TeNOR 12: Martin Schacher. Die Evolution des natürlichen Übels

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Die Evolution des natürlichen Übels

Eine historisch-systematische Betrachtung

TeNOR – Text und Normativität

Herausgegeben von Wolfgang W. Müller und Franc Wagner

Die Evolutiondes natürlichen Übels

Eine historisch-systematische Betrachtung

Schwabe Verlag

Die Druckvorstufedieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.

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© 2025 Martin Schacher, veröffentlicht durch Schwabe Verlag,Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Abbildung Umschlag:Ausschnitt (bearbeitet)aus Rembrandt:Aristoteles vor der Büste des Homer, 1653; MetropolitanMuseum of Art, New York

Korrektorat:Julia Müller, Leipzig

Gestaltungskonzept:icona basel gmbh, Basel

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Satz:3w+p, Rimpar

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5248-9

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5249-6

DOI 10.24894/978-3-7965-5249-6

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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4.4 Kritische Würdigung

5.2

6.1 Teilhard de Chardin, Thomasvon Aquin und neuere Ansätze

6.2

Das vorliegende Buch stellt eineleicht überarbeitete Fassung der im Februar 2024 an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern angenommenen Dissertationsschrift dar.

Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach dem Warum leidvoller Phänomene in der Natur, wenn doch die Schöpfung an sich von einem guten Gott ins Dasein gerufen wurde.Durch die Evolution entstanden Tiere, die aus menschlicher Sicht durch ihre Ästhetik bestechen. Es entwickeltensich allerdings auch Überlebensstrategienvon Organismen, die in manchen FällenFressfeinde oder Beutetiere intensiv leidend verenden lassen. Diese Beobachtungen führen zur Frage nach dem Grund für die Beschaffenheit der Natur, wie sie vorliegt. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich aus einer interdisziplinären Perspektive mit dem philosophisch-theologischen Problem des evolutiven Übels, indem sie evolutionsbiologische Theorien der Entstehung von Kooperation in der nichtmenschlichen Natur einbezieht. Sie leistet so einen Beitrag aus der Theologie zum gesamtgesellschaftlichen Naturverständnis.

Die Promotionszeit ist gekennzeichnet durch eine fachliche wie auch persönliche Entwicklung. An diesem Prozess waren verschiedene Personen und Institutionen beteiligt, was Anlass zur Dankbarkeit gibt. An erster Stelle geht mein

Dank an Prof. em. Dr. Wolfgang W. Müller, der die Entstehung der Arbeit engagiert begleitet hat. Seine kritischenAnregungen, Literaturtipps und Hinweiseförderten durch seine profunde Sachkenntnis und unter Gewährung der notwendigen Autonomie den Forschungs- und Schreibprozess. Prof. em. Dr.François Euvé sei ebenfalls herzlich gedankt für seine Begleitung als Zweitbetreuer. Seine Literaturhinweise, fachlichen Anregungen und Erörterungen über Teilhard de Chardin waren ebenfalls bereichernd für die Arbeit. Des Weiterengeht auch Dank an Prof. em. Dr.Wolfgang W. Müller und Prof. Dr. Ursula Schumacherfür das Verfassen der Gutachten.Ursula Schumacher sei ausserdem gedankt für die angenehme Atmosphäre, den fachlichen Austausch und die anregenden Gespräche in der Zeit als Assistenz am Lehrstuhl.

Das Dissertationsprojekt wurde durch den SchweizerischenNationalfonds (SNF)gefördert. Diese Finanzierung ermöglichte das Privileg, sich ganz der Forschung zu widmen, weshalb mein Dank an den SNF geht. Im Besonderen sei auch dem Centre Sèvresgedankt für die Ermöglichung des Forschungsaufenthaltes in Paris.Diese Zeit war nicht nur fachlich, sondern auch persönlich sehr prä-

gend. Spezieller Dank giltauch dem SNF für die Finanzierung dieses Aufenthaltes.

Für die Unterstützung bei der Publikation bedanke ich mich beim SchwabeVerlag, besonders bei Harald S. Liehr und Ruth Vachek. Ihre Expertise ermöglichte einen reibungslosen Ablauf im Publikationsprozess und einekompetente Unterstützung bei der Beantragung der Publikationsfinanzierung. Meinen Dank spreche ich auch Prof. em. Dr. Wolfgang W. Müller aus, für die Bereitschaft, die Arbeit in die Reihe TeNOR (Text und Normativität)aufzunehmen.

Für all die Unterstützung während der Zeit des Verfassens gilt besonderer Dank meiner Familie und meinem Freundeskreis. Im Besonderen geht auch Dank an alle Menschen, die durch ihre Anregungen und Impulse das Forschungsprojekt bereichert haben.

Luzern, September2024

1.1 Leid als Begleiterscheinung evolutiver Phänomene

Der Anblick der Natur kann in regelrechtes Staunen versetzen. Die blühenden Bäume und Wiesen im Frühling, die Farbenpracht des Pfaus oder der traumhafte Sonnenuntergang im Sommer sind Beispiele für ihre Schönheit. Die Natur erfreut den Menschen und dient ihm in vielen Bereichen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Kooperation von Menschen und Delfinen beim Fischfang in der Küstenstadt Laguna in Brasilien. Bei diesem Ereignis treiben die Delfine Schwärme von wandernden Meeräschen in die Küstennähe. Dort warten die Menschen und werfen ihre Netze auf ein Zeichen der Delfine aus. Dank ihrer Hilfe haben die Fischerhöhere Erträge als üblich. Ausserdemprofitieren auch die Delfine von der Kooperation,indem sie ein paar Fische von der Beute für sich abzweigen.1 Dieses eindrückliche Beispielzeigt, wie gut die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Spezies funktionieren kann. Es gibt jedoch auch die andere Seite. Der Mensch ist das Produkt eines evolutiven Überlebenskampfes, der schon seit Anbeginn des Lebens dauert. In diesem ständigen Wettrüsten haben sich zum Teil aus menschlicher Perspektive grauenhaft erscheinende Überlebensstrategien entwickelt. Beispielsweise legt der Streifenkuckuck sein Ei in das Nest einer anderenVogelart. Dort schlüpft das Kuckuckskind und tötet die anderen Jungen. Es ist dafür mit Unter- und Oberkieferhaken ausgestattet.2 Ein anderes Beispiel ist der Grosse Honiganzeiger.Wie sein Name sagt, zeigt dieser Vogel durch sein Flugverhalten und seine Laute anderenSpezies an, wo sich Bienennester befinden. Diese brechen die Nester auf und fressen den Honig. Danach kommt der Honiganzeiger an die Reihe und frisst den restlichen Honig sowie die übrig gebliebenenLarven, die er alleine nicht hätte erreichen können. Diese Form der Kooperation existiert sogar zwischenbesagtem Vogel und dem Menschen.3 Dieser Fall könnte als Musterbeispiel für die Schönheit der Natur durchgehen,

1 Vgl. Cantor, Mauricio;Farine, Damien R.; Daura-Jorge, Fábio G.: Foraging synchrony drives resilience in human-dolphin mutualism, in:PNAS 120, 6(2023), e2207739120.

2 Vgl. Morton, Eugene S.; Farabaugh, Susan M.: Infanticide and other adaptations of the nestling Striped Cuckoo Tapera naevia, in:Ibis 121, 2(1979), S. 212–213.

3 Vgl. Isack, Hussein A.;Reyer,Heinz-Ulrich:Honeyguides andHoney Gatherers. InterspecificCommunication in aSymbiotic Relationship, in:Science243,4896(1989), S. 1343–1346.

hätte der Grosse Honiganzeiger nicht auch ein dunkles Geheimnis. Wie der Kuckuck ist auch er ein Brutparasit. Die Eltern legen ihre Eier in fremde Nester und töten die schon vorhandenen Eier durch Punktierung ab. Falls doch noch ein Vogeljunges schlüpfen sollte, wird dieses vom frisch geschlüpften Honiganzeiger getötet.4 Bei den Insekten lassen sich ebenfalls aus menschlicher Sicht grausame Verhaltensweisen finden. Die Bettwanze ist bekannt als lästige Blutsaugerin, die sich in der Nacht über den Menschen hermacht und gerne als Souvenir aus den Ferien mitgenommen wird. Ihre Fortpflanzung erfolgt durch Gewalt (inder Fachsprache traumatische Insemination genannt). Das Männchen durchstösst dabei die Bauchdecke des Weibchens mit seinen Genitalien und besamt es anschliessend.5 Nicht einmal die Pflanzenwelt zeichnet sich durch reine Harmonie aus. Die Würgefeige beispielsweise macht ihrem Namen alle Ehre. Sie umwächst ihren Wirtsbaum von obenbis unten. Durch ihr Netzwerkwird dieser immer mehr erwürgt, da seine Leitgefässe zunehmend zugeschnürtwerden. Zudem werden seine Blätter durch die gross wachsende Krone der Feige beschattet. Dies führt zu einem langsamen Tod des Wirtsbaumes, der sich über eine lange Zeit hinziehen kann. Das Absterben des Wirtes macht der Feige nach einer gewissen Zeit nichts mehr aus, da sie dann auch ohne den stützenden Baum stehen kann. Auf der anderen Seite kann das Geflecht der Würgefeige ihren Wirtsbaum immerhin bei einem starken Sturm vor der Entwurzelung schützen.6

DieangeführtenBeispielezeigen auf, wie es im Tier- undPflanzenreich von gnadenlos scheinenden Handlungsweisen wimmelt. Es fragtsich, warum in der Natur so oftein Verhalten beobachtet werden kann, das unter Menschen absolut nicht zu tolerieren wäre. Im Horizont desGlaubens an einen Gotterhält dieseAnfrage einen Adressaten.Die Existenz vonRaubtieren, Brutparasiten und würgenden Pflanzenineiner guten Schöpfung istaus menschlicherPerspektive erklärungsbedürftig. Dennoch finden sich auch Synergien, wie am Beispiel desGrossen Honiganzeigers oder der Delfine in Brasilien aufgezeigt. DieSachlagestellt sich nicht so simpel dar, wiesie auf den ersten Blick erscheint. In dieser Arbeit soll das seit der Antikebehandelte Problem des Übels vertieftwerden. DerSchwerpunktliegt auf dem durchdie Evolution verursachtenÜbel, demevolutivenÜbel. Das moralische Übel, dasMenschen verursachen, wird dabei ausgeklammert, da dieses aufgrund seiner Komplexität eine separate Behandlung verdient. DieKernfragedieserArbeit lautet folglich:WennGott gutist,warumhat er dann eine Natur erschaffen, in der sich ein solches Ausmass an Leidund Sterbenentwickeln konnte?

4 Vgl. Spottiswoode, Claire N.; Koorevaar, Jeroen:A stab in the dark. Chick killing by brood parasitic honeyguides, in:Biol. Lett. 8, 2(2012), S. 241–244.

5 Vgl. Stutt, Alastair D.; Siva-Jothy, Michael T.: Traumatic insemination and sexual conflict in the bed bug Cimex lectularius, in:PNAS 98, 10 (2001), S. 5683–5687.

6 Vgl. Richard, Leora S.; Halkin, Sylvia L.: Strangler figs may support their host trees during severe storms, in:Symbiosis 72, 2(2017), S. 153–157.

1.2 Darstellung des

1.2 Darstellung des Problemhorizontes

1.2.1 Die verschiedenen Formen des Übels

Bei der Betrachtung von Phänomenen, die als Übel bezeichnet werden, fällt ihre Vielfalt auf. Was sie alle gemeinsam haben, ist ihre zerstörerische Eigenschaft. Bei der Verübung eines Verbrechens, dem Parasitenbefalleines Tieres oder der Verwüstung ganzer Landstriche durch Erdbeben geschieht immer eineTransformation eines harmonischen Zustands in Chaos, Zerstörung oder Ungerechtigkeit. Es ereignet sich folglich ein Wechsel von moralischer oder natürlicher Ordnung zur Unordnung. Die Ursachen für den Zustandswechsel können vielfältig sein. Sie können demzufolge in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Oftmals wird zwischen dem natürlichen und dem moralischen Übel unterschieden. Die einen Übel werden durch moralische Agenten(Menschen), die anderen durch den Lauf der Natur verursacht. Die Grenze ist nicht immer einfach auszumachen. Komplexe Fälle sind beispielsweise, wenn jemand aufgrund einer neurologischen Erkrankung im Wahn einen anderen Menschen schädigt oder wenn ein Mensch aus Versehen einefremde Spezies in ein anderesÖkosystem einschleppt und dieses dadurch aus dem Gleichgewicht bringt.

Eine andere Kategorie stellt das metaphysische Übel dar. Darunter werden diejenigen Fälle von Übeln gezählt, die durch die Begrenztheit oder auch Unvollkommenheit eines Geschöpfes erzeugt werden. Der Begriffwurde von Gottfried Wilhelm Leibniz geprägt.7

Ein Einwand, der gegenüberentsprechenden Kategorisierungsversuchen erhoben wurde, ist, ob sie das Übel überhaupt adäquat abbildenkönnen.8 Eine klare Einteilungvermag die Realität nämlich nie ganz einzufangen. Ein Phänomen wie das Übel, das nicht gänzlich intellektuell durchdrungen werden kann, ist unmöglich ohne Selbsttäuschung in einen festen Rahmen zu zwingen. Dennochist eine Kategorisierung des Übels eine notwendige Hilfe, um die Reflexion über den

7 Die Dreiteilung des Übels wird oftmals auf Leibniz zurückgeführt, jedoch spricht schon der jüdische Gelehrte Maimonides von drei Kategorien des Übels. Er unterscheidet:1)das Übel, das den Menschen aufgrund der vergänglichen Natur trifft, 2) das Übel, das andere Menschen einem zufügen, 3) das Übel aufgrund der eigenen Taten;vgl. Maimonides, Moses:Führer der Unschlüssigen. Bd. II. Übersetzung und Kommentar von Adolf Weiss. Mit einer Einleitung von Johann Maier, Nachdruck, Hamburg 1972, Buch III, 12, hier S. 54–58. Insofern ist es nicht die gleiche Dreiteilung wie bei Leibniz. Es findet sich dennoch schon die Idee des Übels aufgrund der Vergänglichkeit. Zu Leben und Werk dieses bedeutenden jüdischen Gelehrten siehe: Halbertal, Moshe:Maimonides. Life and Thought. Translated from the Hebrew by Joel Linsider, Princeton 2014;Kraemer, Joel L.: Maimonides. The life and world of one of civilization’ s greatest minds, New York 2008.

8 Vgl. Dalferth, Ingolf U.: Die Kontingenz des Bösen, in:Dalferth, Ingolf U.; Lehmann, Karl;Kermani, Navid (Hg.): Das Böse. Drei Annäherungen, Freiburg i. Br. 2011, S. 9–10.

Sachverhalt zu strukturieren. Aufgrund dessen wird in dieser Arbeit das Übel gemäss der ursachenorientierten Unterscheidung kategorisiert. Diese kennt nur das natürliche und das moralische Übel.9

BeidieserDissertationliegt derFokus aufden Übeln, dieaus demProzess der Evolutionentstehen.Sie stelleneineUnterkategoriedes natürlichenÜbels dar. Zu ihnenwerdenjeglichePhänomene gezählt, beiwelchen Lebeweseneinanderschädigenoderdurch dieUmweltSchaden erleiden.Dader SchwerpunktindieserArbeit aufder nichtmenschlichenNaturliegt,wirddie schadensverursachendeRolle desMenschenausgeklammert. EinenSpezialfallstellenNaturkatastrophen dar, die nichtvon Lebewesenverursachtwerden. Dieser Bereichvon Übelnbeeinflusst zwar denLaufder Evolution, istaberimNormalfallkeine direkteFolge desHandelnsvon Lebewesen. DerMenschstellthierbei dieAusnahmedar,daermit seiner Entwicklungdurchausauchdie klimatischen Gegebenheitenauf derErdebeeinflusst undsodie Häufigkeit vonExtremereignissen in derUmweltverändert.Die Naturkatastrophengehören einerseits zurübergeordnetenKategorie dernatürlichen Übel,andererseitsbeeinflussensie denLaufder Evolutionentscheidend. Sie werden in dieser Arbeit jedoch nichtprominentbehandelt

Da sich die vorliegende Arbeit mit der Evolutionund den damit verbundenen Übeln in der Natur beschäftigt, wird jeweils vom evolutiven Übel gesprochen. Dazu werden im Folgenden alle Fälle gezählt, in denen Lebewesen Schäden durch Vorgänge in der Natur oder im Zusammenleben untereinander erleiden. Dazu gehören sowohl die aus Kämpfen unter Artgenossen oder verschiedenen Spezies resultierenden Verletzungen als auch Schäden durch unvorteilhafte Mutationen im eigenen Körper. Da beim Begriff das Böse ein moralischer Unterton mitschwingt, wird in dieser Arbeit insgesamt jeweils vom Übel gesprochen, um eine Verengung auf die moralische Ebene von Anfang an auszuschliessen.

1.2.2 VonVersuchen der Theodizee hin zum Problem desevolutiven Übels

1.2.2.1 Theodizeeversuche

Die Frage nach dem Warum des Übels mag so alt wie die Menschheit sein. Im Erleben von Leid spürt der Mensch,dass etwas da ist, was nicht sein sollte. Der harmonische Lauf des Lebens wird unterbrochen. Gerade im Kontext des Glaubens an einen allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott stellen Erfahrungen von Leid und Übel eine Herausforderung dar. Das Erfahren von Übeln passt scheinbar nicht ins Konzept und muss trotzdem ins Weltbild integriert werden. Dass diese Herausforderung schon die Philosophie der Antike beschäftigte, zeigt

9 Vgl. Kreiner, Armin:Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, erweiterte Neuausgabe, Freiburg i. Br. 2005, S. 27–28.

die viel zitierte Stelle von Epikur, der auf die Frage nach Gott angesichts des Leids in der Welt hinweist. Sie findet sich in den Schriften von Laktanz, welcher Epikur folgendenAusspruch in den Mund legt:«Entweder will Gott die Übel aufheben und kann nicht oder er kann und will nicht oder er will nicht und kann nicht oder er will und kann.»10 Laktanz kommentiert dies folgendermassen:

Wenn er [Gott, M.S.] will und nicht kann, ist er schwach, und das trifft für Gott nicht zu. Wenn er kann und nicht will, ist er neidisch, und das ist ebenso unvereinbar mit Gott. Wenn er nicht kann und nicht will, ist er neidisch und schwach und dementsprechend auch kein Gott. Wenn er aber will und kann, wie das allein angemessen für Gott ist – wo kommen dann die Übel her, und warum hebt er sie nicht auf?11

Die Spannung wird bei Laktanz folgendermassenaufgelöst:Gott will die Übel nicht aufheben, obwohlereskann, weil das Übel eine wichtige Funktion in der Welt hat. Gemäss Laktanz braucht der Mensch nämlich die Weisheit, damit er das Übel meiden kann. Durch die Weisheit erkennt er aber auch Gott und wird dadurch fähig zum ewigen Leben. Wenn es kein Übel gäbe, wäre die Weisheit unnötig für den Menschen und somit würde Gott sie ihm nicht verleihen, was dem Menschen das Gut der Gotteserkenntnis und des ewigen Lebens verunmöglichen würde. Deshalb ist es besser, dass Gott die Übel nicht aufhebt (vgl. De ira dei 13,16–19.23–25).

DerGottesglaube stelltebis ins15. JahrhunderteineunhinterfragteTatsache dar. DerAtheismus warpraktisch eine UnmöglichkeitzudieserZeit.12 Folgtman derArgumentation vonTaylorinseinemWerk EinsäkularesZeitalter,sowurden dieWeichen fürdie Entwicklungzueinem säkularenZeitalter in denJahrenzwischen1450und 1650 gestellt.13 Gemäss Taylor hatsichdas Abendlandineinem

10 «Deus […]aut vult tollere mala et non potest aut potest et non vult aut neque vult neque potest aut et vult et potest»(De ira dei 13,20). Die lateinischen Originaltexte und entsprechende Übersetzungen sind entnommen aus:Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus:Vom Zorne Gottes. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Heinrich Kraft und Antonia Wlosok, 4., unveränderte Auflage, Darmstadt 1983, S. 46–47. Gemäss Dalferth wollte Epikur gar nicht die Existenz eines oder vieler Götter aufgrund der Übel infrage stellen, sondern er kritisierte vielmehr die Praxis, göttliche Hilfe zu erbitten, da sie gemäss dem epikureischen Denken nicht entscheidend für den Lauf der Welt war. Aufgrund dessen konnte man Gott für die Übel nicht verantwortlich machen;vgl. Dalferth, Ingolf U.: Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008, S. 42.

11 «Sivult et non potest, inbecillus est, quod in deum non cadit;sipotest et non vult, invidus, quod aeque alienum est adeo;sineque vult neque potest, et invidus et inbecillus est ideoque nec deus;sietvult et potest, quod solum deo convenit, unde ergo sunt mala aut cur illa non tollit?» (Deira dei 13,21)

12 Vgl. Taylor, Charles:Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, 2. Auflage, Berlin 2020, S. 51.

13 Vgl. ebd., S. 151–159.

Prozess, derschon seit demMittelalter begann,zu einerGesellschaftentwickelt, in derder Glaube an Gott keineSelbstverständlichkeit, sondernnur mehr eine oftmals unbequemeOptionunter vielen ist.14 Dazu kommtnochdie Tatsache,dass seit derAufklärungdie Fragenach einerweniger leidvollen Welt vermehrt in den Mittelpunktder Aufmerksamkeit geratenist.Diese geistesgeschichtlichen Entwicklungen provozierten neue Fragen undforderten Antworten.15 Leibnizprägteden Begriffder Theodizee,womit dasUnterfangen bezeichnet wird,Gottangesichtsdes Leidensinder Welt zu rechtfertigen. Inspiriert durchRöm 3,5kreierteerdie BezeichnungimJahre 1697.16 Jegliche Rechtfertigungsversuchewurdenjedochschon bald kritisiert,z.B.von Kant.17 Ausserdemerschütterten dasErdbebenvon Lissabonund im 20.Jahrhundert dieGräuelvon Auschwitzdie Menschheit durchihr schieres Ausmass an Leid.Das Erdbeben warein natürlichesÜbel, Auschwitzhingegenein moralisches Übel 18 Aufgrund vonsolch gravierenden Ereignissenwirkt es absurd,eineRechtfertigungfür Gottes Handelnversuchen zu wollen. In diesen extremen Fällenvon Leid wird Gott alsscheinbar passiver Beobachter wahrgenommen. WarummüssenLebewesen in derErdgeschichte intensiv leiden?Warum lässtder Schöpfer desgesamtenUniversumseszu, dass durchein Naturereignis aufeinen Schlag eine UnmengeanLeben vernichtetwird? DieseFragenkönnenso

14 Vgl. ebd., S. 13–16. Taylor unterscheidet drei Formen von Säkularität:1)Säkularität 1: das Verschwinden von Gott aus dem Öffentlichen, 2) Säkularität 2: das Verschwinden des religiösen Glaubens und des Praktizierens der Religion, 3) Säkularität 3: der Übergang von einer Gesellschaft, in der der Glaube an Gott eine Selbstverständlichkeit war, zu einer Gesellschaft, in welcher der Glaube nur noch eine von vielen Optionen ist;vgl. ebd. Taylor macht für diese Transformation das Wegbrechen von den drei folgenden gesellschaftlichen Elementen verantwortlich:1)die Vorstellung einer natürlichen Welt, welche die göttlichen Handlungen und Absichten offenbarte, 2) eine von Gott und der Kirche durchdrungene Gesellschaft, in welcher der König auf Gott verwies, 3) eine verzauberte,durch die Vorstellung von Geistern, Dämonen und moralischen Kräften geprägte Welt. Ausserdem haben sich gemäss Taylor Alternativen zu Gott als dem objektiven Ziel des moralischen und spirituellen Strebens, der Fülle,entwickelt, was zur Etablierung des säkularen Zeitalters auch noch beitrug;vgl. ebd., S. 51–53.

15 Vgl. Häring, Hermann:Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Neuauflage, umfassende Neubearbeitung, Darmstadt 1999, S. 130.

16 Vgl. Dalferth, Malum, S. 160. Der Begriff setzt sich aus dem griechischen Wortpaar theós =Gott und díke =Recht, Rechtsstreit zusammen;vgl. Schmidt, Josef:Artikel ‹Theodizee›,in: Brugger, Walter;Schöndorf, Harald (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/München 2010, S. 498.

17 Kant kritisierte die Theodizeeversuche in seinem Traktat ‹Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee›.Siehe dazu:MpVT, AA 08:253–271. Zum Scheitern der Theodizeeversuche siehe auch:Ricœur, Paul:Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, in:ThZ 62, 3(2006), S. 387–388.

18 Vgl. Ammicht-Quinn, Regina:Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage, Freiburg/Freiburg i. Br./Wien 1992, S. 218–219.

drängend werden,dassZweifel an derExistenzGottes aufkommen. Istdies aber auch intellektuell gerechtfertigt?

1.2.2.2 Die logische Vereinbarkeit von Gott und dem Übel in der Welt

Die Frage nach Gott und dem Übel ist Gegenstand philosophischer Debatten. Beim sogenannten Problem des Übels kann zwischender logischen und der probabilistischen Version unterschieden werden. Die logische Version besagt, dass der Glaube an einen Gott angesichtsdes Übels in der Welt widersprüchlich ist. In der probabilistischen Version wird die These vertreten, dass das Ausmass an Übel in der Welt den Glaubenaneinen Gott unwahrscheinlich macht.19

Eine bedeutende Differenzierung in Bezug auf das Problem des Übels lieferte Plantinga. Er vertrat mit Nachdruck, dass es logisch konsistent ist, trotz des Übels in der Welt an einen Gott mit den Prädikaten der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit zu glauben. Plantinga reagierte in seinem 1975 erschienenen Werk God, Freedom and Evil auf die Einwände von Mackie, welcher der Auffassung war, dass der Glaube an einen guten und allmächtigen Gott angesichts des Übels in der Welt inkonsistent sei.20 Plantinga erwiderte, es bestehe kein Widerspruch in der Annahme, dass ein Gott, der allmächtig, allgütig und allwissend sei, zusammen mit dem Übel in der Welt existiere. Das Ganze werde erst dann widersprüchlich, wenn davon ausgegangenwürde, dass es für ihn keine logischen Grenzen gäbe und dass dieser Gott jegliches Übel eliminieren würde und könnte.21 Allerdings könnteesgemäss Plantinga ein Gut geben, welches zwar ein Übel implizierte, dieses dennoch bei Weitem überträfe.WürdeGott das Übel eliminieren, so würde er damit auch das Gut zerstören, was schliesslich ein noch grösseres Übel darstellen würde.22 Aus diesen Gründen könne konkludiert werden, dass es keinen logischen Widerspruch darstelle, angesichts des Übels in der Welt an Gott zu glauben.23

19 Vgl. Peterson, Michael L.: The Problem of Evil, in:Bullivant, Stephen;Ruse, Michael (Hg.): The Oxford Handbook of Atheism, Oxford 2013, S. 71.

20 Mackie behauptete:«In its simplest form the problem is this:God is omnipotent;God is wholly good;and yet evil exists. There seems to be some contradiction between these three propositions, so that if any two of them were true the third would be false. But at the same time all three are essential parts of most theological positions:the theologian, it seems, at once must adhere and cannot consistently adhere to all three», Mackie, John L.: Evil and Omnipotence, in: Mind 64, 254 (1955), S. 200, Hervorhebungen im Original.

21 Vgl. Plantinga, Alvin:God, Freedom and Evil, London 1975, S. 21–22.

22 Vgl. ebd., S. 22. Ein profanes Beispiel für die Rechtfertigung von Leid ist der Zahnarztbesuch. Die schmerzende Behandlung kann sehr unangenehm sein, dennoch ist das daraus resultierende Gut der Gesundheit alle Strapazen wert.

23 Vgl. ebd., S. 24.

Ein andererwesentlicher Aspekt in der Debatte des Problems des Übels besteht gemäss Plantinga in der Unterscheidung zwischen Defense und Theodizee. Es kann nämlichgefragt werden, ob die Existenz eines allmächtigen, allgütigen und allwissendenGottes zusammenmit dem Übel implizit konsistent ist. Dazu, sagt Plantinga, könne eine erweiterte Serie von Aussagen kreiertwerden, bei welcher davon ausgegangen werde, dass ein Gott mit den vorhin genannten Prädikaten existiere und zusätzlich davon ausgegangen werde, dass er eine Welt erschaffe, in der zwar Übel vorkommen würden, er aber einen guten Grund dafür habe, dies zuzulassen. Wenn diese Serie von Aussagen konsistent sei, dann sei auch das Vorhandensein des Übels mit der Existenz Gottes implizit vereinbar.24 Als Theodizee wird nun der Versuch verstanden,den wirklichenGrund anzugeben, warum Gott das Übel zulässt. Plantinga unterscheidetdavon die Defense. Diese versucht nur zu sagen, was Gottes Grund sein könnte. Dieser Grund muss nicht einmal wahr sein, denn es geht ihr lediglich darum, aufzuzeigen, dass die beiden Aussagen implizit miteinander vereinbar sein können. Die Theodizee wäre natürlich befriedigender, aber sie geht über das Benötigte hinaus.25

Mit diesen beiden Beiträgen hat Plantinga die Debatte auf eine neue Ebene gehoben. Es kann, folgt man PlantingasÜberlegungen, davon ausgegangenwerden, dass kein logischer Widerspruch zwischender Existenz Gottes und dem Vorkommen von Übeln in der Welt existiert.Die Defense behauptet nicht, den Grund für das Übel zu kennen, zeigt aberauf, dass es Szenarien gibt, in denen Gott und die Übel positiv vereinbar sind. Diese müssen nicht einmal wahr sein, sondern nur nicht widersprüchlich.Noch besser wäre es natürlich, den wahren Grund für die Zulassung der Übel zu kennen. Das ist im Letzten aber nicht nötig, um den Angriff auf den Theismus abzuwehren. In Erwiderungauf Plantinga musste Mackie einräumen:

Since this defence is formally possible, and its principle involves no real abandonment of our ordinary view of the opposition between good and evil, we can concede that the problem of evil does not, after all, show that the central doctrines of theism are logically inconsistent with one another. But whether this offers areal solution of the problem is another question.26

Wie Peterson im Oxford Handbook of Atheism resümiert, trat das logische Problem des Übels damit in den Hintergrund:«The quest for aconvincing logical argument from evil may continue in some quarters,but it is no longer amajor focus in philosophyofreligion.»27 Deshalb wendete sich der Fokus im Nachgang

24 Vgl. ebd., S. 24–26.

25 Vgl. ebd., S. 28.

26 Mackie, John L.: The Miracle of Theism. Arguments for and against the existence of God, Oxford 1982, S. 154.

27 Peterson, The Problem of Evil, S. 75.

ab vom logischen und hin zum probabilistischen Problem des Übels.28 Eine bekannte Version desselben stammt von Rowe:29

1. There exist instances of intense suffering which an omnipotent, omniscient being could have prevented without thereby losing some greater good or permitting some evil equally bad or worse.

2. An omniscient, wholly good being would prevent the occurrence of any intense suffering it could, unless it could not do so without thereby losing some greater good or permitting some evil equally bad or worse.

3. There does not exist an omnipotent, omniscient, wholly good being.

Diese Version ist herausfordernder für den Theismus. Wie Rowe jedoch ausführt, kann die Wahrheit von Prämisse 1nicht garantiert werden. Der Mensch weiss nicht, ob sie stimmt.30 Aus theistischer Perspektive kann Prämisse 2zugestimmt werden. Prämisse 1und 3können jedoch verneint werden.31 Welche Position auch immer eingenommen wird, die Bürdeliegt auf der atheistischen Seite,zu beweisen,dass es wirklich sinnloses Übel gibt. Dessen Existenz scheint auf den ersten Blick offensichtlich, dennoch müsste zur Beweisführung die Perspektive Gottes eingenommen werden können.Dadies unmöglich ist, bleibtdie Frage offen. Somit muss aus theistischer wie auch atheistischer Position heraus versucht werden, plausible Argumentefür die jeweilige Überzeugungzufinden.

1.2.2.3 Der Neue Atheismus

In den letzten Jahrzehnten kam mit dem Neuen Atheismus eineöffentlichkeitswirksame, religionskritische Bewegung auf. Der Begriffwurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts geprägt und bezeichnet eineatheistische Strömung, mit der vor allem die vier Protagonisten Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris und Christopher Hitchens in Verbindung gebracht werden.32 Die Argumente des Neuen Atheismus sind nicht wirklich neu, vielmehr zeichnen sie sich durch ihre Aggressivität und Verachtung gegenüber der Religion aus.33 Die vier federführen-

28 Vgl. ebd., S. 74.

29 Das nachfolgende Schema wurde nachgebildet aus:Rowe, William L.: The Problem of Evil and Some Varieties of Atheism, in:Am. Philos. Q. 16, 4(1979), S. 336.

30 Vgl. ebd., S. 337.

31 Vgl. ebd., S. 339.

32 Vgl. Zenk, Thomas:New Atheism, in:Bullivant, Stephen;Ruse, Michael (Hg.): The Oxford Handbook of Atheism, Oxford 2013, S. 245.

33 Vgl. Kaufman, Whitley:New Atheism and its critics, in:Philos. Compass 14, 1(2019), e12560.

den Verfechter des Neuen Atheismus erlangten Berühmtheit durch ihre rege Publikationstätigkeit und ihr öffentliches Eintreten für den Atheismus. Der prominenteste unter ihnen ist Dawkins, der sich schon zuvor mit seinen Büchern über die Evolutionsbiologie einen Namen machte.

Im öffentlichen Diskurswirdder Neue Atheismusimmer wieder alsnaturalistischeodernaturwissenschaftliche Kritik an derReligionwahrgenommen.Massgeblichdazubeigetragen hatder Umstand, dass drei derProtagonisten einennaturwissenschaftlichen Hintergrundmitbringen. Dawkinsist Evolutionsbiologe, HarrisNeurowissenschaftler, DennettPhilosoph undKognitionswissenschaftler, währendder 2011 verstorbeneHitchensals einziger einengeisteswissenschaftlichen Hintergrund hatte.34 DerNeueAtheismus konnte sich durchseine laute Stimmungsmache in derbreiten Öffentlichkeit Gehörverschaffen.Das Niveau der Debatteüberdie Existenz Gottes wurdedadurch aber eher gesenktals gehoben.35 EinStein desAnstosses fürden GlaubenanGottist dasProblem desÜbels, insbesondereauchdes evolutionärenÜbels.Dieswurde auch vonden NeuenAtheisten bemerkt. WieDawkins treffend in seinem Weltbild beschreibt:

The total amount of suffering per year in the natural world is beyond all decent contemplation. During the minute that it takes me to compose this sentence, thousands of animals are being eaten alive;many others are running for their lives, whimpering with fear; others are slowly being devoured from within by rasping parasites;thousands of all kinds are dying of starvation, thirst and disease. It must be so. If there ever is atime of plenty, this very fact will automatically lead to an increase in the population until the natural state of starvation and misery is restored. [ ]Ina universe of blind physical forces and genetic replication, some people are going to get hurt, other people are going to get lucky, and you won ’tfind any rhyme or reason in it, nor any justice. The universe we observe has precisely the properties we should expect if there is, at bottom, no design, no purpose, no evil and no good, nothing but blind, pitiless indifference.36

Ausserdemstellt er sich die Frage:«Our consciousness is also raised by the cruelty and wastefulness of natural selection.Predators seem beautifully designed to catch prey animals, while the prey animals seem equally beautifully designed to escape them. Whose side is God on?»37 Damit weist er auf ein aktuellesProblem

34 Vgl. Zenk, New Atheism, S. 246–250, 252.

35 Vgl. Kaufman, New Atheism and its critics, e12560. Für eine Kritik des Neuen Atheismus siehe:Höffe, Otfried:Ist Gott demokratisch?Zum Verhältnis von Demokratie und Religion, Stuttgart 2022, S. 192–195;McGrath, Alister;McGrath, Joanna Collicutt:Der AtheismusWahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, 2. Auflage, Asslar 2008.

36 Dawkins, Richard:River out of Eden. ADarwinian View of Life, London 2015 (Science masters), S. 154–155.

37 Dawkins, Richard:The God Delusion, London 2006, S. 134.

für den Theismus hin. Wenn Gott gut ist, warum hat er dann eine evolutive, durch Leiden geprägteWelt geschaffen?

1.2.2.4 Das Problem des evolutiven Übels

Während in der mittelalterlichen Theologie das Leiden der Tiere noch moralisch bedeutungslos war, änderte sich dies zu Beginn der Frühen Neuzeit. Es gibt gemäss Wiertel zwei Hauptfaktoren, welche die Signifikanz des Leidens der Tiere mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben. Einerseits wurde der Status der Tiere und ihr Leiden in der Frühen Neuzeit bedeutender dank der zunehmenden Haustierhaltung. Dabei gab es nochmals eineVertiefung der bereits bestehenden Beziehung zwischen Mensch und Tier. Andererseits wurden signifikante wissenschaftliche Fortschrittegemacht, die auch zum verstärkten Bewusstsein des Leidens der Tiere beitrugen. Daherkam die Frage nach dem Grund für das Tierleid immer stärker auf.38 Ausserdem wurde durch die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich offensichtlich, was die Lücke zwischen Mensch und Tier nochmals verkleinerte. Mit diesen Einsichten wurde das Leiden der Tiere auch relevantbei der Beschäftigungmit dem Übel innerhalbGottes guter Schöpfung.39 Diese Impulse wurden in der Theologie aufgenommen. Es bildete sich im englischen Sprachraum der Begriffder sogenannten evolutionären Theodizee (evolutionary theodicy)heraus.40 Diese Sparte der Theodizeebeschäftigt sich spezifisch mit dem Leiden der Tiere innerhalb der evolutiven Schöpfung. Auch die vorliegende Arbeit kann in diese Kategorie eingeordnet werden, wobei der Schwerpunkt auf einem vertieften theologischenVerständnis der Natur und somit auch dem Vorkommen evolutiven Übels liegt.

1.3 Ein historischer Überblick über die Entwicklung der Konzepte vom natürlichen

bis zum evolutiven Übel

Im Folgenden wird die Reflexion über das natürliche Übel in der Philosophieund Theologiegeschichte nachgezeichnet, die durch die Zeit hindurch zum Bedenken des evolutionären Übels führte. Der historische Überblick beleuchtet verschiedene Anschauungen von der Antike ausgehend über das Mittelalter bis hin zur Reflexion über das evolutive Übel in der Zeit nach Darwin näher. Die neue-

38 Vgl. Wiertel, Derek Joseph:Classical Theism and the Problem of Animal Suffering, in: Theol. Stud. 78, 3(2017), S. 669–670.

39 Vgl. Keogh, Gary:Reading Richard Dawkins. Atheological dialogue with new atheism, Minneapolis 2014, S. 185–186.

40 Vgl. Southgate, Christopher:The groaning of creation. God, evolution, and the problem of evil, Louisville/London 2008, S. 9.

ren Ansätze aus der heutigen Zeit werden eigens im Kapitel 5vorgestellt. Es wird nachfolgend kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, da vor allem prägende oder bedeutende Entwürfe von Personen der jeweiligen Epoche einbezogen werden. Wo die generelle Konzeption des Übels wichtig für das Verständnis des natürlichen oder evolutiven Übels des Ansatzes ist, wird diese ebenfalls erörtert.

1.3.1 Antike:Von Platon bis Augustinus

In der Antike finden sich schon bei PlatonReflexionen über das Übel, das er in diversen Werken anspricht.41 Im Dialog Gorgias besagt die von Sokrates vorgelegte, provokante These, dass es besser sei, Übel zu erleiden, als Übel zu tun: «Unter den beiden nun, dem Unrechttun und Unrechtleiden, ist das grössere Übel, sagen wir, das Unrechttun, das kleinere das Unrechtleiden»(Gorg. 509c). Insgesamt vertritt Platon die Vorstellung, dass Gott wesentlich gut ist. Darum schlussfolgert er auch, dass Gott nur die Ursache des Guten ist, da das Gute ausschliesslich vom Guten und nicht auch vom Übel entstammen kann (vgl. Pol. 379b–c, 380c). Während das Gute das Erhaltende und Fördernde ist, steht das Übel für allesVerderbende und Zerstörende. Indem Platon das Übel mit Krankheiten, Fäulnis und Rost vergleicht, lässt er die Vorstellung anklingen, dass das Übel eine Korrumpierung ist (vgl. Pol. 608e–609a). Er betrachtet es als etwas Anhaftendes, das seinen Wirt zu zerstörenversucht (vgl. Pol. 609c–d).Inder

41 DieWerke vonPlatonwerdenfolgendermassen abgekürzt: Gorgias= Gorg.; Menon= Men.;Nomoi =Nom.; Parmenides =Parm.;Politeia= Pol.;Protagoras=Prot.;Timaios =Tim.Es wurden folgende Werkausgaben verwendet: Platon:Des Sokrates Apologie,Krition,Euthydemos, Menexenos, Gorgias, Menon. Bearbeitet vonHeinz Hofmann. Griechischer Text vonAlfredCroiset, LouisBodin,MauriceCroiset et LouisMéridier. Deutsche Übersetzungvon FriedrichSchleiermacher,Darmstadt 1973 (Werke in acht Bänden,Griechischund Deutsch/ Platon,Bd. 2);Platon: DerStaat.Bearbeitetvon Dietrich Kurz.Griechischer Text vonÉmile Chambry. Deutsche Übersetzungvon FriedrichSchleiermacher, Darmstadt1970(WerkeinachtBänden,Griechisch undDeutsch /Platon, Bd.4); Platon:Ion,Hippias II,Protagoras, Laches,Charmides,Euhyphron, Lysis, Hippias I, Alkibiades I. Bearbeitet vonHeinz Hofmann. Griechischer Text vonLouis Bodin, Alfred Croiset, MauriceCroiset undLouis Méridier.DeutscheÜbersetzung vonFriedrich Schleiermacher,Darmstadt 1977 (Werke in acht Bänden,Griechischund Deutsch/ Platon,Bd. 1);Platon: GesetzeBuchI-VI. Bearbeitet vonKlaus Schöpsdau. GriechischerTextvon Édouarddes Places. Deutsche Übersetzungvon KlausSchöpsdau,Darmstadt 1977 (Werke in acht Bänden, Griechisch undDeutsch /Platon, Bd.8.1); Platon:Gesetze Buch VII-XII, Minos. Bearbeitet von KlausSchöpsdau.GriechischerTextvon AugusteDièsund Joseph Souilhé. Deutsche Übersetzung vonKlaus Schöpsdauund Hieronymus Müller,Darmstadt 1977 (Werke in acht Bänden,Griechisch undDeutsch /Platon, Bd.8.2); Platon:Phaidros, Parmenides,Briefe. Bearbeitet vonDietrich Kurz.Griechischer Text vonLéonRobin,Auguste Diès undJosephSouilhé.DeutscheÜbersetzungvon FriedrichSchleiermacher undDietrichKurz, Darmstadt1983(Werkeinacht Bänden,Griechischund Deutsch/ Platon,Bd. 5).

Die Evolution des natürlichen Übels

Trotz des vielen Leidens und Sterbens in der evolutiven Entwicklung der Arten ist der Glaube an einen guten Gott rational verantwortbar –zu diesem Schluss kommt Martin Schacher, der sich in diesem Buch mit der Frage nach dem guten Gott bei allem Leiden und Sterben in der Evolution befasst. Er beleuchtet die Entwicklung der theologischen Reflexion über das Übel in der Natur, indem er das Denken von Thomas von Aquin und Teilhard de Chardin mit den zeitgenössischen Ansätzen vergleicht. Dadurch dass er evolutionsbiologische Theorien zur Evolution der Kooperation einbezieht, verbindet er die Theologie mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Es ergeben sich neue Impulse für die theologische Betrachtung der Welt als Schöpfung Gottes.

Martin Schacher hat Chemie an der ETH Zürich und Theologie an der Universität Luzern studiert. Das Theologiestudium ergänzte er mit einer interdisziplinären Doktorarbeit im Bereich Theologie und Naturwissenschaften.

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