Rudolf Hermann Andreas Doepfner
Von der eiswüste zur ArenA der Großmächte
Die geopolitischen Folgen des Klimawandels in der Arktis
Rudolf Hermann Andreas Doepfner
Von der Eiswüste zur Arena der Grossmächte
Die geopolitischen Folgen des Klimawandels in der Arktis
NZZ Libro
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ISBN Print 978-3-907396-87-2
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Die Arktis ist eine Weltregion, die das 21. Jahrhundert wesentlich mitprägen wird. Die tiefere Ursache dazu liegt im Klimawandel, der sich im hohen Norden überdurchschnittlich stark manifestiert und das Potenzial hat, Prozesse auszulösen, die mittelfristig auf die ganze Welt ausstrahlen. In der Arktis selbst sind indes schon jetzt direkte Folgen der Erderwärmung zu beobachten; nicht nur klimatisch, sondern auch politisch. Etwa in der Form eines Konkurrenzkampfs um Ressourcen und Einfluss in früher unzugänglichen Gebieten, die durch das Abschmelzen von Meereis zunehmend nutzbar werden. Es sind die geopolitischen und wirtschaftlichen Aspekte der von der Arktis ausgehenden Veränderungen, die im vorliegenden Buch zur Sprache kommen. Die Autoren nehmen eine umfassende Bestandesaufnahme vor, sowohl in historischer als auch aktueller Perspektive.
Die Texte basieren auf zahlreichen Reisen in die Region und den daraus hervorgegangenen Berichten, Reportagen und Analysen, die beide Autoren als Nordeuropakorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung verfasst haben:
Andreas Doepfner von 1982 bis 1985 von Stockholm aus, anschliessend als Redaktor von Zürich aus bis 1998; Rudolf Hermann von 2015 bis 2023. Persönlich gefärbte Beobachtungen und Erlebnisse sowie Fotos aus den Archiven der Autoren runden das im Teamwork geformte Bild ab.
Skandinavische Namen und Bezeichnungen werden in der Originalschreibweise wiedergegeben. Grönländische Ortsnamen erscheinen in ihrer heutigen, grönländischen Form; in historischem Kontext gegebenenfalls ergänzt durch die dänische Bezeichnung aus der Kolonialzeit. Bei slawischen Namen aus Sprachen mit kyrillischem Alphabet kommt zugunsten des Leseflusses eine vereinfachte Umschrift zur Anwendung.
Juni 2024
Rudolf Hermann Andreas Doepfner
Das Barents-Ostsee-Scharnier
Schnittstelle zwischen den Grossmächten 113
Das «Normannische Ufer» und seine strategische Stadt 116
Sowjetische Störmanöver und Eingriffe 121
Nordische Ambivalenz – und ein Verräter 129
Spielarten nordischer Neutralität: Schweden und Finnland im Kalten Krieg 133
Die Stunde der Diplomatie – «finnischer Sommer» 144
Sicherheit dank Verträgen und Vertrauensbildung 150
SEITENBLICK – Kommissarow 156
«Naivität ohne Ende» – unterschätzte Norwegen die neue Realität? 163
Ein seltener Lichtblick arktischer Zusammenarbeit: das Barents-Fischereiabkommen 168
Eine heisse Kartoffel für Norwegen: das «arktische Öl» 173
Frost der Geopolitik contra «Solidarität der Abgeschiedenen» 179
SEITENBLICK – Sechzig fröhliche Tage 184
Der Arktische Rat stösst an seine Grenzen 187
Die NATO-Norderweiterung: Auftakt zum Kalten Krieg 2.0? 191
SEITENBLICK – Die «Wolfsinsel» mit den grossen Ohren 196
Die Neuen Arktischen Seewege
Auf dünnem Eis: die Entwicklung der Nordostpassage 199
Neue Seewege im Norden 202
Das arktische Fischerdorf, das zum «Singapur Europas» werden möchte 207
Russland-China-Achse statt interkontinentaler Handelskorridor? 210
Finnland, die Eisbrechergrossmacht 214
Eine isländische Wette auf den Klimawandel 220
Trophäe Nordpol
Prestigekampf um ein Stück Meeresboden
USA Alaska
Fairbanks Cherskiy Pewek
Wrangelinsel
Barrow
Prudhoe Bay
Inuvik
Victoria Island
Banks Island
Beaufortsee
Ostsibirische See
Neusibirische Inseln
SIBIRIEN
Werchojansk
Laptewsee
10°C Isotherme
Einleitung
Das neue Gesicht der europäischen Hocharktis
NORDPOL
Baffin Island
Baffin Bay
Ellesmere Island
Qaanaaq (Thule)
GRÖNLAND
Alert
Sewernaja Semlja
Karasee
Franz-JosefLand
Nord
Svalbard (Spitzbergen)
Longyearbyen
Grönlandsee
Nowaja Semlja
Barentssee
Nordkap
Tromsø
NORWEGEN
KANADA
Beaufortsee
Ellesmere Island
Prudhoe Bay Alert
Qaanaaq (Thule)
Wrangelinsel
Ostsibirische See
Neusibirische Inseln
SIBIRIEN
Sewernaja Semlja
Grönlandsee Laptewsee
Franz-JosefLand Nowaja Semlja
Svalbard (Spitzbergen) Nordkap
NORWEGEN
«Wärmer als Paris», konstatierte die spitzbergische Lokalzeitung Svalbardposten trocken, als sie am 5. Juli 2023 das Messergebnis für die Lufttemperatur vom frühen Morgen im rund 2000 Einwohner zählenden Städtchen Longyearbyen publizierte. 14,5 Grad Celsius hatte das Thermometer um 8 Uhr angezeigt. In der französischen Hauptstadt war es zur gleichen Zeit 1 Grad kühler gewesen.
Nun ist Longyearbyen nicht wie Paris eine Metropole in mittleren Breiten, sondern der nördlichste bewohnte Ort auf der Erdkugel, der für sich einen gewissen städtischen Charakter in Anspruch nehmen kann. Auf 78 Grad nördlicher Breite gelegen, sind es von Longyearbyen, dem Hauptort des Spitzbergenarchipels, nur noch rund 1300 Kilometer zum Nordpol. Nach Süden hingegen beträgt die Luftdistanz bis Paris mehr als 3000 Kilometer. Im Juli, dem wärmsten Monat des Jahres, liegen die längerfristigen Durchschnittstemperaturen auf Spitzbergen zwischen 3 und 9 Grad.
Doch 2023 wurden mit 10,0 beziehungsweise 10,1 Grad Celsius an zwei Wetterstationen auf Spitzbergen erstmals seit Beginn der Messungen zweistellige Juli-Durchschnittstemperaturen ermittelt. Eine der einschlägigen Definitionen des Begriffs «arktisches Klima» lautet, dass im wärmsten Monat im Jahr die Durchschnittstemperatur einstellig bleibt. Nach dieser Massgabe sei Spitzbergen jetzt also nicht mehr «arktisch», sagte eine norwegische Klimawissenschafterin gegenüber Medien.
In der Hocharktis macht sich die Erderwärmung deutlich stärker bemerkbar als in anderen Weltgegenden. Das hat zu einem guten Teil damit zu tun, dass die Oberfläche der nördlichen Polregion weitgehend aus Wasser besteht. Bei einem tendenziell sich erwärmenden Klima entsteht ein Rückkopplungseffekt: Helles Eis, das Sonnenlicht zurückwirft, schmilzt im Sommer und wird zu dunklem Wasser, das dadurch wiederum mehr Sonnenlicht absorbiert. Die zusätzlich aufgenommene Wärme wird im Winter an die Atmosphäre abgegeben; es entsteht weniger neues Eis. So beginnt sich eine Spirale zu drehen.
Und sie dreht sich offensichtlich schneller, als in bisherigen Klimamodellen angenommen wurde. Zu diesem Schluss kam 2022 die Fachzeitschrift Nature in einer Studie, die empirische Daten aus den letzten rund fünf Jahrzehnten mit den Annahmen verglich, die einst für die Arktis getroffen worden waren. Generell seien die Projektionen von einer stärkeren Erwärmung des hohen Nordens gegenüber der Welt insgesamt um
den Faktor 2 bis 3 ausgegangen, hiess es bei Nature. Doch die tatsächlichen Zahlen legten nun nahe, dass es sogar um einen Faktor 4 gehen könne.
Rechneten Fachleute zunächst damit, dass die Nordpolregion um 2050 erstmals im Spätsommer eisfrei sein dürfte, so gibt es nun deshalb auch Prognosen, dass dieser Fall bereits etwa zehn Jahre früher eintreten könnte. Diese Entwicklung wird nicht nur von der Klimaforschung scharf beobachtet, sondern auch von globalen Akteuren in Politik und Wirtschaft. Denn schmelzendes Eis bedeutet nicht nur Zugang zu neuen Gebieten und ihren natürlichen Ressourcen, sondern öffnet auch Möglichkeiten für neue Transportrouten. Das weckt vielfältige Begehrlichkeiten.
Die neue Aufmerksamkeit für die Arktis hat im öffentlichen und medialen Raum bereits Spuren hinterlassen. Als 2019 der damalige US -amerikanische Aussenminister Mike Pompeo in einer Rede die «zunehmende Militarisierung der Arktis» durch Russland geisselte und gleichzeitig vor Chinas Ambitionen in der Nordpolregion warnte, katapultierte er damit die europäische Hocharktis mitten in die internationale Politik.
Die Bühne für Pompeos Auftritt war ein Treffen des Arktischen Rats gewesen, eines 1996 konstituierten Forums, das die acht Staaten zusammenbringt, die Arktisanrainer sind, und in dem auch die indigenen Bevölkerungsgruppen der Region eine Stimme haben. Im Arktischen Rat war bis 2019 über sehr vieles gesprochen worden: von kultureller Zusammenarbeit über wissenschaftliche Kooperation in Fragen etwa des Klimawandels bis hin zu Aspekten der Wirtschaftsförderung. Doch um die Sicherheitspolitik hatte man immer einen grossen Bogen gemacht. Zu konfliktreich war das Thema für eine Organisation, die sich für ihre Entscheide dem Konsensprinzip verpflichtet hatte.
Deshalb traf Pompeos Rede das Forum wie ein Blitzschlag. In dessen grellem Licht erschien eine neue Arktis: Das Gebiet war nicht mehr nur die abgelegene, weitgehend menschenleere Eiswüste von einst, die vornehmlich Forscher und Abenteurer angezogen hatte, sondern Pompeo beschrieb auch eine Arena, in der nun die Ambitionen der globalen Supermächte direkt aufeinanderprallen.
Dabei geht es um wirtschaftliche ebenso wie sicherheitspolitische Interessen. Ein zentrales Element ist die Nordostpassage, die vom Nordpazifik über die Beringstrasse entlang der russischen Nordmeerküste in den nordöstlichen Atlantik führt. Durch den Klimawandel wird diese Route in den Sommermonaten immer besser befahrbar.
Weil sie deutlich kürzer ist für Transporte zwischen Ostasien und Europa als der Weg über Südostasien und den Suezkanal, kann sie für die Weltwirtschaft eine wachsende Rolle spielen. Vor allem für China, denn Peking möchte die Nordostpassage für sich als «blaue Seidenstrasse» nutzen – und zwar sowohl für den Export von Industrieprodukten als auch für den Import von Rohstoffen. Für Russland wiederum ist die Nordostpassage der Seeweg, über den Erdöl und Erdgas aus seinen arktischen Feldern auf den Weltmarkt gelangt.
Ein weiteres Thema sind die Bodenschätze der Region. In der Arktis werden beispielsweise grosse Mengen an noch unentdecktem Erdöl und Erdgas vermutet. Dass es gerade auch der Gebrauch fossiler Brennstoffe ist, der die Klimaerwärmung vorantreibt und zum Rückgang des Meereises beiträgt (was wiederum der Petroleumindustrie das Vorstossen noch weiter nach Norden ermöglicht), ist aus der Perspektive des Klimaschutzes eine unheilvolle Rückkopplung. Eine Beschleunigung der Erwärmung der Arktis könnte wiederum gefährliche Kaskadeneffekte für den Rest der Welt auslösen.
Sich zurückziehende Gletscher geben ferner den Zugang zu grossen Lagerstätten von Mineralien strategischer Bedeutung frei, etwa Uran oder Seltenerdmetalle. Grönland spielt hier eine zunehmend wichtige Rolle. Zur Konsternation Dänemarks, zu dessen Königreich Grönland als autonomes Gebiet gehört, begann 2019 der damalige amerikanische Präsident Donald Trump deshalb laut über einen Kauf der Insel nachzudenken. Derweil sind die Chinesen längst dort präsent, etwa über Beteiligungen an Bergbauunternehmen.
Das ist in gewisser Weise symbolisch: Amerika hat den Start zum Wettlauf um die Arktis als Region von geopolitischer Bedeutung verschlafen. Amerikanische Kriegsschiffe in der Barentssee, die mittlerweile ziemlich oft bei Manövern zu beobachten sind, geben zwar Hinweise darauf, dass man dies erkannt hat und nun immerhin versucht, Präsenz zu markieren. Doch der Rückstand Washingtons lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen aufholen. Die USA verfügen über einen einzigen, mit Diesel angetriebenen schweren Eisbrecher mit Baujahr 1976, der sich dem Ende seiner Betriebsdauer nähert, sowie einen mittelschweren Eisbrecher, der 1999 in Dienst gestellt wurde. Russland hingegen hat bereits mehrere atomgetriebene Eisbrecher in Betrieb, die deutlich schwerer sind, und eine Reihe weiterer im Bau, die nochmals grösser werden sollen. China verfügt vor-
läufig über zwei konventionell angetriebene Eisbrecher, arbeitet aber dem Vernehmen nach seinerseits ebenfalls an einem superschweren atomgetriebenen.
Washington möchte das Manko zwar wettmachen: So wurde von der Politik der Aufbau einer Eisbrecherflotte aus drei schweren und drei mittelschweren Einheiten bis 2029 gefordert. Die Finanzierung allerdings lief harzig an, und bereits jetzt ist ein Verzug bei dem Vorhaben absehbar.
Um in der Polregion Ansprüche untermauern und Projekte – ob kommerzieller oder militärischer Natur – durchsetzen zu können, sind Eisbrecher zwar entscheidend. Doch die Arktispolitik der wichtigsten Spieler setzt auf ein breiteres Instrumentarium. Im Fall Russlands fällt der starke und vom Westen argwöhnisch beobachtete Aufbau militärischer Kapazitäten ins Auge. Die Aufrüstung ist insofern logisch, als Russland über eine lange arktische Küstenlinie verfügt und die Nordostpassage über weite Strecken in den Gewässern seiner exklusiven Wirtschaftszone verläuft. Da will man Muskeln zeigen können. Doch manifestiert sich hier zweifellos auch Moskaus Grossmachtambition in der arktischen Region allgemein.
China hingegen, kein Arktisanrainer, wenn auch ein selbsterklärter «arktisnaher Staat», versucht eher über Forschung und wirtschaftliche Hebelwirkungen in der Region Fuss zu fassen. Forschung sei ein legitimer Grund zum Aufenthalt und biete die Möglichkeit, Wissen zu akkumulieren, das später zivilen wie militärischen Zwecken dienlich sein könne, schrieb die Denkfabrik Arctic Institute dazu in einer sicherheitspolitischen Studie. Noch gebe es zwar wenige Zeichen dafür, dass für Peking die Ausweitung militärischer Kapazitäten im Vordergrund stehe. Zweifellos aber arbeite China daran, Strukturen aufzubauen, die dereinst die Durchsetzung seiner Interessen ermöglichten.
Nicht zuletzt pocht China auf Verkehrsrechte in der Nordostpassage nach internationalem Seerecht, wie einem chinesischen Grundlagenpapier zur Arktispolitik zu entnehmen ist. Das allerdings steht laut der Studie des Arctic Institute in einem gewissen Widerspruch dazu, wie Peking sich selbst gegenüber der übrigen Welt im Südchinesischen Meer verhält.
Dass die Arktis in den Fokus der grossen Akteure China, Russland und USA geraten ist, ist eine ambivalente Nachricht für Regionen wie Nordnorwegen oder Grönland – also Gebiete, die innerhalb ihrer jeweiligen Staaten, die im Weltmassstab schon selbst Leichtgewichte sind, nochmals am Rand liegen. Zwar könnten sie wirtschaftlich von der neuen Aufmerksamkeit für
die Polregion profitieren. Nordnorwegen etwa stellt den ersten westeuropäischen Landepunkt der Nordostpassage dar und wäre damit attraktiv für Infrastrukturinvestitionen.
Doch sollte das Geld dafür aus China kommen, läuten auf nationaler Ebene schnell einmal politische Alarmglocken. Dasselbe gilt für Grönland und sein Bergbaupotenzial. Und weil politische und militärstrategische Überlegungen im derzeit kühlen Klima zwischen dem Westen einerseits und Russland sowie China andererseits eine zunehmende Rolle spielen in nördlichen Meeresgebieten wie der Barentssee und der Norwegischen See, werden regionale Wirtschaftsinteressen schnell einmal von nationalen Sicherheitsbedenken überlagert.
In jedem Fall dürfte sich für die europäischen Staaten mit Arktisanstoss ihr Spielraum im hohen Norden in einem Umfeld zunehmend konkurrierender Grossmachtinteressen verringern. Denn den globalen Akteuren gegenüber vermögen diese Staaten, auf sich allein gestellt, kaum zu bestehen.
Europa als Weltregion hätte da schon mehr Gewicht. Eine koordinierte europäische Arktispolitik ist derzeit aber erst in Ansätzen auszumachen. Ein 2021 formuliertes Papier der Europäischen Kommission definiert die Klimaerwärmung als grösstes übergreifendes Risiko. Lösungsansätze für dieses globale Problem wären allerdings auf funktionierende multilaterale Kooperation angewiesen. Und gerade diese ist schwierig geworden, behindert durch politischen Frost und gegenläufige Grossmachtinteressen. Es wird vonseiten der Europäischen Union (EU ) denn auch eingeräumt, dass der geopolitische Wettbewerb zu einem kennzeichnenden Faktor in der Arktis geworden sei und dass damit die Verwirklichung des europäischen Ziels, die Region in Frieden nachhaltig zu entwickeln und den Wohlstand zu fördern, in Gefahr gerate. Indes sieht Brüssel für die Umsetzung seiner Arktispolitik in erster Linie die Arktisanrainer in der Pflicht. Dass die EU eine Arktisbeauftragte ernannt und im März 2024 in der grönländischen Hauptstadt Nuuk offiziell eine Vertretung eröffnet hat, sind zwar Anzeichen einer Kurskorrektur gegenüber früher. Klare Konturen muss das von Brüssel in Aussicht gestellte «verstärkte Engagement in der Arktis» jedoch erst noch erhalten.
Dass dieses vorerst diffus bleibt, kann allerdings nicht erstaunen. Die EU ist als Staatenbund ein politischer Akteur anderer Art als die USA , China oder Russland, die ihre Interessenpolitik zentral lenken können. Der medi-
Der hohe Norden: Gross, weit, menschenleer – und dennoch politisch zunehmend umkämpft. Lange stand die Arktis exemplarisch für eine Region friedlicher internationaler Zusammenarbeit. Doch dieser Charakter wird zunehmend überdeckt von einem Konkurrenzkampf der globalen Grossmächte um Ressourcen und Einfluss. Im Bild: Die Ostküste Grönlands auf der Höhe des Polarkreises, Aufnahme vom September 2018.
terrane Süden der EU zum Beispiel schaut für Akzente der EU -Aussenpolitik eher nach Nordafrika als in die Arktis, und für die ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten ist die direkte Bedrohung durch Russland vorrangig.
Von den europäischen Arktisstaaten sind zudem nur drei auch Mitglieder der EU (Dänemark, Schweden und Finnland). Die übrigen zwei – Norwegen und Island – gehören zwar dem Europäischen Wirtschaftsraum an, doch Norwegen verfolgt gerade in der Arktis auch von der EU -Perspektive abweichende Interessen und hat mit Brüssel in gewissen Bereichen sogar wesentliche Differenzen.
Bei der Formulierung ihrer Politik für den hohen Norden ging die EU von einer anhaltenden Existenz des «Sonderfalls Arktis» aus. Dieser beschreibt eine Region, in der internationale Akteure zusammen nach Lösungen suchen und dadurch Sicherheit schaffen. Brüssel hatte dabei vor allem Sicherheit in Bezug auf die Bedrohung durch den Klimawandel im Auge. Mit ihrem «Green Deal» wäre die EU auch gut positioniert gewesen, diesbezüglich eine grössere Rolle zu spielen.
Doch beim Thema Sicherheit hat inzwischen weit mehr der militärische Aspekt an Bedeutung gewonnen. Und der Grundton lautet nicht mehr «Kooperation», sondern «Konfrontation». Als koordinierendes Organ rückt deshalb eher die NATO als die EU in den Fokus der europäischen Arktisanrainer; umso mehr, als seit dem NATO -Beitritt Finnlands und Schwedens nun alle von ihnen Mitglieder in der Allianz sind.
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Thule Air Base/ Pituffik Space Base
Qaanaaq (Thule)
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Ittoqqorttoormiit (Scoresby-Sund)
Vom Rand Europas mitten in die Weltpolitik
Kangaamiut (Gamle Sukkertoppen)
Kangerlussuaq (Søndre Strømfjord)
Nördlicher Polarkre is
Nuuk (Godthaab)
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Reykjavík
Narsarsuaq
Qaqortoq (Julianehaab) Narsaq (Nordprøven)
Im internationalen Machtspiel um den hohen Norden hat sich Grönland in den letzten Jahren als wichtiger Akteur etabliert. Schon im Kalten Krieg war die riesige Gletscherinsel mit ihrer Lage zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion militärstrategisch bedeutsam gewesen. Heute ist sie es angesichts der markanten Abkühlung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen erneut. Durch die Klimaerwärmung wird ferner der grönländische Reichtum an strategischen Rohstoffen besser erschliessbar. Dies hat einerseits Chinas Interesse an der Insel geweckt, andererseits möchten die USA und die EU Lieferketten aufbauen, die von China unabhängig sind. Nun ist Grönland plötzlich mitten in der Weltpolitik: Hier treffen Pekings «blaue Seidenstrasse», Moskaus neuer Konfrontationskurs in der Arktis und Washingtons Sicherheitsinteressen aufeinander. Die gestiegene internationale Aufmerksamkeit beflügelt zwar die grönländische Politik in ihrem Bemühen, die ersehnte Unabhängigkeit zu erreichen. Doch im Dickicht der Ambitionen sowohl der globalen politischen Schwergewichte als auch der einstigen Kolonialmacht Dänemark ist der Weg dorthin hindernisreich.
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