Rolf Schieder
EINE PROVOKATION
Rolf Schieder
Hegels Gott
Eine Provokation
Schwabe Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Carl-August-Heinz-Stiftung, Kleintettau
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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5245-8
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5246-5
DOI 10.24894/978-3-7965-5246-5
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Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
2. Kor 3,17
2. «Man kann nicht denken ohne Gedanken, nicht begreifen ohne Begriffe!»
3. Der Mensch – das «auf dem Grund des Unendlichen[…]erbaute Wesen».
4. Seele, Geist und Gott sind keine «Steine und Kohlen».
5. Rechts-, Pflichten- und Religionslehre
6. «Nicht wir haben Vernunft, sondern die Vernunft hat uns.» ...
7. Gott als die sündenvergebende Macht der Liebe
8. Wer ist Weißtüncher, werist Schornsteinfeger?
Kapitel 4
Kapitel 5
Vernunft der Dinge: Die Enzyklopädie
Kapitel 6
Das
7
Die Weltgeschichte – immer noch eine Geschichte der Freiheit?.
Kapitel 8
Kapitel 10
Philosophie
5. Die Offenbarung des Zeitgeistes als die Aufgabe der Philosophen ...
Schluss
Worin besteht die Provokation?
1. Hegel – ein umstrittener Philosoph
2. ProduktiveProvokationen Hegels
3. Der absolute Geist in Kunst, Religionund Wissenschaft
4. ÖffentlicheGottesentsagung bei zunehmender religiöser Pluralität
Die Brauerei Lemke unter dem S-Bahn-Bogen 143 in der Nähe des Hackeschen Marktes befindet sich knappfünfhundert Meter östlich von Hegels ehemaligem Berliner Wohnhaus im Kupfergraben. Dort entstand die Idee, ein Buch über die Theologie Hegels zu schreiben. Das kam so:Bei einem Indian Pale Ale fragte ich einen gerade von der Humboldt-Universität zu Berlin und dem King’sCollege in London promovierten jungen Philosophen,1 was er für die vordringlichste Aufgabe der Philosophie halte. Ohne Zögern antwortete er:«Metaphysik!» Ich fragte verblüfft zurück:«Lebenwir denn nicht in einem nachmetaphysischen Zeitalter, wie Jürgen Habermas meint?» Seine Erwiderung: «Das ist doch einemetaphysische Aussage!» Ich insistierte:«Während meines Theologiestudiums in den Siebzigerjahren lernte ich, dass mit Kants drei Kritikendie Metaphysik erledigt ist. GiltMetaphysik deiner Generation nicht mehr als Rückfall in vorkritische Zeiten?» Seine Erläuterung:Die aktuelle Metaphysik sei insofern ein Fortschritt, als sie über skeptische Diskursanalysen und formale Sprachtheorie hinausgehe und dazu anhalte, über die Wirklichkeit nachzudenken, auf die wir mit unseren Aussagen zielen. Aus erkenntnistheoretischer Skepsis auf Metaphysik zu verzichten, bringe uns nicht weiter. Philosophie müsse eine die Wirklichkeit erhellende Wissenschaft sein. Metaphysik sei die Disziplin,die die Wirklichkeit auf den Begriff bringt.
Ich begann zu verstehen. Der Zustand der Theologie schienmir dem der Philosophie zu ähneln. Die protestantische Theologie weigert sich seit gut zweihundert Jahren, Metaphysik zu einem theologischen Thema zu machen. Seit Friedrich Schleiermachers Feststellung, dass Religion eine «eigene Provinz im Gemüte»sei und strikt von der Metaphysik und der Ethik geschieden werden müsse, ging die protestantische Theologie davon aus, dass sie die Vernunft des Gottesgedankens nicht mehr erweisen müsse. Gott wurde zwar noch als «das, was mich unbedingt angeht»(P. Tillich), als Quelle des «Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit»(F. Schleiermacher)oder als «das Geheimnis der Welt»(E. Jüngel)vorausgesetzt, er musste aber vor dem Forum der Vernunft nicht mehr erscheinen. Die Theologie verzichtete auf eine vernunftgeleitete Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand. Weil Gott sich angeblich in einem erkenntnistheo-
1 Jakob Schieder-Hestermann, Between Meaning and Essence – Explaining Necessary Truth, Berlin 2019.
retischen Abseits befand, interessierte man sich vornehmlich für den Glaubensakt, nicht mehr für den Glaubensgegenstand.
Für Hegelwar Metaphysik die «Zurückführung der Natur auf Gedanken». Der Mensch muss sich einen Reim auf sein Dasein mithilfevon Gedanken und Begriffen machen. Deshalb ist «der Mensch als ein denkendes Wesen ein geborener Metaphysiker».2 Wer sich vor der Metaphysik hüten will, so Hegel, der hütet sich vor dem Denken. Hegel kritisiert zum einen empiristischeNaturalisten, die «die Natur»und deren «Gesetze»für gegeben halten, zum anderenaber auch die Skeptiker, die die Dinge für unzugänglich halten. Weder ist für Hegel das Vorfindliche schon das Wirkliche, noch ist es bloßer Schein. Metaphysik ist für ihn dasjenige philosophische Verfahren, das die Natur und die Geschichte auf Gedanken zurückführt, um das für den menschlichen Geist Wesentliche aufzudecken.
Hegel war aber zugleich ein erbitterter Gegner aller «Verstandesmetaphysik». Er unterscheidet streng zwischen dem Verstand, der die Wirklichkeit in Subjektives und Objektives aufspaltet, und der Vernunft, die die Einheit des Differenten denkt. Für die Vernunft ist das endliche Subjekt kein atomisiertes Individuum, das vielen anderenatomisierten Einzelnen in einer zufällig zusammengewürfelten Welt gegenübersteht. Vielmehr hat der subjektive Geist sowohl am objektivenGeist seiner Zeit Anteil als auch am absoluten Geist, der letztlich treibenden Kraft in Natur und Geschichte. Nicht ein materiell Gegebenes setzt Hegel voraus, sondern den absoluten Geist als eine Wirklichkeit schaffende Kraft, an dem der menschliche Geist durch seine Vernunft Anteil hat.
Gott ist für Hegel Geist.Als solcher ist er gegenwärtig und hier und jetzt wirksam. Gott als den in der Welt wirksamen Geist will Hegelnicht in ein erkenntnistheoretisches Jenseits verbannen. Gott ist ein Gedanke.Folglich kann man auch nicht sinnvoll behaupten, dass Gott nicht gedacht werden kann. Denn auch seine angebliche Undenkbarkeit ist und bleibt ein Gedanke.Ein in seiner Transzendenz verborgenerGott ist für Hegel ein gespenstischer Gedanke.Ein solches Jenseits stellt Gott willentlich ins Abseits.Gott tut ganz im Gegenteil nichts anderes, als sich unablässig zu zeigen, sich zu offenbaren. Die christliche TrinitätslehreerschienHegel als eine gelungene Denkfigur, um sich die unablässige Selbstverwirklichung des göttlichen Geistes in der Welt vorzustellen.
Das Gespräch im Brauhaus Lemke zwischendem frisch promovierten Philosophen und dem frisch pensionierten Theologen über die Notwendigkeit einer neuen Metaphysik hatte für den in die Jahre gekommenen Theologen den Effekt, dass er einer weitverbreiteten skeptischen Theologie, die über eine Religionstheorie nicht mehr hinauskam, mit wachsender Skepsis begegnete. Stattdessen inter-
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830, Erster Teil, Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, Werke 8, 11. Auflage, Frankfurt am Main 2017, §98, 207. (ImFolgenden:Werke 8.)
essierte er sich ganz neu für Gott als denkbaren Gedanken und zu begreifenden Begriff. Hegels Gottesbegriff schien geeignet, eine kritische Metaphysik ebenso zu befördern wie eine kritische Theologie.
Wer sich für Hegel interessiert, der braucht Zeit – und so waren die ersten Jahre des Ruhestandes ein idealer Zeitpunkt, eine dichte und einigermaßen verständliche Rekonstruktion der Theologie Hegels aus dessen Gesamtwerk zu versuchen. Die späte Beschäftigungmit Hegel war eine Wiederbegegnung. Als Theologiestudent war ich in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts an der TheologischenFakultät der LMU München einerseits begeisterter Hörer Falk Wagners, andererseits Promovend bei Trutz Rendtorff. Falk Wagner war ein in Frankfurt sozialisierter Hegelianer, Trutz Rendtorff weckte bei seinen Schülern das Interesse an Ernst Troeltsch. So verschieden die beidenZugänge zur Theologie auch waren, so sehr konvergierten sie doch in der Überzeugung, dass Theologie eine Theologie der Freiheit zu sein hatte.Frei können nur Subjekte sein, die sich ihrer selbst bewusst sind. Ob Subjekte unter spätkapitalistischen Verblendungszusammenhängen frei sein können, war in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der akademischen Welt umstritten.Wir jungen Theologen jedenfalls wollten das Widerstandspotenzial der Theologie und der Religion als einer Freiheitspraxis ausloten. Und so richteten wir unseren Fokus auf die Ethik. Dogmatik – zumal als Gotteslehre – erschien uns als ein anachronistisches Relikt.
Auch die Kirchen schlossen sich diesem Trendanund erlangten als politische Bewegung mit der Formel «Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung»beachtliche Aufmerksamkeit. Dies änderte freilichamNiedergang des kirchlichen Lebens wenig. Immer drängender wurde die Frage, worin denn nun der besondere gesellschaftliche Beitrag der Kirchen besteht. An einem erhellenden und inspirierenden Gottesbegriff arbeiteten sie nicht mehr. Gott kam nur noch bei rituellen Anlässen zur Sprache. Ein vernünftigesGespräch über Gott im Alltag der Welt konnten und mochten die Kirchen nicht mehr anregen. Eine merkwürdige «Theophobie»breitete sich nicht nur im Land, sondern auch in den Kirchen aus. Der Gebrauch des Begriffs Gott wurde immer peinlicher. Die Vorstellung, man müsse zuerst «anGott glauben», bevorman ihn denken könne, verhinderte ein gebildetes Gespräch über Gott. Dieses Buch will das mit Hegels Hilfe ändern.
Als Textgrundlage dient die schon in die Jahre gekommene Suhrkamp-Ausgabe der Werke Hegels – aus dem schlichten und pragmatischenGrund, dass sich diese Ausgabe noch in einer großen Anzahl öffentlicher und privater Bibliotheken befindet. So können interessierte Leser Zitate leichter überprüfen und sich selbst in Passagen, auf die Bezug genommen wird, vertiefen. Für Forschungszwecke ist die historisch-kritische Gesamtausgabe des Meiner-Verlags, die mittlerweile 31 Bände umfasst, zu empfehlen (G.W.F.Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg1968 ff.).
Ohne das Wohlwollen und die Unterstützung vielerwäre das Projekt,Hegel theologisch Interessierten zu erschließen, nicht möglich gewesen. Die kontinuierliche, klare und freundschaftliche Kritik Bernhard Schlinks an den ersten Fassungen der einzelnen Kapitel hat einen unschätzbaren Beitrag zur Verständlichkeit des Buches geleistet. Für guten Rat danke ich Andreas Arndt, Cilliers Breytenbach, Kirill Chepurin, Julia Dietrich, Amélie Frank, Karsten Fischer, Michael Göpfert, Jakob Schieder-Hestermann, Henrik Simojoki, Helmut Utzschneider, Jingyang Yu und Hans-GeorgZiebertz.Niklaus Peter hat an ganz entscheidender Stelle geholfen, dass das Buch einen passenden Verlag gefunden hat. Christian Barth und Ruth Vachek haben die Publikation umsichtig und kenntnisreich betreut. Meiner Familie und den Freundinnen und Freunden, die meine Hegelmanie in den letzten Jahren geduldig ertragen haben, dankeich für ihre Nachsicht.
Das Buch ist in meinem Heimatdorf Kleintettau an der Grenze zwischen dem Thüringer Wald und dem Frankenwald entstanden. Die Dorfbewohner nennen es «Ewerhitt». Es ist ein Glasmacherdorf, sein Mittelpunkt die «obere Hütte», in der seit dem 17. Jahrhundert Glas hergestellt wird. Die ansässige Firma produziert heute zwanzig Prozent des weltweitenFlakonbedarfs. DerenStiftung, der Carl-August-Heinz-Stiftung, danke ich dafür, dass sie durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss den Verkauf des Buches zu einem Sachbuchpreis ermöglicht hat.
Kleintettau, im Advent 2024 Rolf Schieder
Philosophieren heißt, den Geist seiner Zeit begreifen
Lohnt es sich noch, Hegel zu lesen?Hegel selbst betonte in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie immer wieder, dass man heute kein Platoniker oder Aristoteliker, kein antiker Stoiker oder Skeptiker mehr sein könne. Das sei anachronistisch. Jede Philosophie müsseden Geist ihrer eigenen Zeit auf den Begriff bringen. Folglich kann man heute auch kein Hegelianer mehr sein. Es kann nicht darum gehen, Hegel zu rechtfertigen oder ihn gegen seine Kritiker zu verteidigen. Das Ziel einer Beschäftigungmit Hegel kann nur die Antwort auf die Frage sein, ob Hegel uns helfen kann, den Geist unserer Zeit, von dem jeder ausnahmslos ergriffen ist, auch zu begreifen.Wer etwas begriffen hat, der ist gegen apokalyptisches wie gegen zynisches Denken gefeit und kann sich mit Zuversicht und getrostem Mut an die Arbeit machen, das Vorfindliche seinemBegriff gemäß zu gestalten.
Nicht aus historischem Interesse also wurde dieses Buch geschrieben, sondern aus der Intuitionheraus, dass Hegels Philosophie helfen kann, die gegenwärtige politische, kulturelle und religiöse Lage westlicher Gesellschaften zu begreifen. Die politischen Eliten wirken hilflos, die Selbstfindungsprobleme singularisierter Subjekte sind gewaltig, die Kirchen befinden sich im freien Fall. Dem Westen ist ein vernünftiger Gottesbegriff abhandengekommen, und selbst kirchenkritische Zeitgenossen sind angesichts der Kirchenaustrittszahlen besorgt. Sind die Kirchen nur die ersten Institutionen, die zerfallen?Folgen als Nächstes die Schulen?Stehen nicht auch die etablierten Parteienunter einem enormen Druck und wissen nicht, wie sie sich gegen populistische und faschistische Bewegungen wehren sollen?
Weiß Hegel Rat?Eine belastbare Antwort kann erst am Schluss, nach einem Durchgang durch sein Werk, gegeben werden. Aber an drei kleinen aktuellen Miniaturen soll bereits in der Einleitungauf Hegels Aufklärungspotenzial hingewiesen werden. Hegels Philosophie rankt sich um den Geist in seiner dreifachen Gestalt:den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist.Für einen ersten Zugang genügt es vorläufig, sich Folgendes darunter vorzustellen:Der subjektive Geist entfaltet seine Wirkung in empirischen Subjekten. Der objektive Geist tritt den Individuen als der Geist von Institutionen gegenüber:inder Fami-
lie, in der Schule, in der Ökonomie, in der bürgerlichen Gesellschaft, im Staat. Hegel belässt es aber nicht beim Gegenüber von Individualität und Sozialität, von Ich und den Anderen. Vielmehr sind beide,der subjektive und der objektive Geist, im absoluten Geist aufgehoben. Man kann sich die drei Formen des Geistes auch als das Wechselspiel von Einzelheit (subjektiver Geist), Besonderheit (objektiver Geist)und Allgemeinheit (absoluter Geist)verdeutlichen. Das Soziale ist also noch nicht das Allgemeine, denn es ist wie das Subjektive ein vergängliches Besonderes. Der absolute Geist zeichnet sich dadurch aus, dass er einerseits alle einzelnen und besonderenErscheinungen inspiriert – zugleich aber alles Vorfindliche infrage stellt. Er erzeugt eine beständige Unruhe, lässt nichts, wie es ist. Der absolute Geist ist – wie Hegel immer wieder betont – absolute Negativität. Er ist das Un-bedingte in allem Bedingten, das Un-endliche in allen endlichen Erscheinungen. Das vorstellungshafte Synonym für den absoluten Geist ist Gott.
1. Wo begegnet man dem absoluten Geist?
1.1 Schreibenals Gottesdienst
Am 10. Dezember 2023 hielt Jon Fosse in Stockholm seine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises. Die Rede beginnt mit einer angstbesetzten Kindheitserinnerung und sie endet mit dem schlichten Satz «Ich danke Gott».1 Fosse beschreibt seinen Weg von einem Kind, das panische Angst vor öffentlichem Vorlesen in der Schule hat, zum Dichter und Dramatiker.Die ersten Schritte heraus aus der Angst begannen mit dem Schreiben eigener Texte, die nur für ihn selbst bestimmt waren. «Ich fand gewissermaßeneinen Ort in mir drinnen, der nur mir gehörte, und an diesem Ort konnteich schreiben, was nur mir gehörte.» Das gab ihm Sicherheit. Auch fünfzig Jahre später schreibe er immer noch an diesem geheimen inneren Ort, «von dem ich, um ehrlich zu sein, nicht viel mehr weiß, als dass es ihn gibt». Es sei ein einsamer, aberein sicherer Ort, vor allem aberein Ort, an dem das sonst Unsagbare zu Wort kommen kann. Schreiben sei nicht Kommunikation, sondern «eine Art Kommunion». Schreiben sei für ihn immer Zuhören gewesen, ein Lauschen auf das, was zur Sprache kommen will. Wer schreibt, der spüre einen «Geist der Ganzheit», der sowohl aus der Nähe wie aus der Ferne spricht. Wie überhaupt Dichten «eineArt Gebet»sei.
Erst sehr viel später sei er imstande gewesen, bei den Inszenierungen seiner Dramen die Gemeinschaftzuspüren, die die Mitteilung seiner einsamen Begegnungen mit dem Geist hervorrief. Da spürte er «eine große, frohe Sicherheit».
1 Die Rede wurde in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Dezember 2023, S. 9, in der Übersetzung von H. Schmidt-Henkel publiziert.
Vonnun an ließ er sich von guten oder schlechten Kritikennicht mehr beeindrucken. «Ich wollte an meiner Sache festhalten,mit meinerSache weitermachen.» Er habe schon immer gewusst, dass Dichtung Leben retten könne, wahrscheinlich habe sie auch seines gerettet. Und so hätten ihn unter den vielen Glückwünschen, die ihn erreichten, die am meisten gerührt, in denen Leser ihn wissen ließen, dass seine Dichtung ihnen das Leben gerettet habe. Nichtsfreue ihn mehr als das. Er dankeder Schwedischen Akademie. Und:«Ich danke Gott.»
Hegel hätte sich über die Selbstverständlichkeit gefreut, mit der Fosse von Gott sprach. Und es hätte ihm gefallen, dass Dichten für ihn eine Art Kommunion und ein Gebet war.Denn Hegel war davon überzeugt, dass die Kunst – ebenso wie die Religion und die Philosophie – das Absolute vergegenwärtigen kann und soll. Die Kunst macht das Absolute anschaulich, die Narrative der Religionen erschließenesdem Vorstellungsvermögen, und die Philosophie bringt das Absolute auf den Begriff. Philosophie war für Hegel stets auch Gottesdienst.Als Philosoph war er immer auch Theologe, und als Theologe drang er darauf, Gott nicht in ein unerkennbares Jenseits zu verbannen, sondern als einen gegenwärtigen und lebendigen Gott zu denken.
Hegel hätte auch zustimmend genickt,als Fosse von der produktiven Kraft des «Geistes der Ganzheit»sprach. Auch Hegels absoluter Geist ist ein Geist der Ganzheit, der den subjektiven Geist endlicher Individuen ebenso inspiriert wie den objektiven Geist einer Kultur oder eines Gemeinwesens. Allerdings handelt es sich bei Hegels absolutem Geist nicht um ein Vorgegebenes. Das Ganze verschlingt die Teile nicht. Das Ganze ist nur in seinen Teilen und als seine Teile das Ganze. Ohne Teile gibteskein Ganzes und ohne Ganzes keine Teile. In Hegels Terminologie:Das Absolute muss konkret werden. Sonst bleibt es eine leere Abstraktion. Wie die werdendenund vergehenden Teile ist auch das Ganze im Werden – unabgeschlossen, unendlich im Sinne von:noch nicht an sein Ende gekommen, noch nicht am Ziel.
Als Geist ist Gott für Hegel absolute Negativität. Nichts hat vor ihm Bestand. Das Vergängliche vergeht,das Nichtige wird vernichtet, das Eitle wird vereitelt. Wie ein Maulwurf – so Hegel in seiner Geschichte der Philosophie – unterhöhlt der Geist alles Vorfindliche und ruht erst, wenn sich das Wahre und das Gute – und als deren Anschauungauch das Schöne – durchgesetzt haben. Gott als Geist ist Mitte, Anfang und Ende von Natur und Geschichte, und der Mensch, sofern er als Geist tätig ist, wirkt an den Werken des göttlichen Geistes mit. An sich ist der Mensch immer schon vom Geist Gottes ergriffen – das endliche Subjekt muss dies aber für sich erst begreifen. Wer etwas begriffen hat, der hat es sich anverwandelt, der nimmt Anteil am Begriffenen. Der begreifende subjektive Geist erkennt, dass er kein isoliertes, atomisiertes Besonderes ist, sondern an einem großen Ganzen, dem absoluten Geist, so Anteil hat, dass es auf ihn selbst als subjektivenGeist in diesem großen Ganzen unbedingt ankommt. Philosophieren heißt, den Geist seiner
Die Aufspaltung der Welt in beobachtende Subjekte und in beobachtete Objekte hielt Hegelfür selbstgefällige Bequemlichkeit. Wer etwas begreift, der hebt die Subjekt-Objekt-Spaltungendes Verstandes auf. Ein begriffener Gegenstand oder ein begriffener Sachverhalt hat Aufforderungscharakter. Man kann danach nicht mehr so tun, als wisseman nicht, worum es gehe und was man tue. Hegel erwartet vom mit dem Geist Gottes begabten Menschen eine Stellungnahme. Will ich mich als endlicher Geist isolieren und absondern, oder will ich als selbstbewusster Geist ein Moment der Bewegung des absoluten Geistes sein?
1.2 Die Gottesentsagung derAufklärung
Hegel hätte sich aberauch nicht gewundert, dass das Feuilleton auf die unbefangen vorgetragene Frömmigkeit Fosses irritiert und mit Ironie reagierte. Anstatt «dem lieben Gott»zudanken, so hieß es, hätte er besser der norwegischenLiteraturförderungdanken sollen, der es in den vergangenen Jahren gelungen sei, so viele norwegische Autoren einem internationalen Publikum bekannt zu machen. Eine Rezension der Bücher Fosses in der Wochenzeitung Die Zeit beginnt mit dem Satz:«Lassen wir uns mal erleuchten», und endet mit der Frage, ob «die Literatur nicht eher ein Genre für die unteren Ereignisbereiche eines Menschenlebens ist». Dazwischen bekennt die Rezensentin, dass die religiösen Passagen sie peinlich berührt hätten. «Denn der kunstpornografische Tiefsinn, der wahre Kunst zu einem Akt parareligiöser Erlösung verklärt, ist so faszinierend wie abstoßend».2 Gott ist peinlich und Religion grenzt an Pornografie. Die Öffentlichkeit belästigt man damit lieber nicht. Über Gott schweigt man besser. Er berührt zwar noch – abervornehmlich peinlich. Gott, so scheint es, ist der Elefantinden Wohnzimmern westlicher aufgeklärter Intellektueller.
Das ist, wenn man Hegel glauben darf, schon eine ganze Weile so. Denn eines der großen Problemeder Aufklärunghabe darin bestanden, dass sie zur «Gottesentsagung»3 aufgerufen habe. Viele seien diesem Ruf – oft aus Bequemlichkeit, oft genug aber auch aus finsteren Motiven – gefolgt. Gott sei konsequent aus den täglichen Lebensvollzügen ausgeklammert worden. Religionund Glaube habe man an die Kirchen delegiert. Die Kirchen ihrerseits empfanden diese Sonderexistenz lange als ihre Rettung vor den Angriffen radikaler Aufklärer. Und so pflegten und vertieften sie die Dichotomie zwischen Glauben und Wissen freudig und mit Eifer. Religion sei eine «eigene Provinz im Gemüt», betonte Friedrich Schleiermacher, ein Kollege Hegels an der TheologischenFakultätder Berliner Universität. Hegel hielt das für einen Irrweg. Wie konnte sich die Theo-logie Gott
2 Katharina Teutsch, Die Hand Gottes, in:Die Zeit 53, 14. 12. 2023, 56.
3 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke 14, 11. Auflage, Frankfurt am Main 2018, 115. (ImFolgenden:Werke 14.)
heißt,
als ihren Forschungsgegenstand rauben lassen und nur noch die Gefühle und Vorstellungen endlicher glaubender Subjekte, also deren Religion, erforschen wollen, nicht aber den Gegenstand des Glaubens, also Gott?
Wenn Gott angeblich nicht mehr begriffen werden kann und Religion nur eine kleine, isolierte Provinz im Gemüt ist, dann brauchen sich die Kirchen nicht zu wundern, wenn sie als provinziell wahrgenommen werden und ihre Botschaft für belanglos gehalten wird. Bis heute glauben Kirchenvertreter,dass «die Säkularisierung» ohne ihr Zutun über sie gekommen sei. Tatsächlich,soHegels Diagnose, haben sich die Kirchen mit der Trennung von Gott und Vernunft, von Glauben und Denken vor zweihundert Jahren selbst ihr eigenesGrab geschaufelt. Immer wieder hat er die Theologen ermahnt, einen denkbaren Gott zum Gegenstand ihres Forschens zu machen – und ihn nicht in ein unerkennbares Jenseits zu verbannen.
1.3 Die Vernunft als das Vernehmen der göttlichen Werke
Philosophie und Theologie haben für Hegel exakt den gleichen Gegenstand: «Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes».4 Er wird nicht müde zu betonen, dass sich Philosophie und Theologie schlechterdings nicht trennen lassen. In der Einleitung zur Religionsphilosophie heißt es:«So fällt Religion und Philosophie in einszusammen;die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst».5 Beide haben denselben Inhalt, sie unterscheiden sich lediglich in der Form. Glaube und Vernunft sind mithin nicht zu trennen. Denn die Vernunft ist «das Vernehmen des göttlichen Werkes».6 Nicht wir haben Vernunft, die göttliche Vernunft hat uns.
Hegel unterscheidet strikt zwischen Vernunft und Verstand.Der Verstand bringt nur endliche Bestimmungen hervor.7 Für den Verstand ist das Endliche das Absolute. Er klassifiziert und ordnet das Vorfindliche. Er spaltet die Wirklichkeit auf in Subjekte und Objekte, in Denken und Sein, in den beobachtenden Menschen und seine beobachtete Um-welt. Er denkt in Kategorien des ‹Entweder-oder›.Die Vernunft hingegenbekämpftdie Gegensätze, die der Verstand konstruiert.8 Sie denkt die Einheit der Differenz. Der Mensch hat keine Um-welt, sondern er hat an der Welt Anteil. Gegenstand der Vernunft ist nicht nur das Endliche, sondern auch das Unendliche und das Unbedingte.Das Unendliche ist
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 7. Auflage, Frankfurt am Main 2014, 28. (ImFolgenden:Werke 16.)
5 Werke 16, 28.
6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, 12. Auflage, Frankfurt am Main 2017, 53. (ImFolgenden:Werke 12.)
7 Werke 8, §25, 91.
8 Werke 8, §32, 99.
aber nicht das Jenseits des Endlichen, vielmehr ist das Endliche im Unendlichen aufgehoben, d. h. zugleich negiert, infrage gestellt, aberauch aufbewahrt. Hegel nennt die Vernunft deshalb auch «das Vermögen des Unbedingten».9 Die bevorzugte Kategorie der Vernunft ist das «Sowohl-als auch»und das «Zugleich». Hegel scheut sich nicht, die Vernunft als mystisch zu bezeichnen, denn der Mystik sei es von jeher darum gegangen,ander Einheit von Bestimmungen festzuhalten, «welche dem Verstand nur in ihrer Trennungund Entgegensetzung als wahr gelten».10
Hegel lag an einem vernünftigen öffentlichen Gespräch über Gott. Über die Vorstellungen, die sich die Religionsgemeinschaften in ihren Narrativenvon Gott machen, lässtsich freilich schlecht diskutieren;deren Vorhandensein kann man als legitime Ausübungdes Rechts auf Religionsfreiheit nur anerkennen und deren Genese nur nachzeichnen. Darüber hinaus müsste es aber ein öffentliches philosophisches Gespräch über Gott geben, an dem sich die Religionsgemeinschaften nicht konfessorisch, sondern diskursiv beteiligen können. Hegels Gottesbegriff bietet dafür eine gute Grundlage. Gott ist Geist.Ererscheint in subjektiver und in objektiver Gestalt. Also kann man ihn auch denken. Was man denken kann, das kann man anderenauch mitteilen. Das ist allemal besser, als über Gott peinlich berührt zu schweigen.
2. Selbstfindungsprobleme des subjektiven Zeitgeistes
2.1 Barbie oder «What WasI Made For ?»
Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten die Individuen so viele Möglichkeiten der Selbstgestaltung. Aber gerade die Fülle der Möglichkeiten wird zum Problem. Die Fähigkeit, sich für eine Sache zu entscheiden, setzt die Fähigkeit zu Selbstverendlichung voraus. Die vielen Möglichkeiten bleiben leere Träume, wenn man sich nicht ganz auf das einlässt, worin man sich zu finden hofft. Davon erzählt der Film Barbie.Barbie war der international erfolgreichsteKinofilm des Jahres 2023. Der Film erzählt die Geschichte der Menschwerdung der Puppe Barbie.Ein Geschöpf wird sich seiner Selbstwirksamkeit bewusst. Das ist für Zuschauer ein unterhaltsamer, für die Protagonistin selbst ein schmerzhafter Prozess. Wer sich selbst zum Gegenstand seines Denkens macht, lebt im Zustand der Entzweiung. Anders ist Selbstbewusstsein nicht zu erringen. Selbstbewusstsein ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Wer sich seiner selbst bewusst werden will, der muss sich selbst infrage stellen – immer wieder im Laufe seines Lebens. Hat man die eigene Unmittelbarkeit erst einmal negiert, dann stellt sich die noch viel anspruchsvollere Aufgabe der Negation der Negation.Auf die Einsicht, dass
9 Werke 8, §44, 121.
10 Werke 8, §82, 179.
Rolf Schieder war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2018 Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen : Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur (1987), Religion im Radio (1995), Wieviel Religion verträgt Deutschland ? (2001) und Sind Religionen gefährlich ? (2011).
HEGELS GOTT
Die theologischen Passagen in Hegels Werk werden von philosophischen Interpreten gerne überblättert. Doch sie sind integraler Bestandteil der Philosophie Hegels, wie dieses Buch zeigt.
Für Hegel war Philosophie Gottesdienst ; als Philosoph war er immer auch Theologe. Das Buch verfolgt die Entwicklung der Theologie Hegels von ihren Anfängen bis zu ihrer reifen Gestalt in seinen Untersuchungen zum absoluten Geist in der Kunst, der Religion und der Philosophie. Hegels Begriff des Geistes bleibt ohne den Vorstellungshintergrund der christlichen Trinitätslehre opak : Wenn Hegel von Geist spricht, dann denkt er an den Heiligen Geist, der als schöpferische Kraft in, mit und unter den Menschen wirkt. Hegels Gott ist eine Provokation, weil er Gott für einen vernünftigen Gedanken und die « Gottesentsagung » der Aufklärung für einen Irrweg hielt.
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