Alfred Betschart, Jens Bonnemann (Hg.)
Subjektivität revisited
Subjektivität revisited
Sartre und die (post)moderne Philosophie des Subjekts
Alfred Betschart, Jens Bonnemann (Hg.)
Subjektivität revisited
Sartre und die (post)moderne Philosophie des Subjekts
Schwabe Verlag
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Cover:KathrinStrohschnieder, STROH Design, Oldenburg
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert &Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5250-2
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5251-9
DOI 10.24894/978-3-7965-5251-9
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Jens Bonnemann: Einleitung. ..
Sartre und die Bewusstseinsphilosophie
Andreas Schmidt: Das Sein und das Ich. Fichtes und Sartres inverse Theorien der Freiheit
Christos Kalpakidis: Jenseits von Immunität und Transparenz. Sartre und Wittgenstein über Selbstbewusstsein und Selbstwissen
Sartre und Heidegger
FranziskaNeufeld: Das Selbst als Ursprungoder grundloser Grund?
Sartre und der frühe Heidegger im Vergleich
Katharina Balk: Das Problem des (schlechten)Gewissens als Frage nach dem (un)authentischen Selbst bei Heidegger und Sartre
Sartre und die Sozialphilosophie
Mathias Richter: Praxis und Unterwerfung. Sartres Subjektkonzeption nach dem Humanismusstreit mit Foucault und deren Anschlussfähigkeit für eine kritische Gesellschaftstheorie
Phabio Freiboth: Den Anderennicht sehen wollen. Gleichgültigkeit bei Sartre und Shklar 95
Alfred Betschart: Anerkennung bei Sartre und Honneth. Subjektivität in Existentialismus und Kritischer Theorie
Marcel Siegler: Sartres enaktive Subjektivität im Lichte des agentiellen Realismus 121
Jens Bonnemann: Selbstbewusstsein – Selbsterkenntnis –Selbstverwirklichung. Jean-Paul Sartres Weg zwischen Kierkegaards Subjektivismus und Meads Interaktionismus
Sartre und der französische Poststrukturalismus
Natalie Pfaff: Imagination durch Bilder. Eine Entscheidung für oder gegen das Subjekt:Jean-Paul Sartre und Jean Baudrillard ...
Hans-Martin Schönherr-Mann: Transzendenz und Frau-Werden.
Sartres Philosophie des Widerstands und die nomadische Kriegsmaschine der Schizo-Analyse
Eva-Maria Tschurenev: Intersubjektivität vs. Transsubjektivität.
Versuch, die Dimensionen des Widerstreits zwischen Lyotard und Sartre zu erfassen
Sartre und die zeitgenössische Literatur
Vincent von Wroblewsky: Ich ist ein anderer.
Sartres und Brechts Lob der Alterität.
Personen- und Werkverzeichnis
Jens Bonnemann
Das vorliegende Buch ist ein Sammelband, der im Anschluss an eine Tagungmit dem Titel „Jean-PaulSartres existentialistische Subjektivität – revisited“ zusammengestellt wurde. Die Tagungfand vom 15.–17. September 2023 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena statt und wurde von der Sartre-Gesellschaft in Deutschland e. V. organisiert. Wie auf der Tagung so steht auch im Sammelband die Subjektphilosophie Jean-PaulSartres im Mittelpunkt. Da uns mittlerweile doch einige Jahrzehnte von Sartres Philosophie trennen, stellt sich insbesondere die Frage ihrer Aktualität. Genaugenommen sind es zwei Fragen, zu denen in dieser Einleitung zumindestein paar Worte angebrachtsind:1.Ist Sartres Subjektphilosophie heutzutage noch relevant?2.Ist die Subjektphilosophie das zentrale Thema in Sartres Werk?Bei der zweiten Frage geht es um die Relevanz der Subjektphilosophie innerhalb von Sartres Gesamtwerk, bei der ersten Frage um deren Relevanz für unsere Gegenwartsphilosophie. Da die erste Frage zweifellos eine größere Herausforderung darstellt, möchteich mich zunächst der zweiten Frage zuwenden
Sartre wird heute wohl in erster Linie als Philosoph wahrgenommen, aber bekanntlich hat kaum jemand einevergleichbareVielfalt an Textgenres bedient, denn er ist ebenfalls ein bedeutender Autor von Romanen und Theaterstücken –erinnert sei an seinen Roman DerEkel (1938)sowie an die Dramen Geschlossene Gesellschaft (1943)und Die schmutzigen Hände (1948) –,der außerdem Drehbücher schrieb, die auch tatsächlichverfilmt wurden. Abgesehen von den philosophischen und literarischen Schriften finden sich bei ihm ferner umfangreiche Dichterbiografien und zahlreiche Stellungnahmen und Pamphlete zum politischen Zeitgeschehen.
Angesichtseiner solchen Pluralität von Textgattungen stellt sich die Frage, ob sich ein Kardinalthema findet, das alle diese Schriften miteinander verbindet. Hier muss man nicht lange suchen:Jene Mitte, um die alle diese Schriften kreisen und von der sie alle mehr oder weniger gleich weit entfernt sind, ist die Frage nach dem Subjekt, das anfangs als phänomenologisches Bewusstsein, später als sich handelnd entwerfendes Individuum und schließlich als individuelles Allgemeines zum Leitfaden von Sartres Denken wird.
Über vielesmag man bei Sartre uneinig sein:Man kann sich beispielsweise darüber streiten, ob seine Position in Das Sein und das Nichts idealistisch oder anti-idealistisch ist und wie lange er der Phänomenologie Edmund Husserls oder der Existential-Ontologie Martin Heideggers wirklich treu blieb,von denen er
anfänglich in den höchsten Tönen der Begeisterung sprach.Man kann Zweifel haben, ob sein Denken ab den 1950er Jahren noch das Etikett „existentialistisch“ verdient, ob sein späteres Denken den Cartesianismus der frühen Jahre überwindet, ob Sartre schließlich überhaupt und wenn ja, wie lange und auf welche Weise Marxist war.
Was sich jedoch nicht bezweifeln lässt:Die Frage nach der Stellung des menschlichen Subjekts zwischen Freiheit und Geworfenheitzieht sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk Sartres – und das gilt nicht nur für seine philosophischen Arbeiten, sondern gleichermaßen für seine Romane, Theaterstücke, Drehbücher, Dichterbiografien und politischen Texte. In ihnen beleuchtet er das Thema der Subjektivität unter den verschiedensten Gesichtspunkten. Subjektivität ist allerdings nicht nur Gegenstand theoretischerAuseinandersetzung, auch Sartres literarische Praxis konzentriert sich darauf, vor allem etwa dann, wenn er in seinen Romanen – vornehmlich gilt dies für Der Aufschub (1945), den zweiten Teil der Romantetralogie Die Wege der Freiheit – die Erzähltechnik des stream of consciousness zur Anwendungbringt, welche er von James Joyce, John Dos Passos und Virginia Woolf übernimmt.
Selbst wenn man sich auf die philosophischen Schriften beschränkt,ist das Spektrum schlichtweg imposant, denn es reicht immerhin von der phänomenologischen Bewusstseinsphilosophie der dreißiger Jahre über die phänomenologische Ontologie von Das Sein und das Nichts (1943)bis zur dialektischen Anthropologie in Kritik der dialektischen Vernunft (1960)und der regressivprogressivenIndividualhermeneutik, an der sich Der Idiot der Familie (1971/72) orientiert. So spricht der frühe Sartre über das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein, um von hier aus über das Ego und das Imaginäre nachzudenken und sich anschließend dem einsamen existentialistischen Individuum zuzuwenden, das sich selbst in rückhaltloser Freiheit entwirft. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre begibt sich Sartre dann auf die Suche nach einer Moralphilosophie, mit der begründet werden soll, dass ich meine eigene Freiheit nicht wollen kann, ohne auch die Freiheit meiner Mitmenschen zu wollen. In seinem zweiten Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft analysiert Sartre wiederum die Situation von entfremdeten Individuen, welche sich in Gruppen zusammenschließen, die verschiedene Phasen der Erstarrung bis hin zur Institutionalisierung durchlaufen. Am Ende seines Schaffens steht schließlich die monumentale Flaubert-Studie Der Idiot der Familie mit ihrer Aufgabenstellung nachzuvollziehen, wie der Einzelne zugleich von den gesellschaftlichen Verhältnissen bis in sein Denken und Fühlen konstituiert wird, und wie ihm trotzdem aus dem etwas zu machen gelingt, wozu andere ihn gemacht haben.
Der Frage nach dem Subjekt kommt auch in Sartres engagierten Artikeln zum Zeitgeschehen eine entscheidende Rollezu, in denen sein philosophischer Freiheitsbegriff zum Maßstab der politischen Befreiung wird, und das gilt sogar für seine literatur- bzw. theatertheoretischen Schriften:WennSartre über das
Theater der Gegenwart und die Konzeption von Bertolt Brechtnachdenkt, so geschiehtdies vor dem Hintergrund eines bestimmten Menschenbildes:Wie muss ein Theater beschaffensein, welches den Einzelnen – wie Brecht –,von den objektiven Verhältnissen her begreift, ohne ihn jedoch – diese Gefahr sieht Sartre bei Brecht – darauf zu reduzieren,also ohne den Versuch aufzugeben, diesen Menschen zugleich in seiner Einzigartigkeit zu verstehen.
So wie Sartre Gustave Flaubert sowohl als Objekt wie auch als Subjekt seiner gesellschaftlichen Situation analysiert, so will er auch in seinem eigenen Theater Figuren auf die Bühne bringen – z. B. Götz,Kean oder Nekrassow –, welche zwar immer auch,aufgrund ihrer Freiheit jedoch niemals ausschließlich ein Produkt der sozialen Verhältnisse sind. Aber nicht nur theatertheoretisch, sondern auch in einem allgemeineren Sinne rezeptionsästhetisch schlägt Sartres existentialistisches Menschenbild zu Buche:Für den Theoretiker des literarischen Engagements in Was ist Literatur? (1948)ist die erstrebenswerte Literatur jene, die sich an die Freiheit der Menschen wendet – eine Freiheit, die zugleich ein historisches wie ein individuelles Gesicht hat. Auch hier ist also eine bestimmte Subjektphilosophie, eine bestimmte Anthropologie im Spiel.
Im Anschluss an diese kursorischeÜberblicksskizze lässt sich jedenfalls feststellen:Anders als Bernard-Henri Lévy glaubt,1 begeht der späte Sartre keinesfalls Verrat an seinem frühen Denken, denn so wie der frühe Sartre das Individuum in den Mittelpunkt rückt, so stellt er noch in der Flaubert-Studie Der Idiot der Familie jene große Frage, die im Grunde seine gesamte schriftstellerische Tätigkeit begleitet: „Was kann man heute von einem Menschen wissen?“2 Hier wie da bestätigt sich, was Sartre in seiner Studie über den Schriftsteller Jean Genet programmatisch erklärt: „[I]ch habe die Leidenschaft, die Menschen zu verstehen.“3
Kommen wir nun zur zweiten Frage:Selbst wenn man zugesteht, dass der Schwerpunkt von Sartres gesamter schriftstellerischer Tätigkeit auf der menschlichen Subjektivität liegt, ist ja damit noch nicht geklärt, ob seine Subjektphilosophie noch aktuell ist, ob sie uns immer noch relevante Antworten auf philosophische Fragen der und zur Gegenwart liefert. Sartre ist heute sicherein Außenseiter im philosophischenDiskurs. Dazu ist er allerdings schon zu Lebzeiten geworden, als die Philosophie des 20. Jahrhunderts jenen Paradigmenwechsel vom Subjekt zur Sprache vollzog, der vor allem in der Analytischen Philosophie, der Hermeneutik sowie im Strukturalismus und Poststrukturalismus stattgefunden hat. Bereits bei den gleichaltrigen französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und EmmanuelLévinas ist die Rezeption von Sartres Philosophie eher kritisch – und erst recht gilt das für jene französische Philoso-
1 Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts.
2 Sartre: Der Idiot der Familie 1,S.7
3 Sartre: Saint Genet,S.219.
phengeneration, die auf Sartre, Merleau-Ponty und Lévinas folgt und deren bekanntesteVertreter Michel Foucault, Jacques Derrida,Gilles Deleuze und JeanFrançois Lyotard sind. So richtet sich die berühmte Parole vom Tod des Subjekts ganz genau an Sartres Adresse, kein anderer Philosoph der Gegenwart sprach damals dem Subjekt einevergleichbareRelevanz zu. Sartre steht für ein Denken, von dem diese Autoren sich vehement abgrenzen wollten. Vollzieht diese Philosophengeneration aber tatsächlich einen endgültigen und radikalen Bruch oder lässt sich trotz all dieser expliziten Abwehrgestennicht doch ein untergründiges Fortwirken entdecken?4
Allerdings spielen inzwischen die poststrukturalistischen und postmodernen Positionen innerhalbder Philosophie auch keine großeRolle mehr. Am ehesten lässt sich noch bei den Culture Studies und den GenderStudies von einem anhaltenden Einfluss sprechen, so dass deren Grundgedanken mittlerweile auch in die popkulturellen und tagespolitischen Diskurse eingeflossen sind. Insbesondere gilt dies für das Themader Gleichstellung der Frauen und der ethnisch-kulturellen Minderheiten, das neben den Themen Klimawandel und Migration wohl am meisteninder Öffentlichkeit die Gemüter erhitzt und – wie man immer wieder liest und hört – die Gesellschaft angeblichspaltet.
Im Rahmen der DiskussionumMigration, Gendergerechtigkeit und die Diskriminierung von Minoritäten besteht ein wesentliches Anliegen der so genannten woken Linken darin, jegliche Spielarten eines mehr oder weniger versteckten Essenzialismus aufzudecken und zu bekämpfen. Als Essenzialismus werden üblicherweise Überzeugungen bezeichnet, die davon ausgehen, es gäbe eine Natur des Menschen, der Geschlechter,der Sexualität, der jeweils unterschiedlichen Kulturen – und folglich auch eine wahrhaftrichtige, weil „natürliche“ menschliche Lebensform.
In der Kritik an naturalisierenden Rechtfertigungen des Status quo besteht eine gewisse Komplizenschaft mit dem Existentialismus, der sich ja als ein AntiEssentialismus versteht.Für Sartre „gibt es keine menschliche Natur“,und deswegen ist „der Mensch [ ]nichts als das, wozu er sich macht“ 5 Wenn Sartre zufolge das Wesen, die Identität nicht die einzelnen Taten hervorbringt, sondern umgekehrt die einzelnen Taten erst das Wesen, die Identität erschaffen, dann ist es nicht abwegig, ausgerechnet bei Judith Butler, die eine der einflussreichsten Vordenkerinnen der Woke Culture ist, eine gewisse Nähe zum Existentialismus zu entdecken. Butler selbst würde diese Nähe wahrscheinlich weit von sich weisen. Nichtsdestotrotz finden sich in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter
4 Dass die Frontlinien nicht so eindeutig verlaufen und zahlreiche Überschneidungen zwischen Sartre und den „Postmodernen“ bestehen, ist in der Forschung längst bekannt. Als Beispiele nenne ich Flynn: Sartre, Foucault, and Historical Reason, Volume 1and 2;Farrell Fox: The New Sartre;Kruks: Retrieving Experience;Vogt: Sartres Wieder-Holung.
5 Sartre: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“,S.120–121.
(1991) Formulierungen wie: „[D]ie verschiedenen Akte der Geschlechtsidentität [bringen]überhaupt erst die Idee die Geschlechtsidentität hervor:Ohne diese Akte gäbe es keine Geschlechtsidentität.“6 Der Brückenschlag ist keineswegsan den Haaren herbeigezogen:Mein Sein, so schreibt Sartre, „ist für die andern und für mich selbst eine ‚Vorstellung‘ […], ich kann es nicht sein, ich kann nur spielen, es zu sein“ . 7 Ganz ähnlich heißt es bei Butler, dass die Geschlechtsidentität „eineperformative Leistung“8 sei, der sowohl das Publikum als auch der Schauspieler selbst Glauben schenken.
So wie bei Sartre die Existenz der Essenz geht bei Butler also die Performanz der Identität voraus. Ebenso springt beim Freiheitsverständnis eine Verwandtschaft zwischen beiden Positionen ins Auge. Während der späte Sartre feststellt: „Für uns ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat“9,sogilt für Butler: „Das Subjekt wird von den Regeln, durch die es erzeugt wird, nicht determiniert.“10 Wie weit diese Nähe zwischen Butler und Sartre tatsächlichreicht und inwiefern nicht gerade eine Rückbesinnungsolcher Emanzipationsbewegungen auf Sartre die einseitige Fokussierungauf sprach- und identitätspolitische Strategien vermeiden könnte, kann an dieser Stelle natürlich nicht ausführlich diskutiert werden.
Sieht man einmal von dem gesellschaftspolitischen Streit um den Essenzialismus ab, dann leben wir heute in einer Zeit, in der philosophische Theorien keine Wellen mehr schlagen, in der die postmoderne Parolevom Tod des Subjekts längst ihren Biss verloren hat und selbstbewusstseinsphilosophische Fragen seit Jahrzehnten auch für die angelsächsische Tradition der Analytischen Philosophie kein Tabu mehr darstellen. Das schließt mittlerweile auch Sartre ein:Innerhalb der Philosophy of Mind haben insbesondere Manfred Frankoder Kenneth Williford gezeigt, inwiefern das Sartre-Studium die Auseinandersetzungen um das richtige Verständnis des Bewusstseins bereichern kann.11
Was die Aktualität von Sartres Subjektphilosophie betrifft, so möchte ich es bei diesen Hinweisen belassen, nicht weil ich mich aus der Verantwortung stehlen will, sondern weil ich die Antwort den Autorinnen und Autoren dieses Bandes überlassen möchte, deren Beiträge jeweils auf ganz verschiedene Weise dieser Frage nachgehen.
6 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter,S.205.
7 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.141.
8 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter,S.207.
9 Sartre: Fragen der Methode,S.101.
10 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter,S.213.
11 Repräsentativ hierfür ist der folgende eindrucksvolle Sammelband:Miguens/Preyer/Morando (Hrsg.): Pre-Reflective Consciousness.
DasGrundkonzeptdes Sammelbands folgtdemjenigender Tagung:Die verschiedenen Aufsätze diskutierenSartres Position im Vergleichmit alternativen subjektphilosophischen Ansätzen.Hierbei wird einphilosophiegeschichtlicherBogengeschlagen, dervom DeutschenIdealismuseines Johann Gottlieb Fichte über Martin Heideggerund Ludwig Wittgenstein,den beiden wohl einflussreichsten Philosophendes 20.Jahrhunderts,schließlich über Sozialphilosophenwie George HerbertMead, Jürgen Habermas, Axel Honnethund Judith Shklar bishin zu den expliziten AntipodenSartresreicht,die häufig gegenihreWillenals Postmoderne oder Poststrukturalistenbezeichnetwerden: Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Michel Foucault undJean-François Lyotard. In einemweiterenSinne gehört hierzu auch deragentielleRealismus vonKaren Barad, derenPositionvon Butler und Foucault inspiriert ist. DieGegenüberstellung vonBertoltBrechtund Sartre istder einzigeBeitrag,der sich aufdie Literaturbzw.das Theaterkonzentriert, wobei Brecht natürlichauchselbst „theoretischaktiv“ gewesenist,weswegenseinMenschenbildnicht nureinen literarischen Niederschlaggefundenhat.
Indem Sartres Subjektphilosophie im Verlaufdes Sammelbands in einen Vergleich mit vielfältigen Theorietraditionen und damit in eineVerhältnis zu einer ganzen Bandbreite von Problemfeldern gebracht wird, ergibtsich die Möglichkeit, Sartres Verständnis von Subjektivität aus einer Pluralität von Perspektiven zu betrachten, mit verschiedenartigen Fragestellungen zu beleuchten, auf diese Weise bisher unberücksichtigte Konturen hervortreten zu lassen und die Tragfähigkeit seines Denkens damit ganz unterschiedlichen Belastungsproben auszusetzen.
Abschließend sind noch Worte des Danks angebracht. Herzlichgedankt sei an dieser Stelle der Ernst-Abbe-Stiftung in Jena und der Sartre-Gesellschaft in Deutschland e. V. für die großzügige finanzielle Unterstützungsowie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena für die organisatorische Hilfe und die Zurverfügungstellungder Räumlichkeiten.
Literatur
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991).
Farrell Fox, Nik: The New Sartre:Explorations in Postmodernism (New York/London:Continuum 2003).
Flynn, Thomas R.: Sartre, Foucault, and Historical Reason, Volume 1: Toward an Existentialist Theory of History (Chicago:University of Chicago Press 1997).
Flynn, Thomas R.: Sartre, Foucault, and Historical Reason, Volume 2: APoststructuralist Mapping of History (Chicago:University of Chicago Press 2005).
Kruks, Sonia: Retrieving Experience:Subjectivity and Recognition in Feminist Politics (Ithaca: Cornell University Press 2001).
Lévy, Bernard-Henri: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts (München/Wien:Carl Hanser 2002).
Miguens, Sofia/Preyer, Gerhard/Morando, Clara Bravo (Hrsg.): Pre-Reflective Consciousness. Sartre and Contemporary Philosophy of Mind (London/New York:Routledge 2015).
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Reinbek:Rowohlt 1994).
Sartre, Jean-Paul: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“.In: Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus, Materialismus und Revolution, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis und andere philosophische Essays 1943–1948 (Reinbek:Rowohlt 1994), S. 117–155.
Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. Band 1: Die Konstitution (Reinbek:Rowohlt 1985).
Sartre, Jean-Paul: Fragen der Methode (Reinbek:Rowohlt 1999).
Sartre, Jean-Paul: Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek:Rowohlt 1982).
Vogt, Erik Michael: Sartres Wieder-Holung (Wien:Passagen-Verlag 1995).
Das Sein und das Ich
Fichtes und Sartres inverse Theorien der Freiheit
Andreas Schmidt
The article argues that Fichte and Sartre present two systems that are structurally remarkably similar, but that the positions within both systems are occupied in inverse ways, so that one system is almost the negative image of the other. It is shown that this inversion, despite all the similarities in content, nevertheless entails some important differences betweenFichte and Sartre:Fichte’stheory is idealistic, Sartre’sisrealist;Fichte can derive the relation to values from his first principle, which makes it something that cannot be avoided, whereas for Sartre the relation to values is something ultimately contingent.
1. Einleitung
Es ist bereits des Öfteren bemerkt worden, dass Sartres und FichtesTheorien Gemeinsamkeiten aufweisen;schon Kurt Hübner hat 1956 auf Parallelen hingewiesen.1 Einige Ähnlichkeiten fallen in der Tat ins Auge. Ich erwähne drei.
Erstens:Fichte präsentiert seine Philosophie als eine Philosophie der Freiheit. An Reinhold schreibt er:
Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit, und es kann in ihm diesem nicht widersprochen werden, indem gar kein anderes Ingrediens hineinkommt.2
Als nicht weniger konsequente Philosophie der Freiheit präsentiert aber auch Sartre seine Theorie:
Auf welche Ebene wir uns auch stellen, die einzigen Grenzen, denen eine Freiheit begegnet, findet sie in der Freiheit. So wie das Denken nach Spinoza nur durch das Denken begrenzt werden kann, kann die Freiheit nur durch die Freiheit begrenzt werden.3
1 Hübner: „Fichte, Sartre und der Nihilismus“,S.29–43. Neuere Beiträge zum Verhältnis beider Autoren sind Wildenburg: Ist der Existentialismus ein Idealismus? von 2003, Heumann: Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre von 2009 und Waibel (Hrsg.): Fichte und Sartre über Freiheit,erschienen 2015.
2 Fichte: „Brief vom 8. Januar 1800“.In: Fichte: Gesamtausgabe,III, 2, S. 286.
3 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.904.
Zweitens:Das zu seiner Konkretion entwickelte Ich erweistsich am Ende des theoretischenTeilsder Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Fichtes als in sich widersprüchlich verfasst;esgibt einen
Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt ein[en]Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jetzt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht.4
Auch hierfür gibt es eine Analogie bei Sartre, der betont,dass das Identitätsprinzip nur ein regionalontologisches Prinzip ist5 und gerade nicht gilt für den Bereich dessen, was Sartre das „Fürsichsein“ nennt: „Wir werden sehen, daß sich das Sein des Für-sich im Gegensatz dazu definieren läßt als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.“6
Schließlich, drittens, lehrt die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Fichtes am Ende, dass das Ich in einem unendlichen Streben befangen ist, seinen inneren Widerspruch aufzuheben. Fichte schreibt:
Das Resultat unsrer bisherigen Untersuchungen ist demnach folgendes:die reine in sich selbst zurükgehende Thätigkeit des Ich ist […]ein Streben;und zwar […]ein unendliches Streben.7
Das Ich versucht in diesem Streben, sich das Nicht-Ich anzueignen. Dieser Versuch kann freilich niemals zum Erfolg führen, weil der innere Widerspruch des Ichs zur notwendigen Seinsweise des Ichs gehört:
Hätte es dieses unendliche Streben nicht, so könnte es abermals nicht sich selbst setzen, denn es könnte sich nichts entgegensetzen;eswäre demnach auch kein Ich, und mithin Nichts.8
So ist es auch bei Sartre:Das Fürsichsein besitzt durch seineninneren Widerspruch einen Mangel, den es auszugleichen versucht, indem es danach strebt, sich zu einen „Anundfürsichsein“ zu machen – ein Streben, das freilich vergeblich ist:
4 Fichte: „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“.In: Fichte: Gesamtausgabe,I,2, S. 359.
5 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.42–43.
6 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.42.
7 Fichte: „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“.In: Fichte: Gesamtausgabe,I,2, S. 397.
8 Fichte: „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“.In: Fichte: Gesamtausgabe,I,2, S. 404.
[W]enn es erlaubt ist, ein banales Bild zu gebrauchen, das jedoch meinen Gedanken besser erfassen läßt, so erinnere man sich an den Esel, der einen Karren hinter sich herzieht und eine Mohrrübe erreichen will, die man ans Ende eines an der Deichsel befestigten Stockes gebunden hat. Jeder Versuch des Esels, die Mohrrübe zu schnappen bewirkt, daß sich das ganze Gespann vorwärts bewegt mitsamt der Mohrrübe, die stets im selben Abstand vom Esel bleibt. So laufen wir einem Möglichen nach, das durch eben unser Laufen erscheint, das nichts als unser Laufen ist und sich eben dadurch als unerreichbar definiert. Wir laufen auf uns selbst zu, und wir sind deshalb das Sein, das sich nicht einholen kann.9
Auch hier ist es unmöglich, sich einzuholen, weil die Nichtidentität mit sich wesentlich ist für das Fürsichsein:
Was das Bewußtsein als das Sein erfaßt, auf das hin es sich überschreitet, würde, wenn es bloßes An-sich wäre, mit der Vernichtung des Bewußtseins zusammenfallen. Aber das Bewußtsein überschreitet sich keineswegs auf seine Vernichtung hin, es will sich nicht an der Grenze seiner Überschreitung im Identitäts-An-sich verlieren. Für das Für-sich als solches beansprucht das Für-sich das An-sich-sein.10
Man könnte mit dieser Aufzählung fortfahren:Sartre und Fichte teilen eine ähnliche Kritik an der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins;oder wenn Fichte in Das System der Sittenlehre affirmativ schreibt: „was sich selbst bestimmen sollte, müßte in einer gewissen Rücksicht seyn, ehe es ist;ehe es Eigenschaften, und überhaupt eineNatur hat“11,könnte man als Sartre-Leser hellhörig werden. Aber es soll im Folgenden nicht um Aufzählungen von Ähnlichkeiten gehen.
Es ist mir in diesem Aufsatz auch nicht darum zu tun, eventuellen Einflüssen Fichtes auf Sartre nachzuspüren.Der Name „Fichte“ taucht in Das Sein und das Nichts gar nicht und im Gesamtwerk Sartres nur selten auf – und wenn, dann immer in ganz unspezifischen Kontexten, oft in Aufzählungen von Namen;auch gibteskeine direkten oder indirekten Zitate Fichtes. An einer Stelle in Das Sein und das Nichts ist vom „Nicht-Ich“ die Rede;Sartre führt diesen Begriff aber nicht auf Fichte zurück, sondern nennt ihn einen Ausdruck, „der eine Zeitlang Mode war “12.InLalandes Wörterbuch der Philosophie, das im Wesentlichenzwischen 1902 und 1923 entstand und den zeitgenössischen philosophischen Sprachgebrauch in Frankreich wiedergibt,findet sich denn auch zwar ein kurzer Eintrag „Non-Moi“,aberohne jeden Hinweis auf Fichte.13 Man weiß zwar, dass sich Sartreals einundzwanzigjährigerStudent einige Bücher
9 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.374.
10 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.190.
11 „Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“.In: Fichte: Gesamtausgabe,I,5,S.51.
12 Sartre: Das Sein und das Nichts,S.326.
13 In Lalande: Vocabulaire technique et critique de la philosophie,Bd. 2, S. 688, lesen wir darüber, wenig informativ, nur: „Tout ce qui n ’est pas le moi,enquelque sens que ce soit“ .