FJE 04: Anton Hügli, Kurt Salamun (Hg.): Karl Jaspers' Reflexionen zur Politik

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Anton Hügli, Kurt Salamun (Hg.)

Karl Jaspers’ Reflexionen zur Politik

Sein Politikverständnis und seine Haltung in der Europa-Frage

Forschungen zu Karl Jaspers und zur Existenzphilosophie

Editorial Board

Stefania Achella, Dirk Fonfara, Georg Hartmann, Dominic Kaegi, Tsuyoshi Nakayama, Filiz Peach, Czesława Piecuch, Annemarie Pieper (†),Harald Schwaetzer, Rainer Thurnher and Gregory J. Walters

Anton Hügli und Kurt Salamun (Hg.)
Band 4

Karl Jaspers’ Reflexionen zur Politik

Sein Politikverständnis und seine Haltung in der Europa-Frage

Schwabe Verlag

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Abbildung Umschlag:Archiv Karl-Jaspers-Stiftung

Korrektorat:Nina Sophie Weiss, Paris

Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel

Cover:STROH Design, Kathrin Strohschnieder, Oldenburg

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI Books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-5244-1

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5262-5

DOI 10.24894/978-3-7965-5262-5

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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Sektion I: Jaspers und der Europa-Gedanke

Karl Jaspers: VomEuropäischen Geist

Stefania Achella: Europa – wohin soll es gehen?Jaspers bei den Rencontres InternationalesdeGenève (1946).

Norbert Kapferer: Das philosophische Vorspiel zum Kalten Krieg. Die Jaspers-Lukács-Kontroverse in Genf 1946

Karl Jaspers: Das Europa der Regionen. Aus dem Nachlass herausgegeben von Giandomenico Bonanni und Bernd Weidmann

Andreas Cesana: Europa in einer neuen Weltordnung. Politisches Bewusstsein und philosophische Denkungsart bei Karl Jaspers

Alfons Grieder: Karl Jaspers und die europäische Geschichte

13

59

81

105

Nebil Reyhani: Der Europa-Gedanke bei Karl Jaspers und Max Scheler .. . 119

Sektion II:Jaspers im Vergleich mit Hannah Arendt und Martin Heidegger

Fritz Böversen: Kommunikation und Politik. Die Position von Karl Jaspers und Hannah Arendt

Alexander Gantschow: Die Entwicklungdes Freiheitsverständnisses von Karl Jaspers im Hinblick auf Hannah Arendt

133

147

Klaus Brinkmann: Jaspers and Arendt on Communication and Politics .. . 179

Akihiko Hirano: Zum Verhältnis moralischen und politischen Denkens bei Jaspers und Arendt anhand von deren Kant-Interpretation

Tom Rockmore: Jaspers und Heidegger über das Verhältnis von Philosophie und Politik

Biografie der Autorinnen und Autoren

191

203

225

Ant Antwort. Zur Kritik meiner Schrift «Wohin treibt die Bundesrepublik?». München 1967.

AP Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende,Ärzte und Psychologen. Berlin 1913. – 4. völlig neu bearbeitete Auflage Berlin/Heidelberg 1946. – 9. Auflage 1973.

Apo Aneignungund Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie. München 1968.

Aut Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe. München 1977.

AZ Der Arzt im technischen Zeitalter. Technik und Medizin, Arzt und Patient, Kritik der Psychotherapie. München 1986.

AZM Die Atombombeund die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. München 1958. – 6. Auflage 1982.

BR Wohin treibt die Bundesrepublik?Tatsachen – Gefahren – Chancen. München 1966. –8. Auflage 1967.

Ch Chiffren der Transzendenz.Hrsg. v. Hans Saner. München 1970. – 3. Auflage 1977.

EExistenzphilosophie. Drei Vorlesungen. Berlin/Leipzig 1938. – 4. Auflage Berlin/New York 1974.

EiPh Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge. Zürich 1950. 23. Auflage 1983.

GP Die großen Philosophen. Erster Band. München 1959.

GPN1 Die großen Philosophen. Nachlaß 1. Darstellungen und Fragmente. Hrsg. v. Hans Saner, München/Zürich 1981.

GSZ Die geistige Situation der Zeit. Berlin 1931. – 5. Auflage 1979.

HC Hannah Arendt, The Human Condition. Chicago 1958.

HS Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschenPolitik 1945–1965. München 1965.

IdU Die Idee der Universität.Berlin 1923. – Neufassung 1946 und (mit Kurt Rossmann). Berlin/Göttingen/Heidelberg 1961.

MW Max Weber, Politiker, Forscher, Philosoph. Bremen 1946. – Neuausgabe. München 1958.

NNietzsche. Einführung in das Verständnisseines Philosophierens. – 4. Auflage. Berlin/ New York 1981.

NC Nikolaus Cusanus. München1968.

NPL Nachlaß zur Philosophischen Logik. Hrsg. v. Hans Saner u. Marc Hänggi. München 1991.

NzH Notizen zu Martin Heidegger. Hrsg. v. Hans Saner. München 1978.

PG Der philosophische Glaube. Gastvorlesungen. Zürich/München 1948. – 8. Aufl. 1985.

PGO Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. München 1962. – 2. Auflage 1963.

PhI–III

Philosophie. 3Bde. Bd. I: PhilosophischeWeltorientierung. Bd. II:Existenzerhellung. Bd. III:Metaphysik. Berlin 1932. – 4. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1973.

Prov Provokationen – Gespräche und Interviews. Hrsg. v. Hans Saner. München 1969.

PW Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. – 6. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1971. Neuausgabe.München 1986.

RA Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München 1951. – 2. Auflage 1958.

Sch Die Schuldfrage. Heidelberg/Zürich 1946. – Neuausgabe München 1987.

SchW Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. Hrsg. v. Hans Saner. München 1967.

UZG VomUrsprung und Ziel der Geschichte. – 8. Auflage und Neuausgabe.München 1983.

VE Vernunft und Existenz.Fünf Vorlesungen. – 3. Auflage München 1984.

VW Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. Drei Gastvorlesungen. München 1950.

WVon der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band. München 1947. – 3. Auflage 1983.

WF Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. Hrsg. v. Hans Saner. München/Zürich 1996.

WGP Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Hans Saner. München/Zürich 1982.

WL Wahrheit und Leben. Zürich o. J.

Im Jahr 2020 wurde am Institut für Philosophie der Universität Graz die Herausgabe des Jahrbuchs der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft eingestellt. In diesem Jahrbuch, das im Jahr 1989 gegründet wurde, hatten Jaspers-ForscherInnen aus 26 Ländern ihre Interpretationshypothesen über das umfangreiche Werk von Karl Jaspers publiziert.

Wir, die beiden Herausgeber der neu gegründeten Reihe Forschungen zu Karl Jaspers und zur Existenzphilosophie,haben uns entschlossen, einige in dem genanntenJahrbuch publizierten Artikel zu den beiden Leitthemen «Karl Jaspers. Gedanken über die Politik»und «Karl Jaspers. Gedanken über Erziehung und Bildung»inihrer ursprünglichen Fassung erneut zu veröffentlichen. Es sind allesamt Beiträge, die der Forschung wichtige Impulse gegeben haben und noch immer geben und die um Themen kreisen, die in der heutigen Zeit von besonderer Aktualität sind. Dieser Band versammelt ausgewählte Beiträge der Jaspersforschung zu Jaspers’ Verhältnis zur Politik.

Sektion I:

Jaspers und der Europa-Gedanke

VomEuropäischen Geist

Vordem Ersten Weltkrieg galt die Gemeinschaftder europäischen Nationen, die Einheit Europas als selbstverständlich.Eserscheint uns wie eine paradiesische Zeit, als man ohne Pass aus Deutschland nach Rom fuhr und nur die Merkwürdigkeit feststellte, dass, wenn man nach St. Petersburg fahren wolle, man einen Pass brauche. Aber in jenen Zuständen muss etwas Grundverkehrtes gelegen haben. Kaum jemand wurde sich dessen radikal bewusst. Aber einzelne Denker sprachen aus, was war. Im Ökonomisch-Sozialen hatte Marx das Unhaltbare gesehen. In der Substanz des Menschseins waren Kierkegaard und Nietzsche die Propheten des Zeitalters, die – ohne Erfolg – aus dem Schlaf der Selbsttäuschungen wecken wollten. Die Christenheit ist nur noch Schein, sagte Kierkegaard. Gott ist tot, der Nihilismus kommt herauf, sagte Nietzsche. Die europäische Einheit war ein schwaches Bildungsphänomen der Oberschicht. Was damals noch als Europa galt, das hat offenbar nicht getragen. Wollenwir auf europäischemGrunde leben, dann müssen wir einen tieferen Ursprung wirksam werden lassen. Die Enttäuschung zweier Weltkriege zwingt uns, alle europäischen Gebilde gleichsam zu beklopfen, wie weit sie etwa hohl geworden sind.

Wir vertrauen nicht mehr dem Humanismus. Aber wir lieben ihn und möchten alles tun, ihn zu bewahren. Wir vertrauen nicht mehr der modernen Zivilisation,der Wissenschaft und Technik. Aberwir begreifen deren weltgeschichtliche Bedeutung, möchten sie keineswegs preisgeben, sondern mit aller Kraft weiterentwickeln und sinnvoll gestalten.

Wir vertrauen nicht mehr der Gesellschaft germanisch-romanischer Nationen in ihrem politischen Gleichgewicht. Aber wir möchten die Idee einer Einheit selbständiger,freier europäischerNationen retten.

Wir vertrauen nicht mehr bedingungslos den christlichen Kirchen. Aberwir halten an ihnen fest als den kostbaren Gefäßen unersetzlicher Überlieferung. Humanismus, Zivilisation, politisches Gleichgewicht, Kirchen, alle diese großen Dinge, scheinen zu einem Vordergrund geworden zu sein. Auf sie ist kein Verlass. Sie sind uns unentbehrlich, aber nicht genügend.

Die Bildung des Humanismus ist heute als Lebensmacht ohne Kraft.Esgibt nicht mehr Menschen wie Thomas Morus oder Pico von Mirandola. – Der Fortschrittsgedanke der Zivilisation hatsich als ein Übermut des Menschen entschleiert;der Fortschritt beschränkt sich heute auch für unser Bewusstsein auf rationale Wissenschaft und Technik,die zweideutig im Dienste des Guten wie des Bösen stehen. – Der Gedanke vom Gleichgewicht der Mächte verdeckte den

zerstörendenWiderspruch, der in der Forderung absoluter Souveränität einer jeden Staatsnation lag und der ständig die Gemeinschaft zerbrechenmusste – die einst lebentragende geistige Macht der Kirche ist heute auf besondere Bereiche zurückgedrängt, auf den Sonntag des Daseins. Sie entbehrt des hinreißenden Pneumas,das das Leben aus dem Geisteunbedingt macht.

Wir müssen tiefer zurück in unsere geschichtlichen Ursprünge, dorthin, woraus alle jene schwach gewordenen Mächte einst ihreKraft hatten. Aus den Gewohnheiten und den konventionell erregten Gefühlen drängen wir dahin, woraus und wohin wir im Ernste leben.

Der uns in Genfgestellten Aufgabe entsprechend erörtere ich die drei Fragen:Was ist Europa?Wie steht Europa in der veränderten Welt?Was können wir aus europäischem Selbstbewusstsein wollen?

Was ist Europa?

Etwa die kleine Halbinsel, die der Eurasiatische Kontinent zum Atlantischen Ozean vorstreckt?Oder auf diesem Boden vielmehr ein geistiges Prinzip, das Prinzip des Abendlandes?Dann umfasst Europa in der Antike die griechischrömische Bildungsgemeinschaft, die um das Mittelmeer lebte. Im Mittelalter reichte es so weit wie das Christentum:die Christenheit ist Europa. In der neueren Zeit aber galt Europa geographisch als das Land bis zum Ural, geistig als die Einheit, die sich den Erdball kolonisatorisch aneignete, als der weiße Mann überall ein Vorrecht geltend machte.

Innerhalb Europas war jederzeit Kampf und Krieg. Aber man wusste sich als zusammengehörende geistige Einheit gegenüberden Barbaren, den Ungläubigen, den Heiden, den Unzivilisierten. Europa war nie allein. Es stand – gegen die Perser, den Islam, die Mongolen – die Normannen, die Ungarn, die Türken – immer wieder am Rande des Untergangs.

Aber Europa war groß,der Erdball noch keine ständig gegenwärtige Wirklichkeit. Heute verlagern sich die Schwergewichte der abendländischen Menschheit fern von Europa in die weiten Ebenen Amerikas und Asiens. Diese bleiben immer noch innerhalbder christlichen Welt. Europa als Abendland reicht so weit wie die biblische Religion, schließt ein Amerika und Russland. Der kleine europäische Kontinent bleibt nur der Boden, auf dem durch Jahrtausende diese Kultur sich einst entwickelt hatte, bevor sie sich verbreitete, Nordasien und Amerika bevölkernd und formend.

Dazu aber kommt heute geistig etwas ganz Anderes. Seitdem China und Indien für den Abendländer nicht mehr fremde Gebiete sind, die allenfalls ein Interesse haben neben Polynesien, Australien und Afrika, sondern seitdem hier ursprüngliche Entfaltungen des Menschseins mit einzigartigen geistigen Schöpfungen erkannt und geliebt wurden, ist das europäische Selbstbewusstsein in ei-

nem Wandel. Vorbei ist der europäische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus der einst die Geschichte des Abendlandes die Weltgeschichte hieß, fremde Kulturen in Museen für Völkerkunde gebracht, als Gegenstand der Ausbeutung und der Neugier angesehen wurden, einst, als sogar Hegelsagenkonnte:«Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der Mühewert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu werden.» Europa wird sich heute seines Eigentümlichen bewusst im Kontrast und verliert damit seine Absolutheit. Die technisch-militärische Überlegenheit wird weltgeschichtlich zu einer Episode. Auf die Jahrtausende gesehen wird uns das hohe Menschsein von China bis zum Abendland gleichwertig.

Die Parallele dreier selbständiger großer geistiger Entwicklungen – in China, in Indien, im Abendland – ist offenbar. Für den christlichen Glauben ist Christus die Achse der Weltgeschichte. Zu ihm hin und von ihm her geht der Gang der Dingebis zum Weltgericht. Für eine empirische Betrachtung – die den religiösen Glaubennicht zu beeinträchtigen braucht – liegt die Achse der Weltgeschichte in den Jahrhunderten 800 bis 200 v. Chr. Es ist die Zeit von Homer bis Archimedes, die Zeit der großen alttestamentlichen Propheten und Zarathustras – die Zeit der Upanischaden und Buddhas – die Zeit von den Liedern des Shiking über Laotse und Konfuziusbis zu Tschuang-tse.

In dieser Zeit wurden alle Grundgedanken der folgendenKulturen gewonnen. Zu ihr kehrtman mit Renaissancen in China, in Indien und im Abendland immer wieder zurück. Dieser Zeit ist gemeinsam, dass in den menschlichen Grenzsituationen die äußersten Fragen auftreten – dass der Mensch sich in seiner ganzen Brüchigkeit erkennt und zugleich die Bilder und Gedankenhervorbringt, mit denen er trotzdemweiter zu leben vermag – dass die Erlösungsreligionen auftreten – dass die Rationalisierung beginnt – und dass in allen drei Gebieten am Ende ein Zusammenbruch des als kritisch empfundenen Zeitalters steht mit der Bildung despotischerGroßreiche. Die parallele Vergegenwärtigung dieses Jahrtausends gehört zu den ergreifendsten weltgeschichtlichen Erfahrungen, die wir machen können. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto ähnlicher werden wir einander. Als die drei Welten einander begegneten, konnten sie einander verstehen, denn in aller Verschiedenheit hatte es sich um das gleiche gehandelt, die Grundfragen des Menschseins. Aus diesen ähnlichen geistigen Ursprüngen sind dann in den folgendenJahrtausenden ganz verschiedene Entwicklungen erfolgt.

Ein radikaler UnterschiedEuropas vonChina und Indien istaber erst in den letzten vier Jahrhunderten zutage getreten: die universaleWissenschaftund Technik. Sie hat dieÜberlegenheitEuropas gebracht, dievorübergehendeWeltherrschaft, welche aufdie Dauer in der Tat bedeutet, dass Technik und Wissenschaft mitallen ihren Folgen zumWeltschicksal geworden sind.Die Fragen,die hier an dieWeltgeschichtegestellt werden können, sind dieGrundfragen,die dasgroße Werk Max Webers beherrschen:Was istdas Gemeinsame in jenen drei großen

Kulturen?Was ist dem Abendlandeigentümlich?Warumist diese eigentümliche Entwicklung eingetreten? Warumhaben wirimAbendland Kapitalismus?Woher dieRationalisierung und ihrInhalt? Woherdie universale Wissenschaft?Woher das Ethos, dasBerechenbarkeit und Voraussicht zumLebensprinzip aller Arbeit macht im Gegensatz zu traditionalistischem Verhalten? Die Fragen finden keine endgültige Antwort. Aber sieführenals Forschungsaufgaben zu einer Klärungder Tatbestände, zumBewusstseinder Größeund des Geheimnisses derMenschheitsgeschichte. DieFrage wendet sich forschendzurückbis in die Achsenzeit – wenn wir dieZeit um dieMitte desletztenJahrtausendsv.Chr. so nennen dürfen. Liegen in derEigenart derBibel und der abendländischen Antike schondie Keime oder wenigstens die Ermöglichungen dessen, was alsmoderne Wissenschaft und Technik erst in den letzten Jahrhunderten sich gezeigthat?

Die geistigen Welten Chinas und Indiens sind uns unersetzlichgeworden, aber nichtnur als Kontrast zuuns selbst. Werdavon einen Hauch verspürt, kann sie nievergessen undnicht ersetzen durch etwas, das wirimAbendlande besitzen. Aberjede Rückkehr ausder Beschäftigung mitasiatischen Werken zurBibel und zu unserenklassischenTexten bringt unsdas Gefühldes Heimatlichen,nicht nur dereinzigen Erinnerungeneigener Herkunft,nicht nur des unvergleichlichen Reichtums, sondernder Freiheit des Geistesinseinerfortschreitenden Erfahrung und seiner erfüllten Dialektik. Wir werden beilängerem VerweileninAsien müde infolge dervielenWiederholungen, des Ausbleibens breiterer Entfaltung in der Weltverwirklichung,des Mangels an unablässig umwälzendengeistigen Bewegungen – es sei denn, dass wiraufhörten, Abendländer zu sein. Aber wir spüren dort diegroßeendgültige Überwindung, eine unüberschreitbareWahrheit und die Quelle einer tieferen Ruhe,als siejeein Abendländer gewonnenhätte.

Lassen wir nunmehr alle Vergleiche. Fragen wir nach Europa!

Wollen wir mit Namen nennen:Europa,das ist die Bibel und die Antike. Europa ist Homer, Äschylus, Sophokles, Euripides,ist Phidias, ist Plato und Aristoteles und Plotin, ist Virgil und Horaz, ist Dante, Shakespeare, Goethe, ist Cervantesund Racine und Moliere, ist Leonardo, Raffael, Michelangelo, Rembrandt, Velasquez,ist Bach, Mozart, Beethoven, ist Augustin,Anselm, Thomas, Nicolaus Cusanus, Spinoza, Pascal, Kant, Hegel, ist Cicero, Erasmus, Voltaire. Europa ist in Domen und Palästen und Ruinen, ist Jerusalem, Athen, Rom, Paris, Oxford,Genf, Weimar. Europa ist die Demokratie Athens, des republikanischen Roms, der Schweizer und Holländer, der Angelsachsen. Wir fänden kein Ende, wollten wir alles aufzählen,was unseren Herzen teuer ist, einen unermeßlichen Reichtum des Geistes, der Sittlichkeit, des Glaubens. Solche Namen sprechen für den, der gelebt hat in dem, was sie benennen, dem geschichtlich Einmaligen. Der Sinn solcher Vergewisserung würde zur Darstellungführen und zu den Quellen, zu den Städten und Landschaften und Werken, zu den Monumenten und Büchern, zu den Dokumenten der großen Menschen. Er ist der beste,

der im Grunde einzige Weg zum Wissen um das, was Europa ist. Auf ihm entzündet sich unsere Liebe und verbindet uns.

Ein anderer Weg sucht aus den dort gemachten Erfahrungendie Abstraktionen. Wir möchten das Prinzip in jener Fülle kennen und es im Gedanken umschreiben,möchten wissen, was wir sind und sein können. Jeder Versuch dieser Art ist ein Spiel.

Wir wählendrei Worte, um das Eigentümlichste Europas zu konstruieren: Freiheit, Geschichte, Wissenschaft.

Freiheit

Freiheit hält den Europäer in Unruhe und Bewegung. Denn er will die Freiheit und weiß zugleich, dass er sie nicht hat. Wo er ihrer sicher im Besitz zu sein glaubt, ist sie schon verloren. Freiheit kommt dem Menschen als Menschen zu. Aber der Europäer ist sich dessen bewusst geworden. Was ist Freiheit?

Freiheit ist Überwindung der Willkür. Denn Freiheit fällt zusammenmit der Notwendigkeit des Wahren. Bin ich frei, so will ich nicht, weil ich so will, sondern weil ich mich vom Rechten überzeugt habe. Der Anspruch der Freiheit ist daher, nicht aus Willkür, nicht aus blindem Gehorsam, nicht aus äußerem Zwang zu handeln, sondern aus eigenerVergewisserung, aus Einsicht. Daherder Anspruch, selbst zu erfahren, gegenwärtig zu verwirklichen, aus eigenem Ursprung zu wollen durch Suchen des AnkersimUrsprung aller Dinge.

Aber leicht täusche ich mich. Bloße Meinung ist noch keine Einsicht. Die Willkür stellt sich wieder her als Anspruch, seine eigene Meinung haben zu wollen mit der Voraussetzung, jede Meinung habe ihr Recht, weil einer sie vertrete. Der Gewinn der Einsicht, die Freiheit, fordert Überwindung der bloßen Meinungen. Diese Überwindung geschiehtdurch die Bindung, die wir als einzelne uns auferlegen im Zusammenhang mit den anderen. Freiheit verwirklicht sich nur in Gemeinschaft. Ich kann nur frei sein in dem Maße, als die anderen frei sind.

Zugunstengegründeter Einsicht schmilzt die bloße Meinungein im liebenden Kampfzwischenden Nächsten. Zum Bewusstsein objektiver Wahrheit verwandelt sie sich im gemeinsamen gesellschaftlich-politischen Zustand. Europäisch scheint uns dieses beides:die Tiefe menschlicher Kommunikation selbstseiender Einzelnerund die bewusste Arbeit an der Freiheit der öffentlichen Zustände durch die Formen gemeinschaftlicher Willensbildung. Aber die absolute Wahrheit und damit Freiheit ist nie erreicht, Wahrheit ist auf dem Wege. Wir leben nicht in der Ewigkeit vollendeten Einklangs der Seelen, sondern in der Zeit, das heißt dem stets unvollendeten Anderswerdenmüssen. Daher offenbart sich der Inhalt der Freiheit durch zwei europäische Grunderscheinungen:

Das Leben in Polaritäten.

Das Lebenvor dem Äußersten.

Erstens: Das Leben in Polaritäten:Europa hat zu jeder Position selber die Gegenposition entwickelt. Es ist eigen vielleicht nur dadurch, dass es der Möglichkeit nach alles ist. Daher ist es bereit, was von außen kommt, nicht nur als Gegensatz zu nehmen, sondern in sich selbst hineinzubilden als Element seines eigenen Wesens.

Europa kennt die großartigen, umfassenden Ordnungen und die Unruhe der Revolutionen. Es ist konservativ und es vollzieht die radikalstenDurchbrüche. Es kennt die Versöhnung religiöser Innigkeit und den Abbruch in nihilistischer Verneinung. Es huldigt der christlich-universalen Autoritätsidee und nicht weniger der Idee der Aufklärung. Es erbaut in der Philosophie die großen Systeme und lässt sie wieder zerschlagen von wahrheitskündenden Propheten. Es lebt im Bewusstsein des umfassenden öffentlichen Ganzen und zugleich im Intimsten des Persönlichen und Privaten.

Dieses von Grund auf dialektische Dasein findet Europa von Anfang an in seiner Überlieferung begründet:Schon die Bibel, die Grundlage europäischen Lebens, birgt auf eine einzige Weise in sich die Polaritäten. Sie ist das heilige Buch, das allen entgegengesetzten Möglichkeiten in der Folge der Jahrtausende Raum ließ und Weihe gab. – An der Wurzel Europassteht weiter die große Antithese von Antike und Christentum;beide bekämpfen sich und vereinigen sich bis heute. – Europäisch sind die fruchtbaren Gegensätze von Kirche und Staat, von Nationen und Reich, von romanischen und germanischen Nationen, von Katholizismusund Protestantismus, von Theologie und Philosophie,heute vielleicht von Russland und Amerika als der neuen Inkarnation der fruchtbaren Polarität, in der die eine Seite ohne die andere verderben würde.Europa bindet aneinander, was es zugleich in die letzte Gegensätzlichkeit treibt:Welt und Transzendenz,Wissenschaft und Glaube, Weltgestaltung und Religion.

Europa wird seinerFreiheit untreu, wo es die Polarität verliert und sich beruhigt, sei es in einer extremen Ordnung, welche ihreGrenzen vergisst, sei es in Extremen, die die Ordnung parteiisch verneinen, sei es in einem der Pole, wenn er zum Ganzen wird. Dagegen ist Europa wieder da, wo es aufgeschlossen, frei in der Spannung der Gegensätze, seine Möglichkeiten bewahrt und im Wandelder Situationen aus seinem Ursprung von neuem unberechenbar schöpferisch wird.

Zweitens: Das Leben vor dem Äußersten:Wenn die Freiheit zusammenfällt mit der Notwendigkeit des Wahren, so ist unsere Freiheit jederzeit brüchig, weil wir des Wahren nicht im ganzen und endgültig gewiss sind. Unsere Freiheit bleibt angewiesen auf anderes, ist nicht causa sui. Wäre sie das, so wäre der Mensch Gott. Hier steht der Europäer an seiner äußersten Grenze.

In der Subjektivität als einzelner kennt er die Erfahrung des Ursprungs: dass ich nicht frei bin durch mich selbst, sondern dass ich gerade dort, wo ich mich eigentlich frei weiß, zugleich mich mir geschenkt weiß aus transzendentem Grunde. Ich kann mir ausbleiben – dieses ist die rätselvolle Grenze, der die mögliche Erfahrung des Sichgeschenktwerdens entspricht. Existenz, die wir sein können, ist nur in eins mit der Transzendenz, durch die wir sind. Wo Existenz sich ihrer gewiss wird, wird sie sich mit gleichem Schlag der Transzendenz gewiss.

In der Objektivität aber der Freiheit gilt:Freiheit ist angewiesen auf die Freiheit aller anderen;daher gelingt die politischeFreiheit nicht als sichere Dauer der Zustände. – Freiheit ist angewiesen auf Vollendbarkeit des Wahren, Wahrheit aber ist vielfach und in jederihrer Gestalten in Bewegung:die wissenschaftliche Erkenntnis strandetanunüberwindbaren Antinomien und bleibt beschränkt auf Endliches, Erscheinendes. – Jede Vollendung in der Welt bringt alsbald ein Ungenügen hervor. Was in der Zeit zur Erscheinung kommt, muss scheitern.

Dies Scheitern selber aber ist in einer europäischen Polarität Symbol geworden:indem griechischen tragischen Bewusstsein,das den Sinn im Scheitern und den Drang zum echten Scheitern kennt – im christlichen Kreuz,durch welches das tragische Bewusstsein überwunden oder von vornherein gar nicht betreten ist, das den Sinn des Leidens in einer transzendenten Versöhnung kennt. Die Freiheit des Europäers sucht die Extreme, die Tiefe der Zerrissenheit. Der Europäer geht durch Verzweiflung zum wiedergeborenen Zutrauen, durch den Nihilismus zum gegründeten Seinsbewusstsein;erlebt in der Angst als dem Stachel seines Ernstes.

In der Freiheit wurzeln nun zwei weitere europäische Phänomene:das Bewusstsein der Geschichte und der Wille zur Wissenschaft.

Geschichte

Aus der Freiheit wächst der Wille zur Geschichte.Denn der Europäer will konkrete Freiheit, das heißt die Freiheit der Menschen im Einklangmiteinander und mit der sie erfüllenden Welt.

Einzig im Abendland ist im Bewusstsein des Einzelnendie Freiheit gebunden an die Freiheit der Zustände. Da aber die Freiheit niemals für alle und dar um im abendländischen Sinne für keinen erreicht ist, ist Geschichte notwendig, um Freiheit zu erringen, oder bringt der Drang zur Freiheit die Geschichte hervor.

Unsere Geschichte ist nicht bloßes Anderswerden,nicht bloß Abfall und Wiederherstellung einer zeitlosen Idee, nicht die Verwirklichung eines als bleibend gedachten Totalzustandes, sondern eine sinnhafte Folge des Auseinander-

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