Peter Selg. Rudolf Steiner und die Anthroposophie

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Rudolf Steiner und die Anthroposophie

Studien zu Leben und Werk

Rudolf Steiner und die Anthroposophie

Studien zu Leben und Werk

Schwabe Verlag

Herausgegeben vom Ita Wegman Institut für anthroposophische Grundlagenforschung (Arlesheim)und der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft (Goetheanum, Dornach).

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Abbildung Umschlag:Vordergrund:Plakat Vortrag Rudolf Steiner:Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?Bern, 5.4.1923 (Rudolf Steiner Archiv, Dornach)Hintergrund: Rudolf Steiner:Arbeiterbildungsschule Berlin, 1900 (Rudolf Steiner Archiv, Dornach)

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5263-2

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5264-9

DOI 10.24894/978-3-7965-5264-9

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Gibt es in der Welt Individualität, die es nicht bloß ist in der Abgrenzung gegen andre Individualität und also schon deswegen grundsätzlich vergänglich ist, weil sie den Grund ihrer Gestalt nicht in sich hat, sondern außer sich, oder mit anderen Worten: weil sie sich nicht selber begrenzt?

Gibt es Individualität, die sich selber begrenzt, ihreGröße und Gestalt aus sich selber bestimmt und von den andern nur gehemmt, nicht bestimmt werden kann?

Es gibt solche Individualität inmittender Welt, verstreutund nicht überall und streng abzusondern, aber es gibt sie, und ihreersten Anfänge sind so alt wie die Schöpfung selbst,–ihr Name ist:Leben.

FranzRosenzweig (1921)

2.1 Im

2.2

(Nachrufe,1925).

2.3 Der Untergang des Abendlands?Das Jahr 1920 und die Auseinandersetzung mit Oswald

2.4 Die Eröffnung des Goetheanum.

Aufbruch und Diffamierung

2.5 Über thomistische Philosophie. Dornach, Pfingsten

2.6 Im Schatten des Rechtsextremismus. Letzte Vortragstourneen durch Deutschland (1922).

2.7

2.8

2.9

2.10 Anthroposophie, Antisemitismus und Zionismus

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

«Was für eine Philosophie manwähle,hängt […]davon ab, was für einMensch man ist»,betonte Johann Gottlieb Fichte in seiner «Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre»1 .

Obwohl verschiedene anthroposophische Wissenschaftsansätze und Arbeitsinitiativen des 20. Jahrhunderts, darunter die Waldorfschulen, heilpädagogischen Heime, die Demeter-Höfe und die Klinikenund Praxen der Anthroposophischen Medizin in der Bevölkerung geschätzt werden, inzwischen weltweit in allenKulturen verbreitet sind und selbst in der Anthroposophie-kritischen Literatur eine relative Anerkennung finden,ist das Bild Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit überwiegend negativ konnotiert, insbesondere in Deutschland.2 In den deutschsprachigen Medien gilt Steiner seit Jahren unisono als «Nationalist», «Rassist» und «radikaler Antisemit».3 Wesentlich detailliertere Darstellungen, die ihm unter anderem ein zeit- wie werkgeschichtlich bemerkenswertes Engagement gegen Nationalismus,Rassismus, Antisemitismus und alle Formen der gesellschaftlichen Ausgrenzung bescheinigen, werden in den Leitmedien kaum zur Kenntnis genommen 4 Ebenso wenig wird zur Kenntnis genommen, dass Steiner nach seinem Tod in einem Nachruf von jüdischer Seite für sein Engagement gegen den Antisemitismus ausdrücklich gedankt wurde – «all diese Schriften [Steiners gegen den Antisemitismus]zeugen von ausserordentlicher Sachkenntnis, feinstem Mitgefühl und einer Noblesse des Tones», stand in einem Nachruf einer in

1 J. G. Fichte:Wissenschaftslehre, 1797, S. 18.

2 Vgl. z. B. die weitgehend satirisch-polemischen «Biografien»Steiners, die 2011, zum 150. Geburtstag, bei Piper und der DVA erschienen:H.Zander:Steiner, 2011;M.Gebhardt: Steiner, 2011.

3 Vgl. u. a. A. Sebastiani:Anthroposophie, 2019.

4 Vgl. u. a. C. Kaliks, P. Selg, U. Levy, I. Ben Aharon:Antisemitismus. 2023;C.Kaliks, P. Selg, J. Wittich, G. Häfner:Rassismus und Anthroposophie, 2021;P.Selg:Rassismus-Vorwurf, 2020;R.Brüll, J. Heisterkamp:Rassismus, 2018;A.Hüttig (Hg.): Kontroversen, 2017;R.Rose: Evolution, 2016;D.Hardorp:Rassebegriffe, 2012;U.Werner:Individuum, 2011;T.A.van Baarda (Hg.): Bericht, 2009;M.Leist, L. Ravagli, H.-J. Bader:Antisemitismusvorwurf, 2001;W M. Götte:Individualismus, 1995.

Deutschland weitverbreiteten jüdischenZeitschrift.5 Steiner sei Zeit seines Lebens ein «vorurteilsfreier Mensch»und deswegen «von den Antisemiten aller Schattierungen gehasst wie nur ein Rassejude und ‹Judengenosse› gehasstworden ist».6

Es ist selbstverständlich möglich, einzelne Aspekte der praktischen Anthroposophie – wie die Prinzipien der Waldorfpädagogik oder der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, die immunologische Wirksamkeit des Mistelpräparates oder die Kunsttherapie bei somatischen wie psychiatrischen Krankheiten – als solche aufzugreifen und ihnen eine Bedeutung jenseits der anthroposophischen Geisteswissenschaft zuzubilligen;Steiner selbst legte großen Wert darauf, dass die von ihm aufgewiesenen Inhalte und Verfahrensweisen losgelöst von seiner Person diskutiert werden sollten. Zugleich besitzt wohl noch immer Gültigkeit, was ein russischerKorrespondentder «Börsen-Zeitung»imMärz 1922 über den anthroposophischen Hochschulkurs schrieb, der – mit zahlreichenVorträgen Steiners und seiner Mitarbeiter – an der BerlinerSingakademie stattfand:«Um das Werk gerecht zu beurteilen, muss man es von seinem Schöpfer loslösen, man darf es jedoch erst tun, wenn man sicher ist, aus der Erkenntnis der Natur des Erzeugers den Geist des Erzeugnisses begriffen zu haben.»7 Diese «Erkenntnis der Natur des Erzeugers», d. h. das Verständnis des Geisteswissenschaftlers Rudolf Steiner, war und ist insofern der zentrale Angriffspunkt kritischerPolemiken gegen die Anthroposophie, die nicht erst 2011 Einzug in die öffentliche Auseinandersetzung hielten, sondern einelange, mittlerweile gut erforschte Vorgeschichte haben – mit einer in gewissen Zeitabständen ständig wiederkehrenden Zahl verwandter Argumente und Argumentationslinien.8 Dabei ist offensichtlich, dass weder die Biografie noch das Werk Steiners leicht verständlich sind;9 sie werfen im Gegenteil eine Vielzahl von komplizierten Fragen nach der anthroposophischen Erkenntnismethodik und nach Steiners Entwicklung, aberauch nach seiner Rezeption auf, und dies inner- und außerhalb anthroposophischer Zusammenhänge. Darüber hinaus ist und bleibt es für die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion der Anthroposophie erschwerend, dass Steiners Aussagen und Anregungen zu einzelnen Wissenschaftsgebieten, aber auch zu Fragen des politischen, sozialen, künstlerischen und religiösen Le-

5 Nachruf auf R. Steiner, «Israelitisches Familienblatt», 8. 4. 1925. Zit. n. W.G. Vögele (Hg.): Nachrufe, 2024, S. 164. Vgl. a. Kap. 2.1.

6 Ebd.

7 Zit. n. W. G. Vögele (Hg.): Steiner, 2005, S. 265.

8 Vgl. u. a. L. Ravagli:Polemischer Diskurs, 2014.

9 Zur Biografie und Werkentwicklung vgl. u. a. G. Wachsmuth:Steiner, 1951;E.Bock: Steiner, 1961;J.Hemleben:Steiner, 1963;C.Lindenberg:Steiner, 1992;C.Lindenberg:Biographie, 1997;W.Beck:Steiner, 1997;B.Callegaro:Steiner, 2011;P.Selg:Lebens- und Werkgeschichte, 2012/2017;M.M.Sam:Kindheit und Jugend, 2018;K.Skagen:Berliner Jahre, 2020; M. M. Sam:Wiener Jahre, 2021.

bens ganz überwiegend nicht in Schriftform, sondern in mitstenografierten Vorträgen erfolgten, deren Lektüre nicht einfach und deren Kontext – unter Einschluss der Vorfragen, der Vorbildung und des Verständnishorizonts der Zuhörer10 – bis heute nur unzulänglicherschlossen ist.11 Eine systematische Erfassung und Kommentierungvon Steiners Forschungsergebnissen in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten wurde bisher nur für einen kleinen Teil seines Werkes geleistet.12

Ein Anlass, Rudolf Steiner deswegenimakademischen wie gesellschaftlichen Leben nicht ernst zu nehmen, besteht gleichwohl nicht, und die Wissenschafts- und Kulturgeschichte kenntzahlreiche Beispiele innovativerBeiträge und Initiativen, die nicht in Form von konsistenten Lehrbüchern oder SystemAusarbeitungenerfolgten. Das wohl prominenteste Beispielinnerhalb der europäischen Wissenschaftsgeschichte ist kein geringerer als Aristoteles, dessen erhalten gebliebene Vorlesungsmanuskripte die Geistes-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes veränderten, wenn auch erst mit einer Latenz von mehr als 1000 Jahren. Die Mehrzahl der Schriften, die von Aristoteles, dem Schüler und Akademie-Nachfolger Platons, zu Lebzeiten veröffentlicht wurden (neunzehn an der Zahl), galtenbald nach seinem Tod als verschollen.Sowaren es schließlich in erster Linie seine Vorlesungsmanuskripte, deren Publikation 350 Jahre nach seinem Tod durch Andronikos von Rhodos in Rom gelang,die in so vielseitigerund tiefgreifender Weise die weitere abendländische Wissenschaftsentwicklung beförderten.13

Im Unterschied zur Rezeptionslage antiker Wissenschaftsansätze aber steht die Gegenwart dem Leben und LebenswerkRudolf Steiners zeitlich noch nahe;

10 «Diese mündlichen Vorträge sind naturgemäß weniger argumentativ stringent und systematisch, sondern eher situativ, anschaulich, beispielhaft, metaphorisch und künstlerisch komponiert, die jeweilige Zuhörerschaft sowohl atmosphärisch als auch inhaltlich einbeziehend und mitberücksichtigend.» J. Schieren (Hg.): Anthroposophie, 2022.

11 Vgl. exemplarisch zu Steiners erstem Kurs vor Medizinern P. Selg, P. Barna:Vorgeschichte, 2020 (incl. Kurzviten, Dissertationsthemen und eingereichten Fragen der Hörerinnen und Hörer)und P. Heusser, J. Weinzirl, T. Scheffers, R. Ebersbach:Erläuterungen, 2020 und 2022; vgl. a. die Anmerkungsapparate der Neuausgaben des Landwirtschaftlichen Kurses (R.Steiner: GA 327, 92022, S. 239–476)und des Heilpädagogischen Kurses (R.Steiner:GA317, 92024, S. 213–462). Zu den Grundlagen und zur Hermeneutik des Heilpädagogischen Kurses R. Steiners vgl. a. J. Göschel, R. Grimm (Hg.): Beiträge, 2024.

12 Diese Aufarbeitung hat jedoch zu Beginn des 21. Jahrhundert mit Nachdruck begonnen. Vgl. zu einzelnen Wissenschaftsgebieten u. a. die Bände der Buchreihe «Rudolf Steiner:Quellentexte für die Wissenschaften». Hg. v. G. Herrmann und W. Kugler. Bisher vorliegend G. Herrmann (Hg.): Quellen für Rechtsleben, Bd. 1, 2000;J.Kiersch (Hg.): Texte zur Pädagogik, Bd. 2, 2004;P.Selg (Hg.): Physiologische Menschenkunde, Bd. 3, 2004;P.Selg (Hg.): Pathologie und Therapie, Bd. 4, 2004. Zum ersten Lehrerkurs Steiners vgl. a. S. Leber:Kommentar, 3 Bde., 2002.

13 Vgl. u. a. I. Düring:Aristoteles, 1966.

die Gesamtausgabe von Steiners sämtlichen Schriften, Vorträgen, Briefen und Notizen (mit aktuell über 440 Bänden)ist noch nicht abgeschlossen. Auch ist es in Steiners Fall, aufgrund der relativen zeitlichen Nähe und einer umfangreichen biografischen und Erinnerungsliteratur, möglich, die Frage nach dem wissenschaftlich, künstlerisch und sozial Gemeinten und Erstrebten, dem eigentlich Intendierten,zustellen. So anspruchsvoll eine solche Betrachtungsart ist, so notwendig erscheint sie gerade für die Würdigung und Einordnung dieses außergewöhnlichen Lebenswerkes. Macht doch jede nähere Beschäftigungund Auseinandersetzung mit ihm werkimmanent deutlich, dass hier noch weitaus mehr und anderesveranlagt und gewollt worden war, als bis heute sichtbare Gestalt annahm – auch wenn die Fachkonferenzen am Dornacher Goetheanum (als einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft) zur Anthroposophischen Medizin, Landwirtschaft, Naturwissenschaft, Kunst, Pädagogik, Heilpädagogik und inklusiver sozialer Entwicklung mit bis zu 1000 Teilnehmenden aus allen Kontinenten ein sichtbares Zeugnis für die prinzipielle Fruchtbarkeit des methodischen Ansatzes sowie von Steiners Hochschulkonzeption ablegen.14

Will man versuchen, Rudolf Steiner zu verstehen, ohne lediglich bereits bestehende Vor-Urteile auf ihn zu projizieren und sekundär zu bestätigen,15 so ist nicht nur das von Bedeutung, was ihm in seinerArbeitsvita unter den gegebenen Umständen gelang, sondern auch die Gestalt des bis heute Offenen, aber konzeptionell Veranlagten. Es kann in diesem Zusammenhang von Interesse sein, dass Steiner eineinviertel Jahre vor seinem Tod, innerhalb einer großen Dornacher Tagung, die anthroposophische Naturwissenschaftlerin Lilly Kolisko ihre empirischen Forschungsergebnisse vorstellen ließ16 und im Anschluss an ihre Demonstration zu den Zuhörern sagte:

Sie haben gesehen, dass im Stillen an den wissenschaftlichen Problemen bei uns gearbeitet wird und dass es schon möglich ist, aus der anthroposophischen Forschung heraus die Wissenschaft anzuregen in dem Sinne, in dem sie wirklich heute eine Anregung braucht. Allein, solche Dinge sind ja in der Gegenwart, ich meine in der Gegenwart der anthroposophischen Bewegung, wirklich nur möglich dadurch, dass so hingebungsvolle, auf die Sache in einer so selbstlosen Weise eingehende Mitarbeiter da sind, wie es z. B. Frau Dr. Kolisko ist. Denn Sie werden sich vielleicht im Laufe der Zeit, wenn Sie nachdenken über die Sache, eine Vorstellung machen können, welche ungeheure Arbeit notwendig ist, um alle diese aufeinanderfolgenden einzelnen Daten festzustellen, die dann sich in der über-

14 Vgl. dagegen die Situation am Lebensende Steiners, als diese Entwicklung noch nicht absehbar war und die Nachrufe das baldige oder bereits eingetretene Ende der diesbezüglichen Bemühungen proklamierten;s.Kap. 2.1.

15 «Sie müssen mich fragen und nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen», schrieb der Philosoph Johann Georg Hamann, der «Magus des Nordens», Ende Dezember 1795 an Immanuel Kant, der sich als Rationalist schwer mit Hamanns Schriften tat. J. G. Hamann:Briefe, 1988, S. 35.

16 Zu Koliskos Forschungsprogramm und Ergebnissen vgl. S. Turunen:Lilly Kolisko, 2024.

schaulichen Kurve finden, die das Resultat, das man braucht, geben. – Aber diese Versuche alle, sie sind im Grunde genommen gerade vor dem anthroposophischen Blicke Einzelheiten zu einer Gesamtheit, zu einer Gesamtheit, die eigentlich heute wissenschaftlich so dringend wie möglich gebraucht wird. Und wenn unsere Arbeit so fortgeht, wie sie bisher geleistet worden ist in unserem Forschungsinstitut, dann werden wir vielleicht in fünfzig, fünfundsiebzig Jahren zu demjenigen kommen, zu dem eigentlich gekommen werden muss:dass sich viele Einzelheiten zu einer Gesamtheit verbinden. Diese Gesamtheit wird dann von einer großen Tragweite sein nicht nur für das Erkenntnisleben, sondern für das gesamte praktische Leben. – Man hat gar keine Vorstellung heute, wie tief in alles praktische Leben diese Dinge eingreifen können, eingreifen können in die Erzeugung von den Menschen notwendigen Produkten, eingreifen können aber namentlich in die Heilmethode und Ähnliches. – Nun können Sie ja sagen:Die Fortschritte der Menschheit sind immer langsam vonstatten gegangen, und es wird ja auch auf diesem Gebiete nicht anders sein. – Es könnte aber sehr gut sein, dass bei der gegenwärtigen Bröckligkeit, Zerstörbarkeit der gegenwärtigen Zivilisation mit den fünfzig und fünfundsiebzig Jahren nicht der Anschluss gefunden würde, um noch dasjenige zu leisten, was unbedingt geleistet werden muss.17

Es ging bei den Forschungsarbeiten Lilly Koliskos u. a. um den Nachweis der Wirksamkeit homöopathischer Substanzen und um die Gewinnung von sensitiven Methoden zur Darstellung von Lebensprozessen und ‐kräften unter verschiedenen Bedingungen. Steiner, der diese empirischen Arbeiten im Anschluss an Fragestellungen und Themen seiner Ärzte-, Naturwissenschafts-und Landwirtschafts-Vorträge seit 1920 aufmerksam begleitetund gefördert hatte, wies in den zitierten Sätzen auf die notwendige Forschungsaktivität und ‐dynamik hin. Er spannte den Bogen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und war sich der labilen politisch-ökonomischen wie gesellschaftlich-ökologischen Situation bewusst.

Die Arbeitenim«Biologischen Institut am Goetheanum»(mit Sitz in Stuttgart)konnten in den Jahrzehnten nach Steiners Tod nur bedingt fortgeführt werden, auch wenn die Ausnahmewissenschaftlerin Lilly Kolisko unermüdlich weiter forschte und publizierte. Die Gründe dafür waren vielfältig.18 Evidentist jedoch, dass die Anthroposophie und die mit ihr veranlagte Wissenschaftsentwicklung und ‐förderung in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts nicht auf jenem Niveau und bei jenen umfassendenErgebnissen angelangt sind, die Rudolf Steiner erhoffte.19 Man kann dies der Anthroposophie und Steiner zum Vorwurf machen und auf das vorhandene Missverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit hinweisen, vordergründig zu Recht. Offensichtlich fanden Steiners fachwissen-

17 R. Steiner:GA260, 51994, S. 212.

18 Vgl. S. Turunen:Lilly Kolisko, 2024.

19 Vgl. jedoch zu einzelnen wissenschaftlichen Entwicklungen u. a. P. Heusser, J. Weinzirl: Steiner, 2014 sowie u. a. die methodisch wie inhaltlich wegweisenden wissenschaftliche Ausarbeitungen von B. Furst:Autonomie der Blutbewegung, 2020, und F. Edelhäuser:Bewegungslehre, 2022.

schaftliche Ansätze bis heute nur bedingt jene Ausarbeitungen durch Forschungsgruppen, die ihm vor Augen standen, aus Mangel an Personal und Ressourcen oder fachimmanentenGründen. Auf der anderenSeite sind 100 Jahre in der Wissenschaftsgeschichte und in der Verwirklichung konzeptionell neuer Ansätze keine sehr lange Zeit, wenn man bedenkt, welche Zeiträume die schrittweise Umsetzungdes neuen naturwissenschaftlichen Ansatzes ab dem ca. 15. Jahrhundert in Anspruch nahm.20 Auch zeigt die Beschäftigungmit Steiners Vita, wie erschwert seine Arbeit und die seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter den gegebenen Zeitumständen tatsächlichwar. Steiners Leben war eine mitteleuropäischeBiografie an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, auch an der Wende zum «totalitären Zeitalter»,21 das das Wirken der staatsfreien Waldorfschulen, der heilpädagogischen Institute anthroposophischer Ausrichtung, aber auch der anthroposophischen Medizin, Naturwissenschaft und Landwirtschaft bald nach Steiners Tod – und damit bereits in der erstenPhase ihrer Entwicklung – außerordentlich komplizierten. Adolf Hitler, Alfred Rosenberg und Erich Ludendorff hatten bereits 1921/22 aggressiv gegen Rudolf Steiner geschrieben und die Brandzerstörung des Dornacher Goetheanums war ebenso wie das versuchte Attentat auf Steiner im Mai 1922 in München mit ein Werk rechtsnationaler, «völkischer»und antisemitischer Kräfte. Im November 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft durch Reinhard Heydrich im gesamtenDeutschen Reich verboten;Anthroposophen wurden überwacht,Werke Steiners konfisziert und als «schädliches und unerwünschtes Schrifttum»verboten. In verschiedenen Berichten des Sicherheitsdienstes (SD) der SS wurde beschrieben, dass Steiner und die Anthroposophie dem Nationalsozialismus unvereinbar gegenüberstünden;kritisiert wurdeninallen SD-Darstellungen die jüdischen Kontakte Steiners, die Besetzung leitender Positionen der Anthroposophischen Gesellschaft durch Juden und die Ablehnungjeglichen nationalstaatlichen, rassischen und antisemitischen Denkens. «[…]die Anthroposophie löst den Geist aus seiner Verbindung mit der Rasse und dem Volk und verdammt das Rassische und Völkische in eine niedere Sphäre der Primitivität, des Instinkts, des durch den Geist zu überwindenden Triebs, der Vorzeitlichkeit.»22 Noch im letzten Bericht des Reichssicherheitshauptamtes stand 1941, nach der Schließung fast aller anthroposophischen Einrichtungen:«Will man die Totalität des weltanschaulichen Denkens gelten lassen und ihre Auswirkung auf die Gesamtmeinung und Haltung des Menschen, so kann nicht angezweifelt werden, dass der Anhänger der Anthroposophie zwangsläufig zum Gegner des Nationalsozialismus werden muss, zum mindesten aberdem Nationalsozialismus fremd bleiben wird.»23 All

20 Vgl. u. a. A. C. Crombie:Emanzipation der Naturwissenschaften, 1977.

21 Vgl. u. a. H. Arendt:Totale Herrschaft, 1986;K.Hornung:Totalitäres Zeitalter, 1993.

22 Z. n. U. Werner:Anthroposophen, 1999, S. 383.

23 Ebd.

dies hinderte die SS freilich nicht daran, die erfolgreichen Methoden der biologisch-dynamischen Landwirtschaft unter strikter Abtrennung von der Anthroposophie auf ihren eigenen DVA-Gütern zum Einsatz zu bringen;24 vergleichbar ging der NS-Pädagogikprofessor Alfred Baeumler vor, der Aspekte der Waldorfpädagogik im Erziehungssystem des «Dritten Reiches»erhalten wollte, ebenfalls unter konsequenter Ablehnung der Anthroposophie,die er zu Recht für individualitätsorientiert, antirassistisch, antivölkisch und anti-«eugenisch» hielt.25 «Die verhängnisvolle Wendung entsteht dadurch, dass Steiner an die Stelle der Vererbungslehre einepositive andere Lehre setzt.Die biologische Lehre wird von ihm nicht nur übersehen, sondern bewusst in ihr Gegenteil verkehrt. Die Anthroposophie ist eines der konsequentesten antibiologischen Systeme, die es gibt.» (Baeumler, 193826 )

Spätestens im Verlauf des Ersten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als er die Aufzeichnungen Helmuth von Moltkes über den Kriegsausbruchzupublizieren versuchte und für die «soziale Dreigliederung», d. h. für die Überwindung des klassischen Nationalstaates zugunsten autonomer Bereiche des geistigen, rechtlichen und ökonomischen Lebens einzutreten begann, war Rudolf Steiner ein politisches Ärgernis in Deutschland geworden. Die Aversionen gegen ihn und die Anthroposophie nahmen ein beträchtliches Ausmaß an und schädigten auch die wissenschaftliche Reputation Steiners als eines Menschen, der als «schizophren»bezeichnet und dessen Werk hämischkommentiert und weitgehend entstellt,jakarikiert wiedergegebenwurde.27 «Esist selbstverständlich nicht schwierig, einen Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben […].» (Steiner)28

Die Ablehnung Rudolf Steiners war und ist auch innerhalb akademischer Zusammenhänge einfach, da sein Erkenntnisweg und seine Forschungsresultate zu jenem Bereich gehören, den Thomas S. Kuhn in seinem wegweisenden Werk über die «Struktur wissenschaftlicher Revolutionen»als «außerordentliche Wissenschaft»beschrieb, die vom herrschenden Paradigma zurückgewiesen wird.29 Kuhn gelang es bekanntlich im Anschlussanden polnischen Bakteriologen Ludwik Fleckund dessen wegweisende Studie «Entstehung und Entwicklungeiner

24 Vgl. J. Ebert, S. zur Nieden, M. Pieschel:Demeter NS-Zeit, 2024.

25 Vgl. P. Selg:Schließung, 2019.

26 A. Baeumler:Gutachten, 22. 10. 1938. Kapitel 5: «Steiners Methode». Zit. n. U. Werner: Anthroposophen, 1999, S. 401.

27 Vgl. u. a. L. Werbeck:Gegner, 2Bde., 1924. Zur systematischen Entstellung von Aussagen und methodischen Ansätzen Steiners bis heute, auch in akademisch positionierten Arbeiten, vgl. u. a. die Kritik von H. Zanders Habilitationsschrift über die Anthroposophie:L.Ravagli: Erzählungen, 2007;K.Swassjan:Anthroposophie, 2007;R.Uhlenhoff:Anthroposophie, 2011; H. Niederhäuser:Wahrheit und Unwahrheit, 2013;P.Selg:Steiner, 2020, S. 193–210.

28 R. Steiner:GA21, 31983, S. 54. Vgl. a. Kap. 2.1 und Kap. 2.6.

29 Vgl. Th. S. Kuhn:Struktur, 1967.

wissenschaftlichen Tatsache – Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv»(1935)30,herauszuarbeiten, wie die Beharrungskräfte im wissenschaftlichen «Mainstream»wirken und welche Machtfragen realiter mit der Marginalisierung und Abwertung ungewöhnlicher Wissenschaftsbeiträge verbunden sind («Die normale Wissenschaft unterdrückt […]oft fundamentale Neuerungen, weil diese notwendigerweise ihre Grundpositionen erschüttern.»31)Interessiert man sich für den größeren Kontext der Diffamierung Rudolf Steiners und seines Werkes, die seine Lebens- und Werkintentionen nicht selten gezielt verfremdet und verdeckt, d. h. überhaupt nicht zur Sichtbarkeit gelangen lässt, so ist dieser gesamte Komplex notwendig mit zu berücksichtigen.

Darüber hinaus gilt es, sich klarzumachen, dass Steiners Werk – in dessen Zentrum der Begriff der menschlichen Individualität steht – nicht nur konträr zu einem Zeitalter der totalitären Utopien lag, sondern auch zur technologischen Manipulation der Natur- und Biosphäre, die die «Lebensmöglichkeitender modernen Menschheit»32 massiv bedroht. Für eineLebensforschung wie diejenige Lilly Koliskos, ja für das ganze «holistische» Forschungsprogramm Steiners, gab es bis 1925 und in all den Jahrzehnten seither, die sich dem «technisch Machbaren»und ökonomisch Profitablen verschrieben, nicht nur wenige Fördermittel, sondern ein Übermaß an Ablehnungund Zurückweisung. Mitunter erscheint der permanent wiederholteVorwurf der anthroposophischen «Unwissenschaftlichkeit»als vorgeschobenes Argument einer Auseinandersetzung, die in ihrem Kern wenig mit Wissenschaft zu tun hat. Das «Meinungs- und Empörungsmanagement»(R. Mausfeld)33 gegenüber unerwünschten Positionen, das mit gelenkten Aufmerksamkeits- und Affektmanipulationen arbeitet und eine «Illusion der Informiertheit»erzeugt (Lazarsfeld),34 ist dabei nicht neu;Louis Werbeck, ein Hamburger Philanthrop, der 1924 als erster den Gesamtumfang der aggressiven Publizistik gegen die Anthroposophie in einem zweibändigen Werk analysierte, hatte den Eindruck einer «planmäßigen Bearbeitung des öffentlichen Bewusstseins»,35 ohne dabeijedoch «Verschwörungstheoretiker»zusein. Er war viel eher

30 Vgl. L. Fleck:Denkstil, 1935.

31 Th. S. Kuhn:Struktur, 1967, S. 20. Zu den bestehenden wissenschaftlichen «Grundpositionen»und zu den «fundamentalen Neuerungen»der Anthroposophie vgl. a. M. B. Majorek: Geisteswissenschaft, 2011, 2015.

32 R. Steiner:GA328, 11977, S. 61.

33 R. Mausfeld:Neoliberalismus, 2019, S. 35.

34 Vgl. a. J. Wittich, in T. A. van Baarda (Hg.): Bericht, 2009, S. 131:«Bewusst geht es darum, das [ … ] Image Rudolf Steiners und der Anthroposophie zu beschädigen:Obdazu Satanismus oder vermeintlicher Rassismus, die Vorbereitung des Holocaust, Semitismus oder Antisemitismus oder aber die Mitgliedschaft in einem dekadenten Freimaurer-Orden herhalten muss, ist ganz egal – Hauptsache, es bleibt etwas in der öffentlichen Meinung hängen.» Vgl. dazu a. P. Selg:Rechtsextremismus, 2021, S. 89 ff.

35 L. Werbeck:Gegner, 1924, Bd. 2, S. 110.

der Auffassung, dass Steiners Ansatz grundsätzlich unerwünscht ist – und dies ungeachtetder Tatsache, dass eine globale Systemkrise mit medizinischen, pädagogischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen bereits sichtbar war und Alternativen zur herrschenden Wirtschafts- und Wissenschaftsordnung dringend benötigt, aber von meinungsbildenden Kräfte- und Interessenskoalitionen keineswegs gewollt wurden.

Die zuvorangesprochene Differenz zwischen Anspruch undWirklichkeit –oder besser:Verwirklichung – des anthroposophischen Forschungsansatzes kann vor diesemGesamthintergrund nichtnur Steiner und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternangelastet werden, sondern wirft auch Fragen nach dem Umgangmit außergewöhnlicher Wissenschaft und mit wissenschaftlichen Außenseitern auf, die nichtinÜbereinstimmung mitdem herrschenden Paradigma arbeiten. Es sind dies nicht zuletzt Fragen nach Ökonomie, Macht undGewalt, auch nach Medienmacht und Mediengewalt, nach Weisen der Unterdrückung und derparadigmatischen Abwertung,die noch immerfortbestehen, wiedie Steiner-Biografikdes Jahres 2011 und viele der Folgepublikationen zeigen.«Kaum eine andere intellektuelle Persönlichkeit des frühen zwanzigstenJahrhunderts hat eine so starkeund immernoch zunehmende erziehungs- und lebensreformerische Wirkung entfaltet unddabei eine vergleichsweise so geringeBeachtung in derwissenschaftlichen Öffentlichkeit gefunden wie RudolfSteiner», konzedierte Heiner Ullrich 2011.36 Joseph Weizenbaumschrieb bereits 1973darüber, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse,die den bisherigen Konsens der scientificcommunity in Frage stellen, geschichtlich häufig durchRückfragen an diePerson bzw. durch deren moralische Diskreditierung beantwortet werden.Ohne Namen undohne institutionelle Machtwar und istderjenige,der nicht im Sinne dergängigenParadigmen vorgeht und für ein anderes eintritt,nach Weizenbaum verloren. Wiedestruktivdiese Ausgrenzung wirkt,hat Steiner u. a. am Beispiel dergesellschaftlichen Ächtung des unkonventionellen Vordenkers Paracelsusander Wendevon 15. zum16. Jahrhundert aufgezeigt.37 Allein schondas genauere Studiumvon Paracelsus’ Zeit als Stadtarzt und UniversitätsprofessorinBasel istdiesbezüglich ausgesprochen instruktiv.38

Das Interesse an der Anthroposophie und an der Person Rudolf Steiners ist dennoch – wie auch dasjenige an Paracelsus und seinem medizinischen, naturphilosophischen und theologischen Werk – bis heute nicht verschwunden, sondern, so Ullrich, im Fall Steiners gesamtgesellschaftlich zunehmend, was möglicherweise mit dem Zustand jener Welt zusammenhängt, auf deren schleichende und immer deutlichere Bedrohung die konstruktiven Zivilisationsimpulseder Anthroposophie reagierten und reagieren. «Aufzubauen die Idee vom Menschen,

36 H. Ullrich:Steiner, 2011, S. 9.

37 Zu Steiners Paracelsus-Rezeption vgl. u. a. W. F. Daems:2001 und P. Selg:Paracelsus, 2010.

38 Vgl. u. a. R.-H. Blaser:Paracelsus in Basel, 1979.

Menschenerkenntnis zu liefern»(Steiner)39 – und aus ihr Schlüsse für das gesellschaftliche, soziale und wissenschaftliche Leben zu ziehen –,erscheint in der Gegenwart nicht nur wünschbar, sondern absolut notwendig zu sein. Noch während des Ersten Weltkrieges, der das alte Europa,auch als Ferment der Wissenschafts- und Humanitätsentwicklung,unwiderruflich zerstörte, sagte Rudolf Steiner im Frühjahr 1918 in Ulm:

In dieser gegenwärtigen katastrophalen Zeit erleben wir es in der furchtbarsten Weise, wie es noch nie geschehen ist innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit Dokumenten verfolgt werden kann, dass sich die Menschheit in eine Sackgasse versetzt sieht, in eine wirkliche Sackgasse. Und im Ernste wird sie aus dieser Sackgasse nur herauskommen, wenn sie sich entschließt, zu dem, was physische Kultur ist, auf die die Menschheit so stolz ist, wirklich die geistige Kultur der Erdenseele für unsere Zeit und für die nächste Zukunft, die zu dieser physischen Kultur gehört, hinzuzufügen. – Man mag sich gegen diese Bestrebungen, eine neue Geistigkeit der Erde zu geben, stemmen, so viel man will, die Wahrheit wird sich unter allen Umständen geltend machen müssen. Die Menschheit lebt jetzt in einer furchtbaren Katastrophe drinnen. Wird die Menschheit sich nicht dazu entschließen, die hier gemeinte neue Geistigkeit wirklich sich einzufügen, dann werden in immer neuen Perioden, vielleicht in recht kurzen Perioden, diese Katastrophen immer wiederkehren. Mit den Mitteln, die die Menschheit schon gekannt hat, bevor diese Katastrophe ausgebrochen ist, wird diese Katastrophe und alle ihre Folgen niemals geheilt werden. Wer dieses noch glaubt, denkt nicht im Sinne der irdischen Entwickelung der Menschheit. Und so lange wird diese katastrophale Zeit dauern – wenn sie auch für einige Jahre zwischenhinein überbrückt werden kann, scheinbar –,bis die Menschheit sie in der einzig richtigen Weise interpretieren, auslegen wird, nämlich dahingehend, dass sie ein Zeichen ist, dass die Menschen nach dem Geiste, der das rein physische Leben durchdringen muss, sich hinwenden. Das mag heute noch für viele eine bittere, weil unbequeme Wahrheit sein, aber es ist eine Wahrheit.40

Rudolf Steiner setzte sich zeitlebens dafür ein, neben der einseitigen Naturwissenschaft und Technologie, die nur die physische Dimension der Weltwirklichkeit beforscht und verändert, auch die seelisch-geistigen Daseinsbereiche methodisch zu erfassen – und er sah in einer solchen Berücksichtigung das entscheidende Korrektiv des Materialismus und seiner lebensweltlichen Folgen. Steiner zeigte, dass einemethodisch vorgehende Seelen-und Geisteswissenschaft möglich und praktikabel ist und nicht nur die Anwendungnaturwissenschaftlicher Vorgehensweisen im Bereich der Psychologie oder eine Historiografie und Hermeneutik der Philosophie. Vonder notwendigen «Wendezeit»imDenken des Menschen sprach der PhysikerFritjof Capra;Jahrzehnte vor ihm und in sehr detaillierter Weise tat dies Rudolf Steiner – wie auch verschiedene Phänomenologen und Existenzphilosophen, Tiefenpsychologen,Soziologen und Künstler in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts, die die Frage nach dem Wesen und dem

39 R. Steiner:GA192, 21991, S. 109.

40 R. Steiner:GA182, 41996, S. 84.

seelisch-geistigen Potenzial des Menschen ins Zentrum ihrer Arbeitenstellten.41

Die Anthroposophie, so sagte Steiner in einem Vortrag während des Ersten Weltkrieges, habe es «mit dem Menschen als solchem zu tun, wirklich mit dem Menschen als solchem» – «alles geht ja in der gegenwärtigen Menschheit dem Ziele zu, den Menschen als solchen zu verleugnen, und anderes als den Menschen hinzustellen als dasjenige, für das man kämpfen, für das man arbeiten, an das man denken soll»(24. Mai 1915).42

Über Steiners Beitrag zur Wissenschaft und damit auch zur Gesamt-Lebenswirklichkeit des Menschen und der Menschheit schritt der akademische «Zeitgeist»jedoch weitgehend hinweg.(«Wie es aber in der Geschichte geht:sie nimmt nur das an, was sie im Augenblick brauchen kann, und macht daraus, was sie will. »43 )Mit seiner «Wirklichkeitsforschung, die mit einem verwandelten Bewusstsein arbeitet»,44 stieß Steiner auf wenig Verständnis, obwohl sie, ihrer «Grundansicht», ihrer «Grundtendenz »und ihrer «Grundgesinnung»nach,45 bis heute außerordentlich modern erscheint. «Vieles in unserer Zukunft wird davon abhängen, ob wir in der Lage sind, die Fesseln [ des ] falschen Dualismus [ zwischen der materialistischen Wissenschaft und der dogmatischen Religion ] zu sprengen und unseren Weg zu einem kontemplativen, wissenschaftlichen spirituellen Lebenfinden“,schrieb der renommierte Physik-Professor, QuantenoptikSpezialistund Anthroposoph Arthur Zajonc.46 Es wäre darüber hinaus im Einzelnen darstellbar, dass Rudolf Steiner die von Eric Hobsbawm in seinem bilanzierenden Jahrhundert-Rückblick festgestellten Entwicklungslinien und ‐katastrophen früh sah und – wesentlicher als das – durch modellhafte Gegeninitiativen antizipierend zu beantworten versuchte. Steiner war definitiv kein «antimodernistischer», rückwärtsgewandter, der Romantik und dem «esoterischen»Refugium verpflichteter Geist, sondern Teil der Moderne, «Weltbürger»imSinne Goethes, oder aber:ein wachsamer, engagierter Zeitgenosse und innovativer Wissenschaftler mit ungewöhnlichen Entwürfen.47 Über die Bilanz des 20. Jahrhunderts schrieb der englische Universalhistoriker Hobsbawm:

Wir wissen, dass hinter der undurchdringlichen Wolke unserer Ignoranz und den Ungewissheiten im einzelnen die historischen Kräfte weiterwirken, die dieses Jahrhundert geformt haben. Wir leben in einer Welt, die gekapert, umgewälzt und entwurzelt wurde vom gigantischen ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Prozess der Kapitalismusentwicklung, der die vergangenen zwei oder drei Jahrhunderte beherrscht hat. Wir

41 Vgl. u. a. G. Danzer:Anthropologie, 2011.

42 R. Steiner:GA162, 22000, S. 44 f.

43 G. Mann:Geschichte, 1966, S. 78.

44 R. Steiner:GA35, 21984, S. 104.

45 Vgl. R. Steiner:GA174b, 21994, S. 187.

46 In P. Heusser, J. Weinzierl (Hg.): Steiner, 2014, S. VI.

47 Vgl. diesbezüglich u. a. P. Heusser, J. Weinzirl (Hg.): Steiner, 2014.

wissen oder nehmen vernünftigerweise wenigstens an, dass dies nicht ad infinitum so weitergehen kann. Die Zukunft kann keine Fortsetzung der Vergangenheit sein. Es gibt nicht nur äußere, sondern gleichsam innere Anzeichen dafür, dass wir am Punkt einer historischen Krise angelangt sind. Die Kräfte, die die technisch-wissenschaftliche Wirtschaft freigesetzt hat, sind inzwischen stark genug, um die Umwelt, also die materielle Grundlage allen menschlichen Lebens, zerstören zu können. Und die Strukturen der menschlichen Gesellschaften selbst, eingeschlossen sogar einige soziale Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft, sind im Begriff, durch die Erosion dessen, was wir von der menschlichen Vergangenheit geerbt haben, zerstört zu werden. Unsere Welt riskiert sowohl eine Explosion als auch eine Implosion. Sie muss sich ändern. Wir wissen nicht, wohin wir gehen.48

Es scheint nicht unwichtig zu sein, Rudolf Steiners Lebenswerk, aber auch seine Lebens- und Arbeitsintentionen, in diesem konkreten zivilisatorischen Problemzusammenhang zu sehen, der mit den Existenzbedingungen der Moderne oder zumindest der Gegenwart und Zukunft zu tun hat, nicht jedoch im Kontextder okkulten Sektengeschichte Europas.Der US-amerikanische Wissenschaftler und Schriftsteller Russel Wheeler Davenport betonteinseinem posthum erschienen Werk «The Dignity of Man»(New York 1955):

Dass die akademische Welt es fertiggebracht hat, Steiners Werke als unbegründet und unerheblich abzutun, ist eines der intellektuellen Wunder des 20. Jahrhunderts. Wer auch immer es auf sich nimmt, dieses umfangreiche Werk mit offenem Sinn zu prüfen (sagen wir wenigstens 100 Bände), wird sich einem der größten Denker aller Zeiten gegenübersehen, dessen Beherrschung der modernen Wissenschaften ebenso bewundernswert ist wie seine Kenntnis auf dem Gebiete der alten Wissenschaften. Steiner ist nicht mehr Mystiker als Albert Einstein;erwar in erster Linie Wissenschaftler, aber ein Wissenschaftler, der es wagte, in die Geheimnisse des Lebens einzudringen.49

Arthur Zajonc zufolgewaren Steiners Beiträge zur «Lebensforschung»die bedeutendsten des 20. Jahrhunderts.50

Der habilitierte Neurologe und Psychiater GerhardKienle, der 1983 die Freie Universität Witten/Herdecke begründete,51 wollte damit eine Möglichkeit für die Entfaltung und Evaluierung außerordentlicher Wissenschaft, auch im Bereich des Lebendigen schaffen, weil verdrängte Wissenschaftsrichtungen mitunter Wesentlicheszur Zukunft als einer bedrohten beizutragen vermögen. An ihnen kann die Universität nicht achtlos vorübergehen, da sie, so Kienle, einen gesellschaftlich-sozialen Auftrag wahrzunehmen hat. Die Universität Witten-

48 E. Hobsbawm:Extreme, 1995, S. 719 f.

49 Zit. n. W. Kugler:Steiner, 2008, S. 22.

50 In:P.Heusser, J. Weinzierl (Hg.): Steiner, 2014, S. V.

51 Vgl. P. Selg:Kienle. 2Bde., 2003.

Herdecke war dabei nie eine «anthroposophischeUniversität»,52 sondern als ein Ort konzipiert, an dem die Urteilsfreiheit der Studierenden und Lehrenden gewahrt und gefördert wird – auch die befreiende Hinterfragungvon paradigmatischen Machtansprüchen konventioneller Wissenschaft, die zumeist völlig unthematisiert und unproblematisiert Eingang in Lehre und Forschung finden.

Die Ausbildung [ander Universität Witten/Herdecke]kann nur dann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie zur Fähigkeit der persönlichen Verarbeitung und damit zur inneren Freiheit gegenüber den Aussagen, Methoden und Erkenntnisgrundlagen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen sowie zu einer Vertiefung des Verantwortungsbewusstseins gegenüber der Mitwelt führt.53

Kienle betonte, in Witten/Herdecke als einer Modelleinrichtung gehe es darum, «revolutionäre»Wissenschaft im Sinne von Thomas S. Kuhn im Gegensatz zur «Normalwissenschaft»zufördern und zu ermöglichenbzw. den «Platz für die Freiheit des Individuums im Erkenntnisprozess und in der Wissenschaftsgestaltung zu erkämpfen».54 Kienle wusste, wovon er sprach. Er hatte selbst zu originären Forschungsfragen und ‐anliegen Rudolf Steiners promoviert und habilitiert. Obwohl seine in physiologischer wie mathematischer Hinsicht hochkomplexe Habilitationsschrift an der Universität Frankfurtüber die «Nichteuklidische Struktur des Sehraums»exzellente und hochrangige interdisziplinäre Gutachten erhielt und Kienle auch im gesundheitspolitischen, medizintheoretischen und ‐methodologischen Bereich Neuland beschritt und Außerordentliches leistete, blieb er sein Leben lang Privatdozent, erhielt nicht einmal eine außerordentliche Professur und war als bekannter «Anthroposoph»ein geächteter Außenseiter der scientific community. In einem Aufsatz über die «Bedeutung der Anthroposophie für die Neugestaltung des Universitätslebens»schrieb er im Dezember 1982, sechs Monate vor seinem Tod:

Eine Universitätsgründung ist eine der Möglichkeiten, einen sozialen Rahmen dafür abzugeben, dass der Wissenschaftler, der außerordentliche Forschung betreiben will, die fatale Einsamkeit überwinden kann, ohne in Anpassung und Sektierertum zu verfallen.55

Zum 150. Geburtsjahr Rudolf Steiners veranstaltete der Gerhard-Kienle-Lehrstuhl für Medizintheorie, Integrative Medizin und Anthroposophische Medizin an der Universität Witten/Herdecke eine vielbeachtete Vorlesungs- und Diskus-

52 Vgl. H. Zander:Anthroposophie, 2007, Bd. 2, S. 1458;M.Gebhard:Steiner, 2011, S. 16 und S. 336. Zur Gründungsgeschichte der Universität und den Intentionen der Gründer vgl. dagegen P. F. Matthiessen:Witten/Herdecke, 2014 sowie G. Kienle, H. Hensel, K. E. Schaefer (Hg.): Wissenschaft und Anthroposophie. Stuttgart 1989.

53 Zit. n. P. Selg:Kienle. Bd. 1, 2003, S. 539.

54 Ebd., S. 534.

55 Zit. n. P. Selg:Kienle. Bd. 2, 2003, S. 379.

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