Sonja K. Borchers
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Philosophische Terminologie und Ambiguität in Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura
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Sonja K. Borchers
Michael Erler und Jan Erik Heßler (Hg.)
Begründet von Michael Erler und Wolfgang Rother
Band VI
Wissenschaftlicher Beirat
Graziano Arrighetti (†), Pisa
Jürgen Hammerstaedt, Köln
Carlos Lévy, Paris
Anthony A. Long, Berkeley
Francesca Longo Auricchio, Napoli
Antony McKenna, Saint-Étienne
Günther Mensching, Hannover
Martin Mulsow, Gotha
Gianni Paganini, Vercelli
David Sedley, Cambridge
Edoardo Tortarolo, Vercelli
Sonja K. Borchers
Schwabe Verlag
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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5218-2
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5221-2
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Ambiguität und Differenzierung am Beispiel
4.1 Übersicht über das Bedeutungsspektrum von videri
4.2 Lukrez’ Verwendungvon videri im vierten Buch von De rerum natura
4.2.1 Bedeutungsauffächerung von videri in 4. 269–
Die Entfernung des Spiegelbilds (4. 269–287).
Der «runde»Turm (4. 353–363).
4.3
5. Ambiguität und Ursprungssprache – der Rückgriff auf die wörtliche Bedeutung
5.1
5.2 «Soziale Metaphern»als Ambiguitätsphänomene
5.2.1
5.3 Komposita und Derivate
5.3.1 perplexus, a, um
5.3.2 manifestus,a,um
5.3.3 primordia
5.4 Miscellanea.
5.4.1 materies
5.4.2 figura
5.5 Kapitelzusammenfassung
6. Schlussbetrachtungen
DRN
Lucretius. De Rerum Natura.
Georges
Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hg. von Karl Ernst Georges. Online verfügbar:http://www.zeno.org/georges-1913.
HWPh
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Grunder und Gottfried Gabriel. Online verfügbar:https://hwph.ch/
HWR
Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Online verfügbar:https://www.degruyter.com/view/db/hwro
LSJ
AGreek-English Lexicon. Hg. von H. G. Liddell und R. Scott, 9. Auflage, Oxford 1968. The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon. Projektleitung:Maria Pantelia. Online verfügbar:http://stephanus.tlg.uci.edu/lsj/#eid=1
OLD
Oxford Latin Dictionary. Hg. von P. G. W. Glare. Oxford 1968–1982.
TLL
Thesaurus Linguae Latinae. Online verfügbar:https://www.degruyter.com/view/db/tll
Usener
Epicurea. Hg. von Hermann Usener, Leipzig 1887.
Lukrez’ philosophische Sprache wirkt unauffällig. In De rerum natura werden die Begriffe,die das epikureischeGedankengebäude tragen, in der Regel nicht explizit eingeführt oder definiert. Insgesamt bildet Lukrez nur wenige Neologismen und greift häufig auf Begriffe zurück, die in der lateinischen Sprache bereits existieren – mit dem Effekt, dass die philosophische Terminologie in De rerum natura unscharfe Ränder aufweist:Zuweilen kann der Eindruck entstehen, dass ein lateinischer Begriff eine philosophische Bedeutungsnuance erhält und dadurch im Lateinischen zu einer tragenden Säule der epikureischen Philosophie wird. Im Kontexteiner anderen Passage wiederum erscheint derselbe Begriff ganz im Rahmen seines normalen (nicht philosophischen)Bedeutungsspektrums. Aufgrund dieser Tendenz, bereits bestehendenlateinischen Wörtern im Kontext unterschwellig eine spezifisch-epikureische Bedeutungsschattierung zu verleihen,ist Lukrez’ philosophische Terminologie auf den erstenBlick unscheinbar.
Der Kontrast zu den von Epikur verwendeten griechischen Begriffen könnte kaum größer sein. Die erhaltenen epikureischen Texte operieren mit einer komplexen philosophischen Terminologie,die eineVielzahl von Neologismen enthält. In der Forschung wird Epikurs Sprachgebrauch daher als abstrakt und technisch, aber auch als schwer verständlich charakterisiert.1 Im Vergleich mit der epikureischen Terminologie gilt Lukrez’ Verwendungder lateinischen Sprache als weniger präzise, aber leichter zugänglich und lebendiger.2 Ein besonders auffälliges Merkmal von Lukrez’ Übertragung der epikureischen Terminologie ins Lateinische besteht darin, dass zentrale epikureische Begriffe in De rerum natura durch dynamisch ineinander übergehende Metaphern und Bilder wiedergegeben werden. Wie David Sedley in seiner einschlägigen Monografie Lucretius and the
1 Vgl. Sedley 1998, S. 36.
2 Vgl. Dalzell 1996, S. 94:«Where Epicurus is precise and abstract, Lucretius gives us a dynamic picture […]»; und Dalzell 1996, S. 95:«[…]Lucretius makes atechnical notion concrete and vivid. But undoubtedly something of its philosophcial precision is lost in the process.» Vgl. auch die verallgemeinernde Beobachtung von Clay 1983, S. 21:«[ ] [W]hat is abstract in Epicurus often becomes concrete and vivid in Lucretius.»
Transformation of Greek Wisdom (1998)herausstellt, wird dabei ein epikureischtechnischer (griechischer)Begriff in mehrere metaphorische (lateinische)Begriffe aufgefächert. Diese metaphorische Auffächerung, die Sedley treffend als «conversion of Greek technicality into flexible Latin metaphors»bezeichnet,3 erscheint als Teil einer übergeordneten Strategie, die gerade darauf abzielt, eine technischeTerminologie zu vermeiden:
For Lucretius […]the range of alternative terms is no stopgap or compromise, but is intrinsically desireable. By means of it, he seeks to capture the Greek original, not by substituting aLatin technical term for aGreek one, but by keeping in play awhole set of mutually complementary live metaphors. The policy is not one of finding atechnical terminology, but of avoiding one.4
Neben der metaphorischen Auffächerung lässt sich in De rerum natura aber auch das umgekehrte Phänomen beobachten,dass mehrere Aspekte eines philosophischen Konzepts in einem lateinischen Wort zusammenfallen. Ein bemerkenswertes Beispiel, an dem sich das Nebeneinanderstehen und Oszillieren mehrerer Bedeutungen nachvollziehen lässt, ist Lukrez’ Ausdruck corpora caeca,der sowohl als «unsichtbare» als auch als «blinde Körper»übersetzt werden kann.5 Obwohl der Aspekt der Unsichtbarkeit im Vordergrund zu stehen scheint, weil der lateinische Ausdruckals Äquivalent des griechischenBegriffs ἀόρατα (wörtlich:«Ungesehenes») verstanden werden kann, spielt auch der Aspekt der Blindheit innerhalb des gedanklichen Systemsdes Epikureismus eine Rolle:Die Atome sind insofern «blind”,als sie keinem göttlichen Willen folgen und ihre Bewegungen ausschließlich auf mechanistisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhen.6 Die Ambiguität von caecus hat somit das Potenzial, einen komplexen philosophischen Zusammenhang in der Mikrostruktur der Sprache auszudrücken: Die unsichtbaren Atome (corpora caeca)bewegensich als blinde Körper (corpora caeca)ziellos und zufällig im leeren Raum. Aus epikureischer Perspektive kann sich ein tieferes Verständnis der atomaren Beschaffenheit ergeben, wenn die Atome sowohl als unsichtbar als auch als blind konzeptionalisiert werden und beide Aspekte als zwei unterschiedliche Seitenderselben Medaille erscheinen. In diesem Lektüremoment, in dem das Nebeneinanderstehenmehrerer distinkter Bedeutungeneinen philosophischen Mehrwert erhält, verorte ich den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Das Beispiel corpora caeca stellt in De
3 Sedley 1998, S. 46.
4 Sedley 1998, S. 44.
5 Eine wichtige Analyse der Bedeutungsdimensionen von Lukrez’ Ausdruck corpora caeca findet sich bei Rumpf 2001. Zu einer ausführlichen Diskussion vgl. Abschnitt 3.1.1.
6 Die Bewegung der Atome wird hier mechanistisch verstanden. Zum Ansatz von Ernst August Schmidt, das clinamen gerade nicht als rein mechanistisches Konzept zu verstehen, sondern als eine Art Selbstverwirklichung der Natur, siehe Abschnitt 3.1.1, S. 102–103, Fn. 354.
rerum natura keinesfalls ein singuläres Phänomen dar, in dem einefeste Gegebenheit der lateinischen Sprache (d.h.die Ambiguität von caecus)mehr oder weniger zufällig eine philosophische Relevanz erhält. Vielmehr können wesentliche Aspekte und Merkmale der philosophischen Terminologie in De rerum natura systematisch erschlossen werden, wenn das Phänomen der Ambiguität als Beschreibungskategorie herangezogen wird.7 Dabei sind insgesamt vier Felder zu beachten:
(1) Bei einigen lateinischen Begriffen, die im Rahmen von De rerum natura eine philosophische Relevanz erhalten, handeltessich um (klassische)Fälle von Polysemie,bei denen ein ZeichenimSystem zwei (oder mehrere)semantisch relationierte Lesarten besitzt, z. B. caecus (Abschnitt 3.1.1), foedus (Abschnitt 5.2.2). Diese lexikalischenAmbiguitäten, die bereits im System der lateinischen Sprache angelegt sind, werden in De rerum natura philosophisch ausgeschöpft, indemzwei (oder mehrere)Bedeutungen eines Polysems nebeneinander aufgerufenund in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.
(2)ImRahmen der Ausbildung einer Terminologie, in der sich epikureischmaterialistischeGedanken sprachlich ausdrücken lassen,wird für bestimmte lateinische Lexeme uber die konventionelle Bedeutung hinaus im Kontext von De rerum natura eine zusätzliche (spezifisch-epikureische)Interpretation aufgerufen, sodass unter gewissenBedingungen mehrere Interpretationen koexistieren, z. B. coniuncta, eventa (Abschnitt 5.1). Die neu aufscheinende(epikureische)Bedeutungsnuance, die in einem bestimmten Kontext aufgerufen wird, tritt dabei häufig neben die bereits etablierte(n) Bedeutung(en), ohne sie vollständig abzulösen. Da die epikureische Bedeutungsschattierung durch subtile Verschiebungen der semantischen Gewichtung unmittelbar von der wörtlichen Bedeutung des Worts abgeleitet ist, stellt die wörtliche Bedeutung einen wesentlichen Referenzpunkt für die epikureische Bedeutung/Interpretation dar.
(3)Die zunächst sehr unterschiedlicherscheinendenPhänomene (1) und (2)können ausgehend vom Konzept der Ambiguität in einem gemeinsamen Rahmen betrachtet und erklärtwerden. Beide Typen von Ambiguität haben in De rerum natura das Potenzial, in verdichteter Form philosophische Zusammenhänge und Differenzierungen widerzuspiegeln, sodassdie Details der epikureischen Lehre in der Mikrostruktur der lateinischen Sprache sichtbar werden (siehe Kapitel 3–5).
(4)Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass es sich bei dem philosophischen Ausschöpfen von Ambiguitätsphänomenenauf der Ebene des einzelnen Worts – siehe (1) und (2) – nicht um zufällig genutzte Potenziale der lateini-
7 Im Sinn einer Arbeitsdefinition geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass Ambiguität dann vorliegt, wenn einem sprachlichen Ausdruck bzw. einer Äußerung mehrere Bedeutungen oder Interpretationen zugewiesen werden können. Zur Präzisierung und Einordnung des Ambiguitätsverständnisses vgl. Abschnitt 1.4.3.
schen Sprache handelt, sondern um Terminologieentscheidungen, die darauf abzielen, theoretische Zusammenhänge und Unterscheidungen in der Mikrostruktur der Sprache sichtbar zu machen. Dahinter steht möglicherweise eine Orientierung an der epikureischen Sprachtheorie, in der angelegt ist, dass die wörtliche bzw. eigentliche Bedeutung eines Worts einen wesentlichen Referenzpunkt für seine Verwendunginnerhalb einer philosophischen Untersuchung darstellt (siehe Kapitel 2).ImFall von Lukrez’ De rerum natura scheint dieses Prinzip eine spezielle Form anzunehmen:Umepikureische Konzepte zum Ausdruck zu bringen, greift Lukrez insbesondere auf Metaphern und bereits existierende Lexeme der lateinischen Sprache zurück, und zwar so, dass die wörtliche bzw. eigentliche Bedeutung präsent bleibt. Wie im Verlauf der Arbeit deutlich wird, liefert die ursprungssprachliche Orientierung an der wörtlichen bzw. eigentlichen Bedeutung eines Lexems eine überzeugende Erklärung für beide Typen von Ambiguität in Lukrez’ philosophischerTerminologie.
Die Präzisierung dieser vier Felder eröffnet die Möglichkeit, zentrale Prinzipien sichtbar zu machen, die Lukrez’ Transformation der epikureischen Terminologie zugrunde liegen können. Mit dem Begriffder Transformation bezeichnet Sedley die umfassende Adaption und Umwandlung, die die epikureische Philosophie dadurch erfährt, dass die von Epikur in griechischer Sprache verfassten Prosatraktate in die lateinischeSprache, die römische Kultur und die Form des Lehrgedichts gebracht werden.8 Wie Katharina Volk prägnant festhält, führt diese Transformationzusubtilen Bedeutungsverschiebungen:
[ ]Greek philosophy has not crossed into anew language and culture unchanged, but has become transformed:inthe course of becoming both Latinised and poeticised, it has undergone subtle but often significant shifts of meaning.9
Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit gilt den subtilen, aber signifikanten Veränderungen, die sich in De rerum natura daraus ergeben, dass Lukrez die epikureischeTerminologie aus dem Griechischen ins Lateinische transformiert. Diese Transformation wird dabei nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Übersetzung, sondern vor allemals eigenständiger, innovativer Beitrag zur epi-
8 Vgl. insbesondere Sedley 1998, S. xv:«Lucretius’ achievements as apoet to alarge extent lie in his genius for transforming Epicurean philosophy to fit alanguage, aculture and aliterary medium for which it was never intended.» Bereits Diskin Clay verwendet den Begriff der Transformation, um Lukrez’ Umwandlungsleistung in De rerum natura zu beschreiben:«[ ] he must have transformed what he knew of Epicurus’ ratio in his own presentation of the Epicurean truth concerning the nature of things»(Clay 1983, S. 15). Im Gegensatz zu Sedley scheint Clay aber die von Lukrez’ vorgenommenen Modifikationen vor allem durch äußere Notwendigkeiten motiviert anzusehen. Zu einer ausführlichen Gegenüberstellung der Positionen von Sedley und Clay vgl. Rumpf 2003, S. 11–19 sowie S. 12, Fn. 9(zum Begriff der Transformation).
9 Volk 2024, S. 719.
kureischenPhilosophie betrachtet.10 Anhand einer detaillierten Analyse von insgesamt 17 lateinischen Begriffen und Ausdrücken (zur Auswahl siehe Abschnitt 1.4.2)werden sich ergänzende Indizien dafür angeführt, dass Lukrez die Möglichkeiten und Gegebenheiten der lateinischen Sprache da philosophisch ausschöpft, wo sich bestimmte Potenziale für die epikureische Philosophie auftun.
Der Fokus auf die lateinischen Begriffe in De rerum natura und ihr philosophisches Potenzial schließt freilich einen Vergleichmit Epikurs griechischer Terminologie nicht aus. In der vorliegenden Arbeit wird Epikurs griechische Terminologie nicht nur in den Detailanalysen der lateinischen Begriffe als Vergleichsfolie herangezogen, sondern auch bei der Materialauswahl berücksichtigt. Dahinter steht die Überlegung, dass die Gegebenheitender griechischen und lateinischen Sprache in einigen Fällen dazu fuhren, dass ein griechischer Begriffin einen lateinischen Begriff mit einem breiteren (oder anders gelagerten)semantischen Spektrum uberfuhrt wird. Diese semantischen Veränderungenund Verschiebungenkönnen nun im Rahmen der epikureischen Philosophie dann signifikant werden, wenn die neu hinzutretende Bedeutungsdimension das Potenzial bietet, einen bestimmten Aspekt des epikureischen Gedankengerüsts genauer zu beleuchten. Um auf das anfangs genannte Beispielzurückzukommen, wird der (imGriechischeneindeutige)Begriff τὰἀόρατα in den lateinischen Ausdruck corpora caeca überführt, der eine zusätzliche Bedeutungsdimension aufweist und neben «unsichtbaren Körpern»auch «blinde Körper»bezeichnet. Wenn nun in De rerum natura Indizien dafür gefunden werden können, dass beide Lesarten aktiviert und nebeneinander aufgerufen werden, so ist zu überprüfen, ob sich dafür strategisch-philosophische Gründe anführen lassen (zur Analyse von corpora caeca siehe Abschnitt 3.1.1). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn durch die Ambiguitäteine übergeordnete Verständnis- und Interpretationsebene erschlossen wird, die es dem Lesepublikum ermöglicht, über die Ebene der (lateinischen) Sprache tiefer in die epikureische Philosophie einzudringen.
Bereits an dieser Stelle ist ein Aspekt hervorzuheben, der für die in dieser Arbeit gewählte Herangehensweise grundlegend ist:Das Phänomen der Ambiguität wird als Interpretationswerkzeug und hermeneutischer Schlüssel genutzt, um die philosophische Terminologie in De rerum natura systematisch zu erschließen und auf ihre impliziten,generierendenPrinzipien zu befragen (zur Methode siehe Abschnitt 1.4). Dieses Vorgehen liegt darin begründet,dass die subtilen, aber signifikanten Veränderungen, die sich aus der terminologischen Transformationder epikureischen Philosophie in die lateinische Sprache ergeben, dann besonders deutlich zutage treten, wenn dem lateinischen Begriffmehrere Bedeutungen oder Interpretationen zugewiesen werden können und er in
10 Zur Unterscheidung zwischen der Transformation und Übersetzung der epikureischen Terminologie ins Lateinische vgl. Abschnitt 1.4.1.
diesem Sinn ambig ist. Wennnun in mehreren Fällen Indizien dafür gefunden werden können, dass eine AmbiguitätimText aktiviert wird, gilt es in einem nächsten Schritt zu fragen, welche Funktion der Ambiguität im Einzelnen zukommt und – in einem weiteren Schritt – ob hier bestimmte Prinzipien einer gezielten Terminologieauswahl wirksam sind, durch die sich ein gehäuftes Auftreten von Ambiguitätsphänomenen erklären lässt. Da der Zugang zur philosophischen Terminologie in De rerum natura über das Phänomen der Ambiguität bisher noch nicht entwickelt wurde,ist eine zweifache Verortung in der bisherigen Forschung erforderlich:InAbschnitt 1.3.1 wird ein Forschungsüberblick über die philosophische Terminologie in De rerum natura gegeben;inAbschnitt 1.3.2 werden die bisherigen Forschungsergebnisse zum Phänomen der Ambiguitätin De rerum natura vorgestelltund diskutiert.
Die Anzahl der bisherigen Forschungsarbeiten, die sich umfassend mit der philosophischen Terminologie in De rerum natura befassen, ist überschaubar. Wahrend Ciceros Beitrag zur Ausbildungeiner philosophischen Fachsprache im Lateinischen in der Forschung stark gewürdigt wird,11 erhält dieselbe Frage in der Lukrezforschung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Dafür sehe ich zwei Gründe:Einerseits scheint ein (teils offener,teils unausgesprochener)Zweifel daran zu bestehen, ob die vom Dichter Lukrez verwendete Sprache überhaupt als philosophische Fachsprache gelten könne. Andererseits hat sich die lukrezische Terminologie auch in der Rezeption de facto als nicht besonders durchsetzungsstark erwiesen. Während Cicero, Augustinus und Boethius Latein als philosophische Sprache maßgeblich geprägt und die philosophische Terminologie des Mittelalters beeinflussthaben, sind viele der von Lukrez verwendeten Begriffe in Vergessenheitgeraten. Mit Ausnahme von Pierre Gassendi (17. Jahrhundert), der ein spezifisches Interesse an der epikureischen Philosophie zeigt, sind weder in philosophischen Texten, die in lateinischer Sprache verfasst wurden, noch in
11 Eine umfangreiche Analyse und Interpretation von Ciceros philosophischer Sprache findet sich bei Michael von Albrecht (von Albrecht 2003, S. 27–45, S. 85–92 und S. 114–116)und zuletzt in der Dissertation von Gorgina F. White, die Ciceros philosophische Terminologie in Anlehnung an Lambardi (1982)als «creative rewriting»der griechischen Originale bezeichnet (White 2015, S. 80). Für einen Überblick über die verschiedenen Übersetzungsstrategien, auf die Cicero zurückgreift, um griechische (philosophische)Begriffe in die lateinische Sprache zu übertragen, vgl. auch Powell 1995, S. 273–300 und Powell 2007. Detaillierte Diskussionen zu Ciceros philosophischer Terminologie finden sich darüber hinaus auch bei Lévy 1992;Lévy 2021;Michel 1992;Glucker 2012 sowie Maso 2022 (insbesondere Kapitel 5«Cicero’sPhilosophical Vocabulary»).
den modernen Sprachen deutliche Spuren von Lukrez’ Sprachgebrauch zu finden.12 Selbst die einflussreichsten lukrezischen Begriffe clinamen und simulacrum,die u. a. von Derrida, Deleuze, Lacan, Boudrillard und Serres aufgenommen wurden, sind in ihrem WirkungsbereichimWesentlichen auf bestimmte poststrukturalistische Diskurse beschränkt. Im Folgenden soll ein Überblick über die Forschungsarbeiten gegeben werden, die sich – trotz dieser zweifachen Hürde – explizit mit Lukrez’ philosophischer Terminologie befassen. Ein wesentliches Kriterium für die Auswahl der Publikationen, die im Folgenden besprochen werden, besteht darin, dass in ihnen mehr als ein lateinischer Begriff analysiert wird. Gerade in jüngerer Zeit wurden einige wertvolle Beiträge veröffentlicht, die das Bedeutungsspektrum einzelner Lexeme in De rerum natura genauer in den Blick nehmen. Auf sie wird an gegebener Stelle im weiteren Verlauf dieser Arbeit eingegangen. Die Entscheidung, die Analysen einzelner Lexeme nicht in den Forschungsüberblick aufzunehmen,ist auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zurückzuführen. Auch wenn die Einzelstudien zu bestimmten Lexemen in De rerum natura wichtige Hinweise für Lukrez’ Terminologiebildung und -verwendungenthalten, können sie die Frage nach den dahinterstehenden Prinzipien nicht berühren:Der Fokus auf ein einzelnes Lexem steht dem Herausstellen einer übergreifenden Systematik diametral entgegen.
Die frühenStudien von Kathrine Reiley (1909), Fridericus Peters (1926) und Antonio Traglia (1947)zeichnen sich dadurch aus, dass sie die größten Materialmengenumfassen.13 Die ausführlichste Sammlung findet sich bei Peters (1926), der aus den erhaltenen Texten Epikurs,Philodems und der frühenAtomisten sowie aus den späterenZeugnissen über die epikureische bzw. atomistische Philosophie insgesamt 102 griechische Lexeme destilliert und sie daraufhin überprüft, ob und wie sie von Lukrez und (inepikureischen Kontexten)von Cicero wiedergegeben werden. In ähnlicher Weise geht Reiley (1909)von griechischen Lexemen aus, die in philosophischen – in der Regel epikureischen Kontexten verwendet werden und für die sich bei Ciceround/oderLukrez Entsprechungen ausmachen lassen. Traglias (1947)Studie legt den Fokus demgegenüber
12 Wenn sich Lukrez’ philosophische Terminologie in der Rezeption als einflussreicher erwiesen hätte, wäre es beispielsweise nicht nur denkbar, sondern naheliegend, einen Unfall im Englischen nicht als «accident», sondern als «event»zubezeichnen (vgl. Abschnitt 5.1). Statt von der «Evidenz»eines Satzes zu sprechen, könnte sich möglicherweise die Rede von seinem «Manifest»durchgesetzt haben (vgl. Abschnitt 5.3.2). Auf konzeptueller Ebene könnte die Unsichtbarkeit (kleinster Teilchen)inder Physik ferner im Rückgriff auf Lukrez fest mit der Metapher der Blindheit verbunden sein (vgl. Abschnitt 3.1.1). Eine Ausnahme bildet der lateinische materies-Begriff, der von Lukrez zur Bezeichnung der Atome eingesetzt wird (vgl. S. 20 sowie Abschnitt 5.4.1) und der sich als wichtiger Begriff der Physik im Deutschen («Materie») und Englischen («matter») gehalten hat.
13 Eine gute Gesamtdarstellung von Lukrez’ Sprache und Stil findet sich darüber hinaus auch bei Bailey 1950a, S. 72–171.
primär auf die lateinischen Lexeme, mit denen Lukrez in De rerum natura philosophischen Gedanken Ausdruck verleiht. Traglia berücksichtigt zwar die Übersetzungsentscheidungen von Cicero für bestimmte epikureischeBegriffe (z.B. atomus, declinatio). Der Schwerpunkt seiner Analyse liegt aber klar auf einer umfassenden, thematischgeordneten Zusammenstellung und Diskussion der philosophischen Begriffe bei Lukrez. Eine zentrale Gemeinsamkeit der Studien von Reiley, Peters und Traglia besteht darin, dass Lukrez in ihnen primär als Übersetzer verstanden wird, der die von Epikur verwendeten griechischenBegriffe im Lateinischen zu reproduzieren versucht. Im Zentrum der drei Arbeiten steht somit im Wesentlichen eine Frage der Zuordnung, nämlich die Frage, mit welchen lateinischen Begriffen Lukrez die epikureischen griechischenBegriffe wiedergibt. Obwohl die Studien von Reiley, Peters und Traglia durch ihre Materialfülle als wertvolle Vorarbeiten gelten können,ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass eine Vielzahl der in ihnen vorgenommenen Zuordnungen griechischer und lateinischer Begriffe später infrage gestellt wurden. Aus der Perspektive der modernen Lukrezforschung können sie also nur mit Vorsichtals Grundlage für weitere Studien zur philosophischen Terminologiebildung und -verwendung in De rerum natura herangezogen werden.
Alexander Dalzell (1996)und Alberto Grilli (1997)legen wohl die umfassendsten Analysen philosophischer Begriffe in De rerum natura seit Traglia (1947)vor. Grilli unternimmt in seinem Aufsatz «Pensiero etecnicismolessicale in Lucrezio»den Versuch, für eine Reihe von lateinischen Begriffen, die in De rerum natura in einer atomistisch-mechanistischen Bedeutung verwendet werden, eine griechische Vorlage zu (re‐)konstruieren. Der im Hintergrund stehende griechische Begriff wird für Grilli damit zum Ausgangspunkt, um das semantische Spektrum der lateinischen Begriffe zu umreißen. Methodisch ähnlicharbeitet Dalzell, der in seinem Aufsatz «The Philosophical Language of Lucretius» ein großes Korpus philosophischerBegriffe in De rerum natura zusammenstellt und überblicksartig untersucht, inwiefern sich Lukrez in seiner Terminologiebildung an der griechischen Vorlage der epikureischen Texte orientiert. Stärker als Grilli betont Dalzell aber, dass Lukrez aufgrund der Gegebenheiten der lateinischen Sprache häufig dazu gezwungen ist, eigene, innovative Schwerpunkte zu legen:
[…]Lucretius was so steeped in Epicurean thought that he was able to transmit its ideas in asequence of his own choosing and in alanguage which to aremarkable extend is independent of its model. Seen from this perspective, the patrii sermonis egestas might even be considered an advantage;for the ideas of the master had to be re-created in anew and different medium.14
14 Dalzell 1996, S. 102–103.
Dalzell erkenntzwar, dass die philosophische Terminologie in De rerum natura daraufhin befragt werden muss,inwiefern Lukrez die lateinische Sprache in einem epikureischen Sinn verwendet. Diesen Ansatz scheint er aber nicht konsequent zu verfolgen.15
Mit Ausnahme von Grilli und Dalzell zeichnet sich bei den jüngeren Forschungsarbeiten, die sich mit der philosophischen Terminologie in De rerum natura beschäftigen, die Tendenz ab, eine deutlich begrenztere Anzahl philosophischer Ausdrücke einer detaillierten Betrachtung zu unterziehen. Dabei rückt die Frage, ob Lukrez durch seine Terminologiebildung einen eigenständigen Beitrag zur epikureischen Philosophie leistet, zunehmend in den Vordergrund.16 Um die philosophische Terminologie in De rerum natura auf ihreinnovativen Aspekte hin zu befragen, konzentrieren sich einige Aufsätze explizit auf die von Lukrez verwendeten Lexeme, für die sich entweder im Griechischenkeine Vorlage finden lässt oder die im Lateinischen als Neologismen gelten können. Ralph Keen untersuchtinseinem Aufsatz «Notes on Epicurean Terminology and Lucretius» (1979)die Begriffe (1) primordia,(2) corpora prima, corpora genitalia,(3) concilium und (4) semina. Im Rahmen seiner Analyse versucht Keen nachzuweisen, dass Lukrez mit diesen vier lateinischen Begriffen Konzepte zum Ausdruck bringt, die zwar in der (griechischsprachigen)epikureischen Philosophie angelegt sind, dort aber nicht offen zur Sprache kommen.17 Indem Lukrez latente Konzepte der epikureischen Philosophie im Lateinischen zum Vorschein bringe, lege er, so Keen, eine eigenständige Interpretation vor:«[…]hecreated an eloquent and still accurate interpretation, and in doing so introduced aphilosophical terminology beyond the immediate needs of the doctrine which he was expounding.»18
15 Auch Diskin Clay stellt in seiner Dissertationsschrift Lucretius’ Translation of Greek Philosophy die zentrale Frage «[w]hether Lucretius used words in Latin as an Epicurean would use them in Greek»(Clay 1967, S. 15), ohne aber seine Analyse darauf auszurichten. So werden terminologische Überlegungen von Clay nur dann berücksichtigt, wenn sie seine übergeordnete Hypothese stützen, dass die ersten zwei Bücher von De rerum natura die epikureischen «Hauptlehren»bzw. stoicheiomata übersetzen.
16 Der frühste Ansatz, Lukrez’ Terminologie anhand von Detailanalysen auf ihre innovativen Aspekte hin zu befragen, findet sich bei M. Renelle Ojeman, der in drei dicht aufeinanderfolgenden Publikationen (Ojeman 1959;1962;1963)das Bedeutungsspektrum der Begriffe res, corpus und ratio analysiert. Ojeman verbindet intensive Detailbeobachtungen zu dem (breit gefächerten)Bedeutungsspektren der drei Begriffe mit der allgemeinen Schlussfolgerung, dass Lukrez über die patrii sermonis egestas triumphiere:«Thus we see, despite Lucretius’ complaints over the poverty of his native tongue in regard to scientific terminology, that he has in masterful fashion triumphed over this lack, and produced apoem that is not only clear and understandable, technically expositive of his atomic doctrine, but also of rare beauty and inspiration»(Ojeman 1963, S. 58).
17 In diesem Kontext spricht Keen (1979, S. 67)von «latent concepts».
18 Keen 1979, S. 68.