WSU 11: Lukas Heinzmann. Beten, Beobachten, Berichten

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LUKAS HEINZMANN

TEXTGENETISCHE UND KLIMAGESCHICHTLICHE

AUSWERTUNG DES EINSIEDLER KLOSTER-TAGEBUCHS

VON PATER JOSEPH DIETRICH, 1670 – 1704

Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU)

Band 11

Herausgegeben von Christian Rohr, HistorischesInstitut der Universität Bern

Beten, Beobachten, Berichten

Textgenetische und klimageschichtliche Auswertung des Einsiedler Kloster-Tagebuchs von Pater Joseph Dietrich, 1670 – 1704

Schwabe Verlag

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

OpenAccess:Wonicht anders festgehalten, istdiese Publikationlizenziertunter derCreativeCommons-LizenzNamensnennung, keinekommerzielleNutzung,keine Bearbeitung4.0 International (CCBY-NC-ND4.0)

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2025 Lukas Heinzmann, veröffentlicht durch SchwabeVerlag Basel, SchwabeVerlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Abbildung Umschlag:Kupferstich von Matthäus Merian aus der 1642 publizierten Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae

Korrektorat:Thomas Lüttenberg, München

Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel

Cover:STROH Design, Kathrin Strohschnieder, Oldenburg

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI Books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5224-3

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5225-0

DOI 10.24894/978-3-7965-5225-0

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Biografie

3.1 Die Familien Dietrich und Breny

3.1.1 Genealogie

3.1.2 Schriftzeugnisse.

3.2 Pater Joseph Dietrich

3.2.1 Kindheit, 1645–1661

Noviziat, 1661–1669

3.2.3 Konventuale, 1669–1704

3.3 Soziale Vernetzung

3.3.1 Vorüberlegungen und quantitativer Zugang

3.3.2 Qualitative

4. Das EinsiedlerKloster-Tagebuch

4.1 Allgemeine

4.2

4.3

4.5

4.5.1

5.

5.1

5.1.1

5.2

Vorwort und Dank

Das vorliegende Buch entstand im Rahmen des Nationalfondsprojekts ‹Das Kloster-Tagebuch des Einsiedler Paters Joseph Dietrich, 1670–1704. Kommentierte Online-Edition›.Das Projekt ist an der Abteilung für Wirtschafts-, Sozialund Umweltgeschichte (WSU)der Universität Bern angesiedelt und verfolgt mehrere Ziele:Das 18-bändige und rund 12 000 handschriftliche Seiten umfassende Tagebuch wird in Form einer digitalen Edition veröffentlicht und frei im Web zugänglich gemacht. Gleichzeitig werden die im Tagebuch enthaltenen Natur- und Wetterbeobachtungen, die sich auf mehrere Orte in der heutigen Zentral- und Nordostschweiz beziehen, für die Klimadatenbank Euro-Climhist aufbereitet. In der Dissertation, welche die Grundlage des vorliegenden Buches bildet, erfolgteeine methodisch-theoretische Analyse des Tagebuchs, bei der die Entstehungsgeschichte des Werks untersucht und die Natur- und Wetterbeobachtungenklimageschichtlich ausgewertet wurden.

Das innovative Design des Projekts fand ich von Beginn an äusserst interessant und vielversprechend. Zum einen fasziniertemich die Aussicht darauf, einen lebensnahen Einblick in die Gefühls-, Gedanken- und Handlungswelt eines Menschen im 17. Jahrhundert zu erhalten, zum anderenweist das Projekt mit seinem klimageschichtlichen Schwerpunkt eine Verbindungzueiner hochaktuellenThematik auf. Durch die Integration der Natur- und Wetterbeobachtungen in die Datenbank Euro-Climhist werden die Informationen für retrospektive Untersuchungen zugänglich gemacht und können auch in Modelle zur Berechnung des zukünftigen Klimas einfliessen. Neben diesem Potenzial für die naturwissenschaftliche Forschung stellt das Tagebuch vor allem eine wertvolle Quelle für vielfältige Forschungsfragen aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen dar. Es beschränkt sich nämlich nicht allein auf Wetterbeobachtungen, sondern gibt auch Aufschluss über menschliche Denk- und Handlungsmuster in unterschiedlichen politisch-konfessionellen Kontexten. Die Veröffentlichung als digitale Edition bietet einen mehrfachen Nutzen:Erstens sind die Inhalte des Tagebuchs frei im Web zugänglich. Zweitensergebensich durch die Vernetzung mit anderen digitalen Ressourcen neue Perspektiven auf das Ausgangsmaterial und dessen Einzelelemente. Drittens ermöglicht diese Art der Informationsaufbereitung die Anwendung digitaler Tools und Methoden, mit deren Hilfe neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

Dank diesem Projektdesign, welches das Tagebuch für die Bearbeitung vielseitiger Forschungsinteressen anschlussfähig macht, konnte ich mich in den letzten Jahren in vielen Bereichen weiterentwickeln. Insbesondere fand ich Freude an der Arbeit im Bereich der digitalen Editionen, deren Konzeption eine theoretische und praktische Auseinandersetzungmit den Implikationen digitaler Paradigmen bedingt. Sie spielen somit eine wichtige Rolle beim fortschreitenden Übergang der Geschichtswissenschaften ins digitale Zeitalter. Ich möchte mich deshalb ganz besonders bei meinem Betreuer Christian Rohr bedanken, der mir das Vertrauen schenkte, meine Dissertation zu verfassen und am Editionsprojekt mitzuwirken. Mit seinerlösungsorientierten Art unterstützte er mich in den vergangenen Jahren in jeglicher Hinsicht. Im Rahmen der zahlreichen konstruktiven Rückmeldungen zu konkreten Fragen oder Teilen der Dissertation erhielt ich von ihm wertvolle methodische Inputs und viele Hinweiseauf interessante Literaturtitel. Ebenso vermittelte er mir wichtige Kontakte und half mir so, mein Netzwerk zu erweitern. Im Weiterendanke ich Thomas Wallnig, der das Zweitgutachten verfasste und mir nach der Verteidigung wichtige Hinweise für die Druckfassung gab.

Ein grosses Dankeschön geht an die operative Projektleiterin, Gabriela Schwarz-Zanetti, die wesentlich an der Initiierung des Projekts beteiligt war. Sie führte mich nicht nur in die Welt des Edierensein, sondern übernahm das Lektorat der erstenFassung des Buches. Zudemtauschten wir uns in unzähligen Gesprächen über den Charakter, die Tätigkeit und die Lebenswelt des TagebuchAutors aus, woraus wiederum viele Denkanstösse resultierten. Ein Dank für die gute Zusammenarbeit geht auch an die übrigen Mitglieder des Dietrich-Projektteams, namentlichSalome Egloff, Antoine Jover, Ladina Fessler, Jan Egger und Sascha Kaufmann. Im Bereich der quantitativenAufbereitung, Visualisierung und Analyse von Daten profitierte ich viel von den methodisch-praktischen Hinweisen von Martin Stuber, Christian Forney und Kaspar Staub, weshalb ich mich bei ihnen herzlich bedanke. Die Suche nach Schriftzeugnissen, die mit dem Tagebuch oder dessen Autor in Bezug stehen, führte mich in mehrere Archive und Klöster, in denen ich sehr freundlich aufgenommen und kompetent beraten wurde. Mein Dank gilt im Besonderen Pater Gregor Jäggi, Margrit Rosa Schmid, Mark Wüst, Markus Thurnherr und SchwesterMarianne-FranziskaImhasly. In den vergangenenJahren durfte ich im Umfeld der WSU und der Plattform hallerNet mit vielen Menschen Bekanntschaften und Freundschaften schliessen. Sie haben mich in unterschiedlichen Phasen des langen Weges begleitet und alle ihren Teil zum Entstehen des Buchsbeigetragen. Zu ihnen zählen Chantal Camenisch,Melanie Salvisberg,Benjamin Spielmann, MarkusSieber, Daniel Marc Segesser, Thomas Späth, ThomasGartmann, Tamara Terry Widmer, Heli Huhtamaa, Nina Schläfli, Remo Stämpfli, Janik Hugund Judith Neuenschwander. Weiter danke ich meinem Freundeskreis ausserhalb des akademischen Umfelds, welcher mich teils mit verständnisvollen Worten, teils mit

schalkhaften Kommentaren zum Durchhalten angespornt hat. Ein ganz spezieller Dank gebührt meiner Familie. Meine Eltern haben mich nicht nur während der Zeit meiner Dissertation, sondern in jeder Lebensphase liebevoll unterstützt und mir ermöglicht, eine Ausbildung nach meinen Interessen zu absolvieren. In den letzten Jahren war neben meiner Familie auch meine Frau ein besonders wichtiger Rückhalt. Mit viel Geduld und Empathie begleitete sie mich während der emotionalen Höhen und Tiefen, welche die Arbeit an einem so grossen Projekt mit sich bringt und lenkte mich in den entscheidenden Momenten in die passende Richtung.

1.1 Einführung

Am 31. März 1704 begab sich der EinsiedlerFürstabt Maurus von Roll (1653–1714, Abt 1698–1714)inBegleitung mehrerer Mönche vor den damaligenKonventbau und initiierte mit einem symbolischen Spatenstich offiziell die Arbeiten für den barocken Neubau.1 Diese Handlung stellte ohne Zweifel eine Zäsur in der Geschichte des Klosters Einsiedeln dar, zumal sie den Ausgangspunkt für den beeindruckenden Bau markierte, in dessen Mitte eine zweitürmige Stiftskirche steht. Mit ihrer prunkvollen Westfassade, dem einmaligenInnenraum und der Gnadenkapelle mit der Schwarzen Madonna zieht sie noch heute jährlich tausende von Pilgern und Besuchern an. Das Neubau-Projekt war für die Ordensgemeinschaft von ausserordentlicher Bedeutung, weshalb weder Kostennoch Mühen gescheut wurden. Der barocke Prachtbau sollte das Selbstbewusstsein einer wiedererstarkten Klostergemeinschaft sichtbar machen, die in der Reformationszeit beinahe aufgelöst worden wäre. Im grösseren Rahmen spiegelt sich darin auch die Aufbruchsstimmung fast allereidgenössischen Benediktinerklöster wider, welche im 17. und 18. Jahrhundert in zahlreiche Bauprojekte mündete.

Fast gleichzeitig und abrupt endete das offiziöseEinsiedlerKloster-Tagebuch der Jahre 1670–1704. Pater Joseph Dietrich (1645–1704), dessen unermüdlicher und akribischer Verfasser,war am 5. April 1704 im KlosterFahr nach kurzer Krankheit verstorben, wie eineknappe Notiz von fremderHand am Ende der 12 000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen festhält. Diese einmalige und für die Innerschweiz sowie die Nordostschweizsobedeutende Schriftquelle soll in dieser Studie anhand mehrerer Schwerpunkte analysiert werden. Der aus Rapperswil stammende Mönch führte während mehr als dreissig Jahren ein handschriftliches Tagebuch, in welchem er die Ereignisseinund um das Kloster in 18 Bänden und auf mehr als 12 000 Seitenbeschrieb. Der Beginn des Werks bildete die Übergangsphase infolge des Todes von Abt Plazidus Reimann (1594–1670, Abt 1629–1670), der die Geschicke des Klosters vier Jahrzehnte langgeprägt hatte. Es erstreckte sich weiter über die Herrschaft der Äbte Augustin Reding (1625–1692, Abt 1670–1692), Abt Raphael Gottrau (1647–1707, Abt 1692–1698)und endete mit Dietrichs Tod im Jahr 1704 in der Amtszeit von Abt Maurus.Dietrich

1 Vgl. Kuhn 1913:7.

wurde ab 1688 achtmal versetzt und verbrachte so rund zehn Jahre seinesLebens in den klösterlichen Aussenstationen in Freudenfels (TG) und Pfäffikon (SZ) sowie als Beichtvater im Kloster Fahr (AG),woerdie täglichen Vorkommnisse jeweils mit derselben Akribiefesthielt.

Das Tagebuch ist ein zentrales Zeitzeugnis für das Verständnis der klösterlichen Herrschafts- und Versorgungspolitik sowie der Beziehungen zu unterschiedlichen Akteuren und Institutionen, wobei insbesondere die intensiven und langanhaltenden Auseinandersetzungen mit dem Schirmherrn Schwyz und dem Bistum Konstanz prägend waren. Gleichzeitig deckt es sich zeitlich grösstenteils mit der klimatischen Kaltphase des Late Maunder Minimum (1675–1715). Dietrich berichtete nicht nur von gefrorenen Seen, Ernteausfällen und Lawinen, sondern schilderte auch die klösterlichen sowie seine eigenen Bemühungen zur Sicherung der klösterlichen Versorgung. Abgesehen von der Beschreibung von Extremereignissen und deren Folgen enthalten die Tagebucheinträge minuziöse Berichte zum täglichen Wetter. Diese wiederum sind eng verwoben mit Schilderungen des Klosterlebens, wie beispielsweise der Abhaltung von Prozessionen. Der Autor berichtetausserdem von den Diskussionen im Kapitel zur Aufnahme von Novizen, dem Ablauf liturgischer Handlungen oder der arbeitsintensiven Organisation der aufwändig zelebrierten Engelweihfeierlichkeiten. Neben seiner Akribie und seinem Anspruch an einewahrheitsgetreue Wiedergabe erinnerungswürdigerEreignisseliess Dietrich immer wieder seinen Schalk und Humor durchblicken, indem er selbstironisch eigene Schnitzer und die Missgeschicke seiner Mitkonventualen sowie die damit einhergehenden Neckereien schilderte.

In seinem mehr als dreissig Jahre währenden Mönchsleben hatte Dietrich viele, teils verantwortungsvolle, Ämter inne, weshalb er bei zwei Abtwahlen als Kandidat infrage kam. Entsprechend lassen sich im Tagebuch zahlreiche Hinweise zur Person und zum Werdegang des Autorsfinden. Diese beschränken sich nicht nur auf Handlungen im Zusammenhang mit klösterlichen Aufträgen, sondern beinhalten punktuell auch Meinungsäusserungen sowie Schilderungen, anhand derer Dietrichs emotionale Verfassung sichtbar wird. Voralleminden 1690er-Jahren war sein Leben nämlich von wiederkehrenden Krankheiten, häufigen Versetzungen und Differenzen mit Abt Raphael geprägt. Die Ambivalenz zur Benediktsregel mit ihren Idealen des Arbeitseifers und Gehorsams verursachten Dietrich belastende innere Konflikte,die teilweise im Tagebuch ihren Ausdruck fanden.

Die angeführten Beispiele vermitteln nur einen rudimentären Eindruck vom Charakter und der inhaltlichen Vielseitigkeit dieses aussergewöhnlichen Schriftzeugnisses. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass das Werk trotz bestimmter Konstanten in der Beschreibung einer inhaltlichen und formalen Dynamik unterlag. Es bildete nämlich das Produkt eines über dreissig Jahre dauernden Entstehungsprozesses, der von zahlreichen individuellen Entscheidungen geprägt wurde. Zum einen entwickelte sich der Autor in dieser Zeit persönlich weiter,

wobei sich im Laufe seines Werdegangs und seinervielfältigen Tätigkeiten sein Informationszugang und damit seine Wahrnehmung veränderten. Zum anderen sah er sich durch äussere Einflüsse, die ohne seine bewusste oder direkte Beteiligung eine Veränderung seinerLebensumstände herbeiführten, zu Anpassungen in seiner Tagebuchführung gezwungen. Insgesamt handelt es sich beim Tagebuch um ein äusserst vielseitigesSchriftzeugnis, welchesnicht nur einen detaillierten Einblick in das Leben eines Mönchs und einer Klostergemeinschaft am Ende des 17. Jahrhunderts bietet, sondern auch eine breitere Sicht auf Dietrichs Lebenswelt.

1.2 Forschungsfragen

Dank seinerVielfältigkeit ist das Tagebuch für Forschungsfragen unterschiedlicher Disziplinen als Quelle nutzbar. In der vorliegenden Studie wird das Werk vor dem Hintergrund einer kultur- und umweltgeschichtlichen Perspektive beleuchtet, wobei sie Bezüge zur wirtschafts-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Forschung sowie zu den Digital Humanities aufweist.Das erste Ziel besteht darin, einen Zugang zum Werk und damit eine Grundlage für weitere Forschungsvorhaben zu schaffen. Zu diesem Zweck werden grundsätzlicheFragen nach der formalen und inhaltlichen Ausrichtung und der Verlässlichkeit der enthaltenen Informationen erörtert. Es sind dies unter anderem Fragen zu den Hintergründen der Textgenese und der Motivation des Schreibers, die in den Geschichtswissenschaften allgemein als Basis für die Bewertung der Authentizität und Verlässlichkeit historischer Dokumente dienen. Tagebücher zeichnen sich generell dadurch aus, dass ihre Ausgestaltung stark von der Initiative und den Vorstellungen der Autorinnen und Autoren abhängt und dass ihreEntstehung sich nicht als ein zeitlich begrenztes Ereignis, sondern als Prozess über einen längeren Zeitraum konstituiert.Durch diese Dynamik sind Veränderungen möglich, aufgrund derer pauschale Aussagen zum Gesamtwerk problematisch sind. Fragen nach den Entstehungshintergründen und der zugrundeliegenden Motivation sind daher jeweils auch im Hinblick auf die Möglichkeit sich wandelnder Lebensumstände sowie einer potenziell individuellenEntwicklung und Veränderung der Perspektive oder Wahrnehmung des Diaristen zu reflektieren.2

Um diese komplexe Wechselwirkung zwischen Individuum und Textgenese zu dekonstruieren, erfährt in der vorliegenden Studie einerseits die Lebenswelt und andererseits die Herkunft und vor allem der Werdegang des Autors besondere Beachtung. Als Benediktinermönchhatte sich Dietrich bestimmten monastischen Tugenden verpflichtet, die einen ideellen Rahmen für sein Denken, Wirken und Handeln bildeten. Gleichzeitig waren es weitgehend die inneren und

2 Zu den theoretischen Hintergründen der Tagebuchführung vgl. Kap. 4.1.

äusseren Umstände des Stifts Einsiedelns, welche über das Leben der Gemeinschaft sowie die Tätigkeiten und den Handlungsradius der einzelnen Konventualen bestimmten. Eine zentrale Rolle kam den Äbten zu, welche nicht nur einen wesentlichen Einfluss auf die inneren Abläufe hatten, sondern das Stift auch gegen aussen repräsentierten, wobei sie dessen Position innerhalb eines komplexen und weiträumigen Geflechts weltlicher und kirchlicher Machtträger vertraten. In der Studie soll auch ermittelt werden, wie sich Dietrichs Werdegang im Kloster entwickelte,welche Aufgabenbereiche er innehatte, welche Themen ihn besonders beschäftigten und welche äusseren Einflüsse seine klösterliche Laufbahn prägten. Da das Geschick des Autors eng mit demjenigen des Stiftes verbunden war,bedingt die Aufarbeitung seiner Biografie eine Berücksichtigung der inneren und äusseren Situation des Klosters. Dabei ist einerseits die Frage evident, wie sich sein Verhältnis zum jeweiligen Abt gestaltete, und andererseits diejenige nach den Angelegenheiten, die für das Kloster in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von herausragender Bedeutung waren. Darüber hinaus wird ermittelt, inwiefern Dietrich über ein Beziehungsnetzwerk ausserhalb des Klosters verfügte und ob er persönliche Kontakte,beispielsweise zu Familienmitgliedern, pflegte. Letzteres setzt voraus, dass der Kern seinessozialen Umfelds vor dem Eintritt in die Klostergemeinschaft aufgearbeitet wird.

Eine detaillierte Biografie bildet die Grundlage, um die Hintergründe der Entstehung des Tagebuchs eingehender zu untersuchen. Die gattungsspezifisch inhärenteAbhängigkeit des Tagebuchs von der Person des Autors ist ein Thema, welches im Zusammenhang mit der Frage nach bewussten oder unbewussten subjektivenVerzerrungen sowie derjenigen der Selbstrepräsentation in den Beschreibungen zentral ist. Ebenso interessiert,obder Beginn des Tagebuchs auf einen klösterlichenAuftrag zurückzuführen ist oder ob der Autor aus eigenem Antrieb schrieb. Daran schliesst sich die Frage an, inwiefern der Autor freie Hand hatte, welche Funktionen dem Werk zugedacht waren und an welches Zielpublikum es gerichtet war. Ausserdem wird erörtert, welche Themen vorkommen, welchen Zugang Dietrich zu Informationen hatte und inwiefern er diese ins Tagebuch übertrug. Aufgrund des Umstands, dass die Entstehung des Tagebuchs das Produkteines kontinuierlichen Prozessesist, wird auch auf praktische Aspekte der Tagebuchführung, wie beispielsweise die Häufigkeit und der Umfang der Einträge sowie die zeitliche Distanz zur Niederschrift, eingegangen. Zudem stellt sich die Frage, ob der Autor Notizen als Vorlagen benutzte und ob er Informationen aus anderen klösterlichen Schriften einfliessen liess.

DieVielzahlder Natur- undWetterbeobachtungen im Tagebuch zu erschliessenund füreineVeröffentlichungauf derOnline-DatenbankEuro-Climhist3 aufzubereiten istdas zweite Ziel.Dies bildet dieGrundlage fürpotenzielle Forschungsarbeitenmit klimageschichtlicher Ausrichtung,die aufdie Rekonstruktion der klimatischen Bedingungen, dieUntersuchungder vielfältigen InteraktionenzwischenMenschund Naturvor demHintergrundvon witterungsbedingten Extremen, oder Fragen rund um dieindividuelleodergruppenspezifischeWahrnehmung vonNaturund Wetter zielen.Inder vorliegenden Studie liegtder Fokusauf wissensgeschichtlichen Aspekten zurNaturwahrnehmungund derBeobachtungstätigkeitdes Autors,die an dieFragenzur Textgenese anknüpfen. So wird untersucht, in welchemVerhältnisdie Natur- undWetterbeobachtungen zu denübrigen Inhalten stehen undobhinsichtlichihrer Frequenz undihrerinhaltlichenAusrichtung Brüche oder Entwicklungenüberden Gesamtzeitraumfeststellbar sind.Im Weiteren interessiert,weshalb derAutor überhauptNatur-und Wetterbeobachtungen insTagebuchaufnahm.Gingesihm rein um dieDokumentation oder versuchte er,auf Basisdes Geschriebenenweitere Erkenntnisse zu erlangen undnutzte er dieseallenfallsfür Prognosen? Verwendete er astrometeorologische Schriften undglaubte er an Wetterregeln? Zudemwirddie Frageerörtert, wieder Autor aussergewöhnlicheNaturereignissewahrnahmund deutete.

1.3 Forschungsstand

Ausgehend von den beschriebenen Fragen wird der Stand der Forschung in drei Bereichen skizziert. In Kapitel 1.3.1 werden ausgewählte Publikationen zur Geschichte des Klosters Einsiedeln sowie spezifische zum Tagebuch vorgestellt. Diese sind wesentlich für die Analyse der Lebenswelt des Autors, Informationen zu seiner Person und zum zeitgenössischen Entstehungskontext des Werks. Zweitens folgt in Kapitel 1.3.2 eine allgemeineBeschreibung zur Erforschung von Tagebüchern.Dort werden bewusst Ansätze aus unterschiedlichen Disziplinen präsentiert, um die gattungstheoretischen Implikationen der theoretischen und praktischenAuseinandersetzungmit Tagebüchernaus einer breiteren Perspektive zu beleuchten. Zuletzterfolgt in Kapitel 1.3.3 ein Überblick zu wesentlichen Entwicklungen und Tendenzen in verschiedenenBereichen der historischen Klimatologie.

3 Euro-Climhist ist eine Klimadatenbank, welche ausgehend von der Schweiz seit den 1970er-Jahren aufgebaut wurde und zunehmend auch Daten aus anderen europäischen Gebieten integrierte. Sie beinhaltet Informationen zu Witterungsereignissen und Naturkatastrophen sowie deren Folgen für Mensch und Umwelt, deren Dichte vor allem für den Zeitraum vom 16. bis ins 19. Jahrhundert hoch ist. Vgl. Pfister, Christian;Rohr, Christian (Hg.): Euro-Climhist. Informationssystem zur Witterungs- und Klimageschichte, https://www.euroclimhist.unibe.ch, 31. 05. 2024.

1.3.1 Einsiedler Kloster-Tagebuch und Stiftsgeschichte

Zur Einsiedler Stiftsgeschichte existierenzahlreiche Publikationen und Artikel mit wissenschaftlicher oder populärwissenschaftlicher Ausrichtung, von denen viele von historisch interessierten Mönchen, die zumeist am klostereigenen Gymnasium oder im Archiv tätig waren,verfasstwurden. Vorallem die wissenschaftlich ausgerichteten Aufsätze und Werke mit Bezug zum 17. Jahrhundert bilden eine wesentliche Grundlage für die Kontextualisierung des Tagebuchs. Das Einsiedler Kloster-Tagebuch selbst ist ebenfalls bereits in mehreren Arbeiten mit unterschiedlichen Untersuchungsschwerpunkten rezipiert worden, wobei die Autorinnen und Autoren im Übrigen biografische Informationen zum Autor zusammentrugen. Im Folgenden werden primär spezifische Studien im Zusammenhang mit dem Tagebuch vorgestellt. Dabei erfolgenauch Bezüge auf ausgewählte historiografische Arbeitenzur Klostergeschichte, ohne dass der Anspruch einer vollständigen Erfassung besteht.

Bereits in der 1823 veröffentlichten Neuauflage der Einsiedler Chronik4 hob der Autor, der damalige Stiftsarchivar Pater Joseph Tschudi (1791–1844), Dietrichs Leistungen für das Kloster hervor und würdigte diese mit einer rund zweiseitigen biografischen Beschreibung. Tschudi bemühte sich darum, das traditionell auf Wallfahrerinnen und Wallfahrer ausgerichtete Werk5 neu in Form einer Geschichtsdarstellung des Klosters zu konzipieren, um, seiner Ansicht nach, den Erwartungen von Angehörigen der ‹gebildeteren Klasse› gerecht zu werden. Dennoch beschränkte er sich bei der Angabe der benutzten Quellen auf einige summarischeNennungen und verzichtete auf Einzelbelege, weshalb sich die Herkunft der Informationen zu Dietrichs Biografie nicht eindeutig feststellen lassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bezog sich Tschudi auf Pater Sebastian Redings (1667–1724)Nachruf.6 Er scheint aber auch Dietrichs Kloster-Tagebuch, dessen Bedeutung er besonders betont, gesichtet zu haben.

Pater Magnus Helbling (1866–1920), welcher lange Zeit als Lehrer für Ordensgeschichte am Einsiedler Gymnasium tätig gewesen war,7 publizierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sechsteilige Zusammenstellung8 von Ausschnitten aus dem Einsiedler Kloster-Tagebuch. Es handelt sich um eine subjektive Auswahl an Inhalten, die den gesamten Zeitraum von 1670 bis 1704 abdeckt und sowohl die in Einsiedeln als auch die in den Aussenstationen entstandenen Tagebuchbände einschliesst.Obwohlsich der Autor bei der Wiedergabe der Inhalte

4 Vgl. Tschudi 1823.

5 Zur Publikationsgeschichte der Einsiedler Chronik vgl. Morel 1857.

6 Zum Nachruf Redings vgl. Kap. 3.2.3.4.

7 Vgl. Henggeler 1934:609.

8 Vgl. Helbling 1905;Helbling 1908a;Helbling 1908b;Helbling 1911;Helbling 1913;Helbling 1918.

an den Formulierungen von Dietrich orientierte, normalisierte9 er diese sprachlich stark und ergänzte sie teilweise mit weiterführenden Informationen, wie beispielsweiseden Lebensdaten, Ämtern oder den vollständigenNamen der im Tagebuch erwähnten Personen. Ausserdemfügte er den drei jüngsten Zusammenstellungen ein alphabetisches Orts-, Personen- und Sachregister bei.10

Gleichzeitig unternahmHelbling auch Nachforschungen zur Person von Dietrich sowie zu seiner Familie und stellte die Resultateden Auszügen voran. Diese Schilderungen sind sehr umfangreich und enthalten unter anderem Informationen aus den Tauf- und Totenregistern der Stadt Rapperswil. Allerdings erschweren die fehlenden Quellennachweise die Überprüfung der Angaben. Laut seinen Vorbemerkungen beabsichtigte der Autor nämlich weniger eine nach editionswissenschaftlichen Prinzipienverfasste wissenschaftliche Publikation, sondern vielmehr, die Inhalte des im Klosterarchiv Einsiedeln verwahrten Tagebuchs einem breiten Publikum in verständlicher Form zugänglich zu machen. Aufgrund der sprachlichen Normalisierung, nicht gekennzeichneter inhaltlicher Anpassungen und der Tatsache, dass er die benutzten Quellen und die Auswahlkriterien nicht darlegte, eignen sich die Zusammenstellungen nur bedingt als Basis für wissenschaftliche Arbeiten. Ausserdem finden sich in den Publikationen diverse Fehler.11

Ähnliche Probleme im Umgang mit den Publikationen zeigen sich bei den Titeln von Pater Rudolf Henggeler(1890–1971), der ebenfallszeitweise als Lehrer für Geschichte und Ordensgeschichte am Einsiedler Gymnasiumsowie als Stiftsarchivar tätig war.12 Henggeler veröffentlichte eine eindrucksvolle Zahl an Beiträgen zu verschiedensten Aspekten der Einsiedler Klostergeschichte, welche jedoch teilweise erhebliche Mängel aufweisen. So wies Pater Thomas Fässler darauf hin, dass Henggelerinhaltliche Irrtümer unterliefenund in seinen Arbeiten eine deutlicheParteinahme für die Akteure des Klosters erkennbar ist. Er verzichtete überdies in manchen Publikationen auf die Angabe von Quellenbelegen und betrieb teilweiseeine lückenhafte Archivrecherche, womit seine Darstellungen den Kriterien der modernen Geschichtswissenschaftnicht oder nur bedingt genügen.13 Trotz dieser berechtigten Vorbehalte wäre ein systematischer Verzicht auf Henggelers Schriften wenig sinnvoll, zumal sein – sowohl die Zeitspanne als

9 Helbling vermerkte dazu, dass es ihm der besseren Lesbarkeit halber angezeigt schien, die Inhalte des Tagebuchs in modernem Deutsch und in ‹geniessbarer› Orthografie wiederzugeben. Vgl. Helbling 1905:134;Helbling 1911:3;Helbling 1913:72; Helbling 1918:63.

10 Vgl. Helbling 1911:144–150;Helbling 1913:199–207;Helbling 1918:177–188.

11 Im Lebenslauf zur 1905 erschienenen Publikation zur Frankfurter Reise ist beispielsweise irrtümlicherweise das Todesjahr 1705 statt 1704 abgedruckt. Im drei Jahre später publizierten Artikel wurde dieser Fehler zwar korrigiert, dahingegen erschien als Geburtsjahr 1845 statt 1645. Vgl. Helbling 1905:133;Helbling 1908a:39.

12 Vgl. Kälin 1971:XII.

13 Vgl. Fässler 2019:22–23.

auch die Zahl der Themen betreffend – äusserst umfangreiches Werk sehr viele unterschiedliche Bereiche der Klostergeschichte verbindet. Angesichts der genannten Defizite, die in konkreten Fällen einer kritischen Überprüfung bedürfen, können Henggelers Studien dennoch als hilfreicher Ausgangspunkt dienen. Insbesondere seine Professbücher, welche biografische Informationen zu den Konventualen und Äbten in Einsiedelnsowie in anderen Klöstern enthalten, erweisen sich in vielerlei Hinsicht als unverzichtbare Grundlage.14 Henggelerbemühtesich insbesondere um eine Fortsetzung der von Pater Odilo Ringholz(1852–1929)begonnenen Klostergeschichte. Letzterer amtete von 1883 bis zu seinem Tod als Stiftsarchivar15 und hinterliess – neben einer chronologischen Übersicht16 ausgewählter Ereignisse vom Ende des 8. Jahrhunderts bis ins Jahr 1899 sowie einer Wallfahrtsgeschichte17 – den ersten Teil einer Stiftsgeschichte, welche sich auf den Zeitraum von der Gründungslegende bis 1526 fokussiert.18 Da ein zweiter Teil nicht zur Ausführung gekommen war, setzte Henggelerdieses Vorhaben fort, indem er die Biografien mehrerer Äbte vom 16. bis ins 18. Jahrhundert aufarbeitete19 und mit der Abfassung einer umfangreichen Stiftsgeschichte mit Schwerpunkt auf die Ereignisse nach der Reformation begann, deren Gliederung sich an der Amtszeit der Äbte orientierte. Diese befindet sich als unvollendetesschreibmaschinengeschriebenes Konvolut im Klosterarchiv Einsiedeln. Da sich die Arbeit stark auf die Perspektive des Klosters und der einzelnen Äbte stützt, wurdenauch kleinere Auseinandersetzungen geschildert, womit das Werk vor allem für auf kürzere Zeiträume fokussierende Arbeiten von Bedeutung ist. Zudemfinden sich darin Informationen zu den stiftseigenen Territorien, den unterstellten Klöstern und Pfarreien sowie über die Beziehungenzuverschiedenen externen Akteuren. Obwohlder Autor in der Fortsetzung der Stiftsgeschichte seine Angaben mit Literatur- und Quellenbelegen versah, sind die Inhalte dennoch kritisch zu reflektieren, zumal die Zusammenstellungen unabgeschlossen blieben.20

14 Henggeler verfasste vier Bände mit biografischen Informationen zu den Konventualen von ehemaligen und noch bestehenden Benediktinerabteien auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, wobei er sich auf die Männerklöster beschränkte. Vgl. Henggeler 1930;Henggeler 1933;Henggeler 1934;Henggeler 1955.

15 Vgl. Henggeler 1934:590.

16 Vgl. Ringholz 1899.

17 Vgl. Ringholz 1896.

18 Vgl. Ringholz 1904.

19 Mehrere dieser Äbte-Biografien wurden in den Mitteilungen des historischen Vereins des Kantons Schwyz publiziert. Auch nach dem Tod von Henggeler veröffentlichte die Zeitschrift in Zusammenarbeit mit Pater Joachim Salzgeber weitere Texte aus den Materialsammlungen des verstorbenen Autors. Vgl. Henggeler 1976:34.

20 Vgl. Geschichte des Klosters Einsiedeln von P. Rudolf Henggeler, ca. 1916–1970;KAE A.16/1 [imFolgenden:KAE A.16/1].

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