DENKENDENKEN
SIEGLINDE GEISEL
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SIEGLINDE GEISEL
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Sieglinde Geisel
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Die unternehmerische Universität St.Gallen
Sieglinde Geisel
DIE UNTERNEHMERISCHE
UNIVERSITÄT ST.GALLEN
UNIVERSITÄT
NZZ Libro
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© 2024 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Coverabbildung: Universität St.Gallen, Schalenbaum von Hans Arp, Fotograf: Marco Gerster Cover, Layout und Satz: Dominik Junker, St. Gallen
Porträtzeichnungen: Jonny Ruzzo, New York
Druck: BALTO print, Vilnius
Printed in the EU
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ISBN Print 978-3-907396-85-8
ISBN E-Book 978-3-907396-86-5
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NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Von der Handelsakademie zur Universität
Der Zeitgeist des Jugendstils 18 Management und Leadership 33
«HSG – du bist viel mehr als dein Klischee» 44
Aufbruch 1: Der Campus auf dem Rosenberg 51
Die sechziger Jahre 52
Das St.Galler Management-Modell 82
1968 an der HSG 96
Das St.Gallen Symposium 108
Finanzierung 121
Weiterbildung 153
Die HSG und ihr Impact in der Gesellschaft 159
Wirtschaftsethik 172
Nachhaltigkeit 184
Aufbruch 2:
Bologna und die Folgen 211
Die Bologna-Reformen
Kontextstudium
Die Studiengänge der Rechts- und Politikwissenschaften
Neue Herausforderungen
Frauen an der HSG
Die School of Computer Science
Medicine
Entrepreneurship an der HSG
Die Erfolgsgeheimnisse der HSG
Vom Elfenbeinturm zum Glashaus
Die HSG-DNA
Das Wachstum der HSG
Die Studierenden der HSG
Die Alumnae und Alumni der HSG
Sieglinde Geisel, *1965 in Rüti/ZH, lebt als Kulturjournalistin, Schreibcoach und Lektorin in Berlin. Von 1994 bis 2016 war sie feste Mitarbeiterin der Feuilletonredaktion der Neuen Zürcher Zeitung. Sie arbeitet für verschiedene Medien (u. a. Deutschlandfunk Kultur, WDR, Süddeutsche Zeitung, SRF, Republik, NZZ am Sonntag). Im Jahr 2016 gründete sie tell, ein Online-Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft (tell-review.de). Sie gibt Schreibkurse, u. a. hat sie einen Lehrauftrag an der Universität St.Gallen: Schreibwerkstatt für Doktorierende.
Buchpublikationen: «Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille» (Galiani 2010), «Was wäre, wenn? Peter Bichsel im Gespräch mit Sieglinde Geisel» (Kampa 2018), «Ein geträumtes Leben. Alberto Manguel im Gespräch mit Sieglinde Geisel» (Kampa 2021).
«Du weisst aber schon, was das für eine Uni ist?», fragte mich leicht entgeistert eine Studentin der Universität Zürich, als ich ihr von meiner Arbeit an einem Buch über die Universität St.Gallen erzählte. Über keine Universität der Schweiz gibt es so viele Meinungen, Gerüchte und Vorurteile wie über die Universität St.Gallen oder HSG, wie man sie in der Schweiz nennt («Hochschule St.Gallen»). Sie ist eine Projektionsfläche für allerhand Vorstellungen, doch darüber, was im Campus auf dem Rosenberg, hoch über der Stadt St.Gallen, tatsächlich geschieht, dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit.
Um das zu ändern, gab mir die Universität St.Gallen zu ihrem 125-jährigen Jubiläum 2023 den Auftrag, ein Buch zu schreiben: Es ging um einen Blick von aussen auf die Universität, unvoreingenommen und kritisch. Als Kulturjournalistin, die zwar in der Schweiz aufgewachsen ist, aber seit mehr als dreissig Jahren in Berlin lebt, näherte ich mich der HSG ohne Vorurteile, dafür mit Neugier und mit Fragen: Wie kommt es, dass eine international führende Schweizer Business School nicht in Zürich, Basel oder Genf entstanden ist, sondern in einer 80 000 Einwohner-Stadt in der Ostschweiz? Was hat es mit der «integrativen Wirtschaftsuniversität» auf sich, an der es auch eine kulturwissenschaftliche Fakultät gibt und die ihren Campus mit hochkarätiger Kunst ausgestattet hat? Und vor allem: Was für Menschen lehren, forschen und studieren hier – was für ein Kosmos ist diese Universität?
Mein Blick von aussen erwies sich als Vorteil. Meine Gesprächspartner:innen mussten mir Dinge erklären, die für sie selbstverständlich waren – gerade das waren oft die spannendsten Momente. Jedes Gespräch eröffnete neue Sichtweisen und führte zu weiteren Begegnungen, die sich ihrerseits verzweigten. In mehr als hundert Gesprächen habe ich die HSG als einen vielfältigen und widersprüchlichen Kosmos erlebt, im Archiv fand ich oft überraschende Geschichten hinter der Geschichte. Alles ist mit allem verknüpft und ständig in Bewegung – die HSG ist, so könnte man es mit einem Begriff des St.Galler Management-Modells sagen, ein «produktives soziales System».
In meinem Buch erzähle ich einerseits die Geschichte der Universität St.Gallen von der Gründung 1898 bis heute, andererseits werden gesellschaftspolitische Themen vertieft, die an der HSG unterrichtet werden. Man kann das Buch fortlaufend von vorne bis hinten lesen, oder man kann darin blättern und sich in einzelne Kapitel vertiefen. Es handelt nicht nur von der HSG. Die Universität St.Gallen ist vielmehr ein Fenster zu den Themen unserer Zeit.
Sieglinde Geisel
P. S.: Ein Wort zum Gendern. Als Sprachgemeinschaft sind wir mitten im Prozess herauszufinden, wie geschlechtergerechte Sprache geht. Ich bemühe mich um Flexibilität und Lesbarkeit; wenn es mit Abwechseln oder dem Partizip Präsens nicht geht, gendere ich mit dem Doppelpunkt.
Bei der HSG ist es mit dem Gendern allerdings manchmal so eine Sache. Bis 1 986 w aren alle Professoren Männer, und auch danach gehörte in manchen Jahren nur eine einzige Professorin zum Kollegium. Um der historischen Wahrheit Genüge zu tun, verwende ich daher für bestimmte Epochen das (echte) Maskulinum.
Die Universität St.Gallen oder HSG, wie sie immer noch genannt wird, gilt als grösste Wirtschaftsfakultät in Mitteleuropa. In der Schweiz ist sie neben der ETH und der École Polytechnique Fédérale in Lausanne (EPFL) die einzige Universität mit einer Spezialisierung. Seit ihrer Gründung hinweg ist die Universität St.Gallen nach ihren eigenen Gesetzmässigkeiten gewachsen, deshalb passt sie in keine universitäre Schublade: Weder ist sie eine reine Business School, noch entspricht sie der wirtschaftlichen Fakultät einer Voll-Universität. Auch hinsichtlich ihrer Finanzierung ist die HSG ein Sonderfall: Sie ist eine öffentliche Universität, aber wegen des hohen Anteils an Drittmitteln von privater Seite funktioniert sie zugleich als public private partnership. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Institute, die nach dem Modell von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) autonom wirtschaften.
Ihrem Selbstverständnis nach ist die HSG eine «Wirtschaftsuniversität PLUS», denn über die wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiche hinaus bietet sie Studiengänge in den Rechts- und Politikwissenschaften; seit kurzem kann man an der HSG auch Informatik studieren, und in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich gibt es einen medizinischen Masterstudiengang.
Den Schwerpunkt bilden jedoch die Wirtschaftsfächer. Drei Viertel der Studierenden machen ihren Abschluss in einem wirtschaftswissenschaftlichen Fach. Seit den Gründungsjahren waren auch Sprach- und Kulturfächer Teil des Curriculums. Im Zuge der Bologna-Reformen 1999/2000 wurde das Kon-
textstudium geschaffen: Die School of Humanities and Social Sciences ist mit sechzehn Professuren ausgestattet, ergänzt durch Lehrbeauftragte aus den verschiedensten Disziplinen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften gehören zum Pflichtprogramm: Wer an der HSG seinen Bachelor oder Master macht, muss 25 Prozent der Studienleistungen im Kontextstudium absolvieren.
Dass die HSG ein Sonderfall ist, bekommt sie bisweilen bei Akkreditierungsund Rankingbehörden zu spüren: «Dort kennt man nur Business Schools und Voll-Universitäten, als integrative Wirtschaftsuniversität müssen wir uns dort durchaus behaupten», so Thomas Bieger, der als Rektor von 2011 bis 2020 die Internationalisierung der HSG vorangetrieben hat. «Ausserdem tummeln sich im Higher Education Sector immer mehr private Anbieter. Wenn wir an der Spitze bleiben wollen, heisst das: Wir müssen als öffentliche Universität gleich gut sein wie die besten privaten.»
Die HSG ist in vielerlei Hinsicht eine Universität wie keine andere. Der folgende Überblick über ihre Alleinstellungsmerkmale erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
An der HSG wird Betriebswirtschaft nicht linear, sondern ganzheitlich gedacht. Das integrative Denken zieht sich durch alle Fachbereiche. Zum «St.Galler Ansatz» gehört nicht nur das St.Galler Management-Modell, das in den siebziger Jahren die Betriebswirtschaftslehre revolutionierte, sondern überhaupt der Anspruch, Wirtschaft in einem grösseren gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Die HSG hat als erste europäische Universität 1986 einen Lehrstuhl für Wirtschaftsethik eingerichtet. Mit dem 1992 eröffneten Institut für Wirtschaft und Ökologie übernahm sie in der Nachhaltigkeitsforschung eine Pionierrolle, und das Kontextstudium ist weltweit einzigartig.
O-TON
Ulrike Landfester
Professorin für Deutsche Sprache und Literatur
«Der Grund, warum ich an die HSG gekommen bin? Ich wollte herausfinden, ob ich Wirtschaftsstudierenden erklären kann, wozu sie geisteswissenschaftliche beziehungsweise germanistische Kompetenzen brauchen. Es hat mich fast zwanzig Jahre gekostet, jetzt kann ichʼs. Das ist eine Lernkurve, die ich an keiner anderen Universität gemacht hätte. Ich findʼs megaspannend.»
Während sich an den Wirtschaftsfakultäten der meisten anderen Universitäten die Dozierenden auf die Wissenschaft konzentrieren, hat die HSG den Praxisbezug seit ihrer Gründung beibehalten. Viele Professorinnen und Professoren nehmen im Rahmen von Nebenbeschäftigungen Mandate in der Privatwirtschaft wahr, in den Instituten wird praxisnah geforscht, und durch Start-ups und Spin-offs setzt sich die universitäre Lehre direkt in die Praxis fort.
Torsten Tomczak
Professor für Betriebswirtschaftslehre und Marketing
«Ich bin 1990 von Berlin hierhergekommen und dachte: Hier bleibst du zwei bis drei Jahre, und dann gehst du an die nächste Uni, das ist der normale Karriereweg. Doch dann bin ich geblieben, denn diese Institute, die wir hier haben, verändern das ganze Universitätsspiel. Dass man als Professor seinen eigenen Bereich hat, in dem man autonom wirken kann, gibt uns alle Freiheiten zu forschen, wie wir wollen: Du kannst deine Kolleginnen und Kollegen auswählen, und wenn es nicht mehr passt, machst du den Laden wieder dicht. Oder du machst mit einem Kollegen ein neues Institut auf, so wie ich es gemacht habe.»
Von allen Schweizer Universitäten hat die HSG den geringsten Anteil öffentlicher Gelder in ihrem Gesamtbudget: Fünfzig Prozent ihrer Mittel stammen aus der Privatwirtschaft. Die öffentliche Hand finanziert die sechs Schools, die alle Fachbereiche der Bachelor- und Masterprogramme abdecken. Die gut vierzig Institute erzielen Einkünfte aus der Privatwirtschaft, sei es mit Forschungsaufträgen, Weiterbildungsangeboten, Kooperationen oder Beratungen. Weitere Einkünfte kommen durch die MBA-Programme der Executive School. Von grosser Bedeutung ist das weltweit aktive Netzwerk der Alumni: Sie unterstützen ihre Alma Mater auch finanziell, etwa bei Kunstankäufen oder dem Bau des innovativen Lernzentrums SQUARE, das im Februar 2022 eröffnet wurde.
Thomas Bieger
Professor für Betriebswirtschaftslehre, Alt-Rektor
«Wir haben im Vergleich zu den anderen Schweizer Universitäten den kleinsten Anteil öffentlicher Mittel. Die Exzellenz, unser internationales Standing, das haben wir uns selbst erarbeitet, und darauf sind wir stolz.»
Die HSG untersteht als Ganzes dem Universitätsrat, doch nach innen funktioniert sie wie eine Republik: Dem gut 120-köpfigen Senat gehören alle Professorinnen und Professoren an sowie Vertreter des Mittelbaus und der Studentenschaft. Ähnlich wie an anderen Schweizer Universitäten entscheidet der Senat als oberstes Gremium über alle universitätsrelevanten Geschäfte. Einmal im Jahr zieht sich der gesamte Senat für ein Wochenende zur Senatsklausur in ein Tagungshotel zurück, um Strategiefragen zu diskutieren. Studierende beteiligen sich aktiv an der Entscheidungsfindung.
O-TON
Nicole Büttner-Thiel
Studentenschaftspräsidentin 2004/2005
«Als Studentenschaftspräsidentin sass ich in allen Gremien, ich hatte jede Woche einen jour fixe mit dem Rektor, eins zu eins. Man hat mir zugehört. Als wir Miriam Meckel an die Uni beriefen, konnte ich meine Stimme abgeben. Mit neunzehn Jahren hatte ich diese Plattform! Es dauerte Jahre, bis ich im Berufsleben wieder eine Position mit so viel Verantwortung und Einfluss hatte.»
Die HSG bildet Führungskräfte aus und wirkt in die Gesellschaft hinein: durch Alumni und Alumnae in Entscheidungspositionen, durch ihre Forschung und ihre Medienpräsenz. In den letzten Jahrzehnten ist es der HSG gelungen, sich in den internationalen Rankings an der Spitze der Management-Ausbildung zu positionieren. Gerade mit ihrem Erfolg macht sie sich allerdings auch angreifbar: Das Schlagwort der «Kaderschmiede» ist durchaus ambivalent.
Oliver Gassmann
Professor für Technologie-Management
«Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft sich weiterentwickelt, das hat automatisch einen elitären Anspruch. Das Wort ‹elitär› hören wir nicht gern, es ist auch zutiefst unschweizerisch. Doch ich halte den Status einer elitären Universität nicht für schlecht. Thought-leader zu sein, ist etwas Positives.»
ENGAGIERTE STUDIERENDE
Nur 15 Prozent der Studierenden der HSG kommen aus der Region. Dies sorgt zum einen für eine besondere Offenheit, weil alle gleichermassen darauf angewiesen sind, neue Freundschaften zu schliessen; zum anderen führt es zu einem hohen studentischen Engagement: Die Hälfte der Studierenden sind in einem der über 130 studentischen Vereine aktiv. Das international renommierte St.Gallen Symposium wird seit mehr als fünfzig Jahren ausschliesslich von Studierenden des International Students’ Committee organisiert.
Maximilian Wörlein
Student der Betriebswirtschafslehre, 2019–2021 Mitglied des International Students’ Committee
«Es gibt an der HSG viele Student:innen, denen es nicht darum geht, dass sie ihr Studium mit summa cum laude abschliessen und jeden Sommer bei einer anderen Investmentbank im Praktikum waren. Viele stellen sich selbst zurück und engagieren sich beispielsweise beim St.Gallen Symposium, weil sie sagen: Ich möchte das jetzt einfach machen! Ihnen geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren.»
Die HSG hat ein professionell gemanagtes, hoch aktives Alumni-Netzwerk mit weltweit mehr als 180 Chapters: Viele bleiben der Alma Mater zeitlebens verbunden. Die Ausstrahlung der HSG auf die Gesellschaft geht zu einem grossen Teil über ihre Alumni: Das betrifft Mitglieder von Aufsichtsräten und Geschäftsleitungen ebenso wie Führungskräfte in NGOs, Start-ups und KMU.
HSG-Alumnus
«Das Studium an der HSG ist etwas Einmaliges: die Breite der Ausbildung und das gemeinsame Interesse, die Welt zu gestalten – und dann der Umstand, dass das alles auf engem Raum geschieht. Das prägt die Menschen wohl stärker, als sie denken.»
Was über den Erfolg der HSG entscheidet
Sascha Spoun hat von 1999 bis 2006 die Bologna-Reformen massgeblich mitgestaltet. Seit 2006 ist er Präsident der Leuphana Universität Lüneburg; an der HSG hat er eine Gastprofessur für Universitätsmanagement inne.
«Wenn man die HSG etwa mit der Universität Zürich vergleicht, zeigt sich, dass für ihren Erfolg noch andere Faktoren entscheidend sind. Die Universität Zürich muss schauen, dass sie Top-Forscher anzieht und vom Kanton die nötigen Ressourcen erhält. Die HSG dagegen muss ausserdem attraktiv sein für die besten Studierenden. Von den begabten, neugierigen, engagierten Studierenden lebt das ganze universitäre System: Sie ziehen jedes Seminar nach vorn – und sie sind jeweils auch diejenigen, die sich in den studentischen Vereinen und Initiativen besonders engagieren.
Diese Gruppe der Top-Studierenden hat heute viel mehr Optionen als früher, und das wissen auch deren Eltern. Es wird immer schwieriger, diese studentische Gruppe nach St.Gallen zu bringen.
Das ist die eine kritische Linie für den Erfolg der HSG. Die andere kritische Linie besteht bei den Fakultäten: Gelingt es, genügend Professorinnen und Professoren zu gewinnen, die sich nicht nur für ihr Fach interessieren, sondern sich auch Zeit nehmen für die Vernetzung mit der Gesellschaft und der Praxis, und die sich für das Gemeinwohl der Universität engagieren? Ohne diese besonderen Persönlichkeiten funktioniert die HSG nicht.»
WIE ALLES BEGANN
Die Handelsakademie St.Gallen wurde im Mai 1898 gegründet, ein Jahr später, am 1. Mai 1899, begann das erste Unterrichtssemester mit sieben Studenten sowie 58 Hörern. Die Handelsakademie hatte zunächst noch kein eigenes Gebäude. Im Verbund mit der gleichzeitig gegründeten Verkehrsschule war sie im Westflügel der Kantonsschule untergebracht. Bis zum Diplom dauerte das Studium vier Semester; eine Matura war nicht erforderlich, und manche Dozenten der ersten Jahre hatten selbst nicht studiert. Aus dieser Handelsakademie sollte eine international führende Business School werden, mit mehr als 9 000 Studierenden und einem bis heute ständig wachsenden Campus. Im Jahr 2022 wurde mit dem SQUARE ein Ort «für die Zukunft des Lernens und Lehrens» eröffnet, und ab 2029 soll in der St.Galler Innenstadt mit dem Platztor-Campus Raum für weitere 3 000 Studierende geschaffen werden.
Wie kommt es, dass eine solche Wirtschaftsuniversität nicht in Zürich, Genf oder Basel entstanden ist, sondern in St.Gallen, einer Kleinstadt in der Ostschweiz? Um sich dieser Frage zu nähern, muss man eine Zeitreise ins St.Gallen am Ende des 19. Jahrhunderts unternehmen: eine boomende Stickereistadt mit internationaler Ausstrahlung und einem aufstrebenden, weltoffenen Bürgertum.
ST.GALLEN IM 19. JAHRHUNDERT
Mit der Frage, aus welcher Welt die Idee einer Handelsakademie ursprünglich kam, wende ich mich an den Architekten Martin Schregenberger. Er hat lange in der Denkmalschutzbehörde St.Gallen gearbeitet, im öffentlichen Programm der HSG hält er Vorlesungen zur Geschichte der Region St.Gallen. Seine ersten Stadtführungen machte er mit sechzehn Jahren. «Mir war langweilig in den Sommerferien, also ging ich zu den Touristenbussen und bot Führungen an.» Wenn man sich von Martin Schregenberger durch die Stadt führen lässt, gewinnt man am Ende die Überzeugung, dass die Handelsakademie in keiner anderen Stadt hätte entstehen können. Dabei hat das historische St.Gallen von seiner geografischen Lage her gesehen viele Standortnachteile: Der Boden war für die Landwirtschaft unergiebig, durch die zerklüftete Topografie und ohne schiffbaren Fluss war die Region auch verkehrstechnisch ungünstig gelegen. Es war durchaus folgerichtig, dass der irische Mönch Gallus im Jahr 612 ausgerechnet diesen Ort für seine Einsiedlerklause wählte.
Doch gerade die vermeintlichen Nachteile waren günstig für die Textilindustrie: Leinentücher konnten auch unter diesen Bedingungen hergestellt und transportiert werden. Seit dem 12. Jahrhundert wurde in St.Gallen Lein-
wand gewebt, und seit dem 13. Jahrhundert gab es den Fernhandel mit Tüchern von auserlesener Qualität.
Die Stadt St.Gallen hatte in Folge des St.Galler Kriegs 1498/99 ihre Untertanengebiete verloren, sie musste sich als einzige Stadt der Eidgenossenschaft selbst versorgen. Das war wohl nur aufgrund der schon früh entwickelten Textilindustrie möglich: Laut dem Dramatiker Josua Wetter war es «das leinwathgwerb, die kauffmannschafft darneben», die «ohne noth die ganze Statt ernehrt»: «kein pflug, kein hirt, dazu kein rebmann gehen zu unsren thoren auss», so schreibt er stolz, und «dass es den Bürgern doch an nichts zu Speiss und Trank gebricht».
Die St.Galler Leinentücher waren so fein, so hiess es damals, dass man sie durch einen Fingerring ziehen könne. Sie wurden in alle Himmelsrichtungen exportiert: Das Handelsnetz reichte von Warschau bis nach Portugal, von der Ostsee bis nach Genua. Die Qualitätsprobe mit dem Fingerring gilt nach Martin Schregenberger übrigens auch für die heutigen Tücher: «Die Saudis kaufen in St.Gallen ihre Kopftücher ein, die kosten gut und gerne 150 Franken pro Tuch. Das Gewebe ist zugleich fein und stabil, das ist ideal für den Schutz gegen die Hitze.»
Die frühindustrielle Textilmanufaktur hatte ein grosses Problem: die restriktive Regulierung des Markts durch die Zünfte. Diese Regulierung sah vor, dass die Stadt den Spinnern das Garn zu einem Einheitspreis ab- und an die Weber weiterverkaufte. Die Weber wiederum mussten das gewebte Tuch zum Einheitspreis der Stadt überlassen. Dort wurde das Tuch gebleicht und an die Händler weiterverkauft. Dieses System hielt sich, bis 1798 Napoleon die Zünfte auflöste. Damit wurde St.Gallen als Standort für das produzierende Gewerbe unattraktiv. Die Herstellung der Leinentücher verlagerte sich in die umliegende Region.
In St.Gallen blieben der Handel und die Kaufleute, aus deren Kreisen die Handelsakademie hervorgehen sollte. Bereits 1466 hatten sich die wichtigsten St.Galler Handelsfamilien in der «Gesellschaft zum Notenstein» zusammengeschlossen. In dieser finanzstärksten Gruppe der Stadt waren auch die «Müssiggänger» vertreten, so nannte man Geschäftsleute, die von den Zinsen ihres Vermögens leben konnten. Aus der Gesellschaft zum Notenstein gingen später das Kaufmännische Direktorium und schliesslich die heutige Industrie- und Handelskammer (IHK) St.Gallen-Appenzell hervor.
Anfang des 19. Jahrhunderts kam die Baumwolle auf, und der Verkauf von Leinentüchern brach ein. Angesichts der Leinwandkrise verlagerte sich die St.Galler Textilindustrie auf die Stickerei. Mit einer Stickereimaschine konnten einfache Arbeiter als Kleinfabrikanten zu Wohlstand kommen. In Dörfern wie Degersheim wurden die Häuser acht Meter breit gebaut, damit die Stickereimaschinen in den Keller der Heimsticker passten. So hinterliess die Heimstickerei mancherorts im Stadtbild ihre Spuren.
Die Stickerei boomte, und St.Gallen wurde weltstädtisch: Ab 1810 fuhren Delegationen aus St.Gallen nach Paris, um sich auf Messen, Modeschauen und den Bällen der haute volée ein Bild der neuesten Mode zu machen. «Man kaufte in Paris Muster und Bilder ein, damit die heimischen Stickereien Vorlagen hatten. Abgesehen von der Barockkunst im Stiftsbezirk war das damalige St.Gallen eine bilderlose Welt», so Martin Schregenberger.
Die heutige Union AG ist die älteste Stickereifirma der Welt. Ihre Geschichte ist ein anschauliches Beispiel für die Dimensionen der Globalisierung im damaligen St.Gallen. Die Firma Vonwiller (später Hoffmann, Huber & Co., dann Union AG) wurde 1759 von Ulrich de Gaspard Vonwiller gegründet. Sie trieb Handel (Barchent, Leinwand und Mousseline) mit Frankreich, Spanien und Oberitalien; als sich nach dem Sturz Napoleons die Zollgebühren erhöhten, verlagerten sich ihre Geschäfte nach Amerika. Es wurden Niederlassungen in New York und New Orleans eröffnet. Von dort aus dehnte sich
der Handel bis zu den Westindischen Inseln und Zentralamerika aus, während sich das Handelsnetz in Eurasien über Wien und Triest bis in die Türkei und nach Persien erstreckte. Als 1861 mit dem Sezessionskrieg die USA als Absatzmarkt vorübergehend ausfielen, ging man in Afrika und auf den Philippinen auf die Suche nach neuen Geschäftsmöglichkeiten.
Das Gelände am Rosenberg, auf dem seit 1963 der HSG-Campus steht, war die Sommerresidenz von Paul Kirchhofer, einem Teilhaber der damaligen Firma Vonwiller. Er hatte das Gelände seiner Nichte Doris Lily Heer-Huber vererbt, die es 1930 zum Gedenken an ihren Onkel der Stadt St.Gallen schenkte.
Das 19. Jahrhundert bedeutete für die Stadt St.Gallen Wachstum und Aufschwung. Von 8 000 Einwohnern um 1800 wuchs die Bevölkerung des heutigen Stadtgebiets auf fast 80 000 im Jahr 1910, davon war ein Drittel Ausländer. Die Schweiz war eine aufstrebende Exportnation, und St.Gallen trug mit seiner Textilproduktion massgeblich dazu bei: Ein Sechstel des gesamten Exportvolumens der Schweiz kam um die Jahrhundertwende aus den St.Galler Stickereien. Aus St.Gallen stammte die Hälfte der weltweiten Stickerei-Produktion, den Übernamen «Vorort von New York» hatte sich die Stadt durchaus verdient.
Man war in St.Gallen stolz darauf, dass man mit der ganzen Welt Handel trieb. Diesen Stolz verkörpert das Haus zur Waage an der Ecke Neugasse/ Multergasse mit seinen fünf typisierten Männerköpfen, die von der Fassade auf die Strasse herabschauen. Das Haus wurde 1904 vom Konsumverein für den Kolonialwarenhandel gebaut, die rassistischen Stereotype spiegeln den
Haus zur Waage: Asien, Afrika, Amerika, Australien. Europa befindet sich an der Hauswand zur Strassenseite hin