonderheit (Art des Objekts, Material, Größe, Farbe etc.). In frühneuzeitlichen Bibliothekskatalogen hingegen wird das Sammlungsobjekt Buch nach jenem standardisierten Adressensystem verzeichnet, das sich, in Verbindung mit dem Buchdruck,seit dem 15. Jahrhundert ausgebildet hatte und das noch heute Geltung besitzt:Autor, Titel, Format, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr;jene Daten also,die heute ‹Metadaten› heißen. Das einzelne Buch ist hier kein Objekt der Anschauung, das über seine je besondere Sichtbarkeit markiert wird, sondern ein Objekt möglicher Lektüre, dessen Verzeichnungsweise dafür aufschlussreiche Informationen liefert.
Der Aspekt Lektüre verweist auf eine weitere Besonderheit des Sammlungsobjekts Buch, die im vierten Essay im Blick auf die Sammlungspraktikendes Frankfurter Aristokraten ZachariasConrad von Uffenbach genauer untersucht wird. Mögen Bücher, oft lange Zeit, stillgestellt im Regal nur Objekteder Anschauungsein (und das sind sie im Rahmen frühneuzeitlicher Bibliotheken gewöhnlich immer:esgibt kein Magazin), also nur als Elemente des Gesamtzusammenhangs der Büchersammlung wahrgenommen werden. Zumindest einige werden gelegentlich aus dem Regalgenommen, als einzelne Objekteinspiziert und gelesen. Bei der Lektüre verwandeln sie sich von Objekten der AnschauunginObjekte, mit denen Leser umgehen, die sich Leser oder Leserinnen aneignen, auf welche Weise und für welche Zwecke auch immer. In alten Buchexemplarenfinden sich zahlreiche und vielfältige Spuren solcher Aneignungspraktiken in unterschiedlicher Gestalt.
Der Wunsch und Wille, Sammlungsobjekte nicht bloß anzuschauen,sondern sich unmittelbarerauf sie zu beziehen, mit ihnen umzugehen, sie zu berühren, zu besitzen, war (und ist)nicht auf Bücher beschränkt.Auch andere Sammlungsobjekte,Kunstwerke und historische Monumente lösten und lösen ein Bedürfnis nach Aneignung aus, in Hinsicht auf tatsächliche Inbesitznahmen,indem Sammlungsobjekte entwendet wurdenund werden, worüber wir historisch gewöhnlich nur indirekt etwas erfahren, so wenn Instruktionen über die Besichtigung von Kunstkammern diese Gefahren thematisieren;Museumsbesucher versuchten und versuchen aber auch auf durchaus ähnliche Weise wie Leser und Leserinnen von Büchern, Beziehungen zu ausgestellten Objekten herzustellen. Wie man der Untersuchung von Stefan Laube über die Geschichte des LutherEinleitung: Über das soziale
hauses in Wittenberg entnehmen kann, schriebenBesucher ihre Namen und Kommentare auf die Wände der Lutherstube;sie entnahmen«Mörtelstückemit dem Tintenfleck, Späne vom Estrichboden oder Holzwerke von den Wandflächen».26 Das Einschreiben, Einritzen und Entnehmen von Holzstücken hörte auch dann nicht auf, als seit 1783 die Möglichkeit bestand, Eindrücke in Besucherbüchern festzuhalten. Erst die umfangreichen Restaurierungen in den 60erund 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts tilgten die Besucherspuren, von denen sich heute nur sehr wenige Einritzungen erhalten haben. Nur ein Schriftzug ist heute noch deutlich sichtbar, nämlich derjenige von Zar Peter dem Großen, geschützt hinter Glas, gleichsam als historisches Relikt, das auf die Aneignungsgeschichte der Lutherstube verweist.
Ein weiteres Beispielfür solche Aneignungspraktiken sind die Fassadenfliesen der 1844 erbauten Sacrower Heilandskirche bei Potsdam, in die Besucherinnen und Besucher Kurznachrichten einritzten, wie man, in Bildund Text, dem jüngst publizierten Band «Short Messages»entnehmen kann. 1907 wurdendie Kritzeleien streng verboten, 2011/12 tilgte man die Einritzungen im Glockenturm der Kirche, was allerdings nicht verhinderte, dass die Fliesen weiterhin beschriftet wurdenund werden. Als kürzlich neueste Graffiti entfernt wurden, achtete man jedoch darauf, «alle darunterliegenden Bleistiftinschriften zu erhalten», die jetzt, im Blick auf den historischen Einschnitt in der jüngsten deutschen Geschichte, als historisch aufschlussreichangesehen werden:«Nach 1990 ist es Vandalismus, vor 1990 ist es historisch wertvoller Vandalismus», erklärt der Führer durch die Kirche den Besucherinnen und Besuchern.27
Moderne öffentliche Bibliotheken und Museen beherrscht das Wissensregime historische Authentizität und Originalität. In Buchexemplaren, die aus öffentlichen Bibliotheken entliehen werden, dürfen Leserinnen und Leser keine Spuren hinterlassen;Objekte in Museen dürfen nicht berührtwerden. Das moderne Sammlungsregime heroisiert das individuell Gemachte,das authentisch so bleiben soll, wie es ursprünglich einmal war.Sammlungsobjekte oder historische Monumente dürfenbewundert werden, sie sollen Besucherinnen und Besucher emotional und intellektuell bewegen, aber nicht in ihrer Materialität gestört, verändert oder gar in Besitz genommen werden. Interessieren wir uns allerdings für das, was aus und mit Büchern, Kunstwerken, Objekten im Laufe ihrer Lebensgeschichte gemacht wurde,wie sie sich bewegten, als materiale Objekte veränderten, sind wir auf Dokumente angewiesen, die uns Auskünfte über ihre Überlieferung, über ihre sozialen Bewegungen, Aneignungsweisenund Lebensschicksale geben.
Das damit verbundene Problem heißt heute «Provenienz». Insbesondere ethnologischeSammlungen sind wegen ihrer gewöhnlich gewaltsamen kolonialen Inbesitznahme in jüngster Zeit in den Fokus heftiger publizistischer Auseinandersetzungen gerückt.Der Begriff «Provenienz»kam zuerst im Zusammenhang mit der Rückgabeforderungvon während des Nationalsozialismus
enteigneten Kunstwerken auf. Inzwischen wird er sachlich und zeitlich erweitert eingesetzt. Seitdem der französische Präsident EmmanuelMacron 2017 in einer denkwürdigen Rede die Rückgabe der währendder Kolonialzeit geraubten Kunst- und KulturobjekteanAfrika versprochen hat,28 stehen ethnologische Museen unter besonderer Beobachtung. Es wird ihnen vorgeworfen, dass sie sich wenig um die Herkunft ihrer Bestände gekümmert haben und kümmern, oft nicht einmal genau wissen, wie viele Sammlungsstücke sie überhaupt besitzen, dass also exakte Inventarefehlen, ihre Sammlungen nicht auf dem neuesten Stand der Technik (sprichdigital)transparent sind.29
Die folgendenEssays untersuchen Sammlungen in Bewegung und das damit verbundene Problem der Provenienz anhand von vier unterschiedlichen historischen Fällen unter jeweils speziellen Aspekten:ImFall der Münchner Kunstkammer steht die Frage der Provenienz eines Sammlungsausschnitts, die Frage nach der Herkunft russischer Objekte, im Zentrum, im Fall der Marienbibliothek in Halle an der Saale die Frage nach den Zeitumständen und Ideen, die Sammlungen initiierten und bewegten, im Fall der Ingolstädter mathematisch-physikalischen Sammlungen deren – allerdings nur in wenigen Spuren nachvollziehbare – institutionelle, soziale und wissenschaftliche Bewegungsgeschichte. Der Fall des Frankfurter Sammlers Zacharias Conrad von Uffenbach wiederum beleuchtet die Frage nach Sammlungen in Bewegung auf synchroner Ebene, in Hinsicht auf die vielfältig verschlungenen Referenzierungsaktivitäten eines privaten Sammlers, im Blick auf dessen Netzwerke, Korrespondenzen, Exzerpierpraktiken, Katalogproduktionen.
Um etwas über Sammlungen in Bewegung in Erfahrung zu bringen, sind wir auf überlieferteDokumente angewiesen, die uns Nachrichten darüberübermitteln, wie Sammlungsobjekte gebraucht wurden, wie mit ihnen umgegangen wurde und wie sie festgestellt wurden. Wie der resümierende Epilog zu zeigen versucht, benötigenwir Referenzen,die ihr soziales Leben, ihr Überlebenoder Verschwinden dokumentieren.
Dr. Ficklers Inventar
Russland in der Münchner Kunstkammer
Was für eine wunderbare Welt wäre uns verschlossen geblieben, hätte nicht der bayerische Hofrat Dr. Johann Baptist Fickler im Jahr 1598 ein Inventar der Münchner Kunstkammer erstellt. Gewiss, wir wissen auch aus anderenQuellen einiges über dieses faszinierende Weltmuseum, das im zweiten Obergeschossdes Marstallgebäudes untergebracht war.Heuteresidiert hier bezeichnenderweise das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege. 1567 wurde die freistehende Vierflügelanlage mit dreigeschossigem Arkadenhof, der erste große Renaissancebau Münchens, fertiggestellt. Ausgehend von dem, was überliefert ist, betraten die ersten Besucher die SammlungimJahr 1577.30 Schaut man auf Größe und Umfang, repräsentiert die Münchner Kunstkammer zusammenmit den nur wenig später initiierten Sammlungen Erzherzog Ferdinands II. auf Schloss Ambras, der Kunstkammer Kurfürst Augusts in Dresden und der Prager Sammlung Kaiser RudolfsII. einen neuen Typ enzyklopädisch angelegter Sammlungen,den der Kunsthistoriker Horst Bredekamp im Ideal als Viererkette «Naturform – antike Skulptur – Kunstwerk – Maschine» kategorisiert und als epochales Grundmuster ausgreifenderWeltaneignungbegreift.31 Der Mailänder Agent Prospero Visconti, der die Münchner Kunstkammer 1578 zwei Tage lang besichtigt hatte, feierte sie in einem Dankesschreiben an ihren Gründer Albrecht V. als einzigartiges Museum in Europa («museum non solum rarum,sed unicum in tota Europa»).32 3407 Einträge verzeichnetdas Ficklersche Inventar, rund 6000 Objekte (einige vielfache wie Münzen nicht mitgerechnet)konnten der Besucher, die Besucherin beim Rundgang durch die vier Flügel und Eckräume vor allem auf und unter Tischen und langgestreckten Tafeln, in Kästenund Schränken, über den Fenstern (Gemälde)und auf umlaufenden Borden (Bronzen)besichtigen. Dank der mustergültigenEdition des Inventars von Fickler und der drei mächtigen Katalog- und Aufsatzbände, welche die Einträge des Inventars erschließen, lassen sich Besonderheit, Bedeutung und Überlieferungder Münchner Kunstkammer differenziert erschließen.33
Natur-, Kunst- und Gebrauchsgegenständeunterschiedlicher Art und Herkunft aus allen damals bekannten Weltteilen,aus Europa, Afrika, Asien und Amerika, waren in der Münchner Kunstkammer präsent. Ficklers Beschreibungen referieren allerdings auf Kategorien, die mit heutigen Herkunfts- und Funkti-