RINGEN UM FREIHEIT
Liberalismus in der Schweiz
René Lüchinger
Peter Schürmann
Gerhard Schwarz
Ringen um Freiheit
Liberalismus in der Schweiz
NZZ Libro
Autoren und Verlag danken der Progress Foundation, Zürich und der Walter B. Kielholz Foundation, Zürich
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© 2024 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
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Karikaturen: Peter Gut, Winterthur
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Druck: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
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ISBN Print 978-3-907396-92-6
ISBN E-Book 978-3-907396-93-3
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
I. Erste Hälfte 19. Jahrhundert: Föderalismus Das Projekt Liberalismus
II. Mitte 19. Jahrhundert: Freiheit
III. Zweite Hälfte 19. Jahrhundert: Direkte Demokratie
IV. Erste Hälfte 20. Jahrhundert: Polarisierung
V. Zweite Hälfte 20. Jahrhundert: Saturiertheit
VI. Im Übergang zum 21. Jahrhundert: Orientierungslosigkeit Aus der Spur
VII. Liberalismus im 21. Jahrhundert: Immer wieder neu herausgefordert
Notizen zu diesem Buch
Die Erfolgsgeschichte der Schweiz, zu deren Grundpfeilern die Urform der Demokratie mit ihren Errungenschaften Fortschritt, Freiheit und Wohlstand gehört, ist ohne Liberalismus als treibende Kraft nicht denkbar. Diese Freiheit ist untrennbar verbunden mit der persönlichen Eigenverantwortung. Als zentraler Wert führt er in der Wirtschaft zum Konzept der Marktwirtschaft, in der Politik zur direktdemokratischen Mitentscheidung der Bevölkerung, zur Mitwirkung im Rahmen des Milizsystems und staatspolitisch zu einem föderalistischen Staatsaufbau.
Die Idee zu einem Buch über Demokratie- und Freiheitsverlust entstand 2016, im Umfeld des US-Wahlkampfs, als urliberale Werte wie Toleranz, Wahrheit, Redlichkeit und Glaubwürdigkeit im demokratischen Amerika gefährdet schienen. Die damit verbundene Frage, ob in naher Zukunft mit dem Zerfall von Grundwerten der liberalen Demokratie gerechnet werden müsse, war starke Motivation für die Realisierung dieser Publikation. Als die Corona-Pandemie auch die schweizerische liberale Gesellschaft herausforderte, war das «Ringen um Freiheit» – so der Titel des Buches – auch in einer der ältesten Demokratien der Welt wieder akute Notwendigkeit geworden.
Im Grunde zieht sich dies durch zweihundert Jahre helvetische Geschichte: Seit dem Gründungsjahr der modernen Schweiz ist der Kampf um Freiheit virulent und stets waren es die staatsgründenden Liberalen, die dabei an vorderster Front standen. «Liberalismus in der Schweiz» lautet deshalb nicht umsonst der Untertitel dieser Publikation. Die Errungenschaften und die Rückschläge auf dem Weg zur heute selbstverständlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Freiheit in diesem Land nehmen grossen Raum ein. Dies mit Absicht: Wohl nie seit dem Zweiten Weltkrieg scheint die individuelle Freiheit auch bei uns immer stärker zur Disposition zu stehen. Auch bei uns verliert sich das Bewusstsein dafür, was wirklich auf
dem Spiel steht. Die Vergangenheit wird so zum Spiegel für den möglichen Verlust an Freiheit.
Dass dies nicht Alarmismus ist, zeigt die Gegenwart. Freiheitliche Werte und wirtschaftliche Erfolgsfaktoren der Schweiz sind für viele Bürgerinnen und Bürger immer weniger schützenswertes Gut und immer mehr gestriger Ballast, der sich auf dem Altar des Zeitgeistes leichtfüssig opfern lässt.
Wokeness, die Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung zu propagieren vorgibt, mutiert zur illiberalen Attitüde, die Andersdenkende des Autoritarismus bezichtigt. Wer heute bürgerlich-liberale Werte vertritt und sich gegen ein wokes Minderheitendiktat stellt, wird schnell einmal als rechtsextrem, als Faschist oder gar als Nazi beschimpft. Es wächst eine Wohlfühlgeneration heran, die im Wohlstand aufgewachsen ist, Freiheit und Demokratie als unverrückbare Konstanten versteht. Eine Reihe wirtschaftskritischer bis -feindlicher, teilweise erfolgreicher Initiativen und Referenden seit der Jahrtausendwende lässt erkennen, dass sich viele Menschen der Quellen des Wohlstands nicht mehr bewusst sind und nicht verstehen (wollen), dass die Existenz der Schweiz, deren Erfolgsmodell nicht gottgegeben ist, sondern gerade heute angesichts tektonischer geopolitischer Umwälzungen geschützt und neu erkämpft werden müssen. So wie das immer gewesen ist: Die moderne Schweiz entstand 1848 im Freiraum angrenzender europäischer Grossmächte, überstand zwei Weltkriege als demokratische Insel im Meer des europäischen Faschismus und muss sich heute gegen die Grossmacht EU behaupten. Sechs Generationen Schweizerinnen und Schweizer haben seit der Gründung des Bundesstaates Selbstbehauptung gezeigt, weil das Feuer für die Freiheit des Individuums nie erloschen ist. Wir, die heute Lebenden, müssen sicherstellen, dass wir den Nachgeborenen eine Schweiz übergeben, die mehr ist als Glut ohne Feuer.
Wie das auch im 21. Jahrhundert gehen kann: Auch davon handelt dieses Buch.
Peter Schürmann
Zürich, Sommer 2024
I.
Erste Hälfte 19. Jahrhundert: Föderalismus
Rebellion – Revolution – Restauration – Regeneration
Das Projekt Liberalismus schlägt sich eine Schneise
Die Eidgenossenschaft ist traditionell konservativ-föderalistisches Terrain. Im Nachgang der Französischen Revolution treten jedoch liberale Kräfte auf den Plan, die aus Überzeugung und auf Geheiss Napoleons nach französischem Vorbild den ersten schweizerischen Einheitsstaat schaffen. Die Helvetische Republik wird zum Trainingslager für den liberalen Bundesstaat, setzt aber auch das süsse Gift des Zentralismus in die heile helvetische Welt.
Kein Eidgenosse ist er. Sondern Preusse. Keiner, der Mundart über seine Lippen brächte. Sondern auf Sächsisch parliert. Als er in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in die Schweiz einwandert, schimpfen sie ihn einen Sidian1 , einen Franzosenfreund. Möglicherweise liegt dies daran, dass Heinrich Zschokke in einer Zeit aufkreuzt, als hierzulande Restauration und Revolution, Föderalisten und Unitarier hoffnungslos ineinander verkeilt sind, er selbst aber unberührt von jedem Zweifel das Banner des Nationalstaates hochhält, wie er in Frankreich bereits Realität ist.
Ein Bannerträger des Einheitsstaates: Heinrich Zschokke Mit besonderer Verve vertritt er diesen zentralistischen Standpunkt am 12. Mai des Jahres 1829. An diesem Tag steht er im aargauischen Schinznach und spricht zu den Mitgliedern der «Helvetischen Gesellschaft», die Heinrich Zschokke gerade einigermassen überraschend zu ihrem Präsidenten gewählt haben.
Die Helvetische Gesellschaft ist eine überkonfessionelle, aufklärerische und überkantonal-eidgenössische Vereinigung, die im Jahre 1761 von fortschrittlichen Privatpersonen aus Bürgertum und Aristokratie in Schinznach gegründet wird. Hier werden republikanische Tugenden wie Freiheit, Gleichheit oder Überwindung des Konfessionalismus gepflegt, hier wächst die kantonsübergreifende Idee der Schweiz.
Zwei Stunden lang, atem- und pausenlos, redet er den Anwesenden ins Gewissen. Der Präsident erinnert an die dunklen Jahre des vergangenen Jahrhunderts: «Vor etwa siebenzig Jahren glich die löbliche Eidsgenossenschaft der dreizehn Orte einem ehrwürdigen gothischen Gebäu, im Schatten uralter Freiheits-Eichen, aber vom Finger der Jahrhunderte schon hart betastet. Hin und wieder war durch Verwitterung die äussere Tünche abgefallen und verrieth Risse geborstener Mauern bis in die Tiefen der Grundfeste.»2 Zerfallserscheinungen erkennt der Mahner auch in der Gegenwart. «Das politische Auseinanderfallen, Sichvereinzeln und Insichzusammenschrumpfen von zweiundzwanzig kleinen Gemeinwesen greift feindselig in das edlere Lebensverhältniss der Nation ein, und droht allmälig die Fortschritte des Nationalgeistes zu schwächen, der allein noch, und nichts sonst, ein ruhmvolles und unabhängiges Dasein der Schweiz sichern wird.»3 Wo
die Alte Eidgenossenschaft der dreizehn Orte im 18. Jahrhundert nie Nation sein kann, sind die 22 Kantone im beginnenden 19. Jahrhundert in sich zu zerstritten, um Nation werden zu können als Garantin für die Freiheit des Volkes. «Die Untrennbarkeit der Eidgenossenschaft», ruft Heinrich Zschokke nach zwei Stunden vom Rednerpult herab, «steht unausrottbar in der Nation.»4
Wie aber kommt ein Preusse dazu, solches zu fordern? Einer, der vor über drei Jahrzehnten, im Herbst 1795, als damals vierundzwanzigjähriger in einer Art jugendlichem Überdruss über sein Dasein als gefeierter Schriftsteller seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte? Über Schaffhausen wandert er in die Schweiz ein und wähnt sich im Paradies. Später notiert er in überschwänglichen Worten und doch in seltsam distanzierter dritter Person: «Er schien in einer verklärten Welt zu schweben, da er diese Gebirge, diese Wasserfälle, dieses üppige Pflanzenleben erblickte. In den Rheinfall weinte er still betend die Thränen seiner Freude. Er durchwanderte nun in allen Richtungen einen beträchtlichen Theil Helvetiens, um sich mit Verfassungen, Sitten und Lebensweisen der Gebirgsvölker, unter denen er einst zu leben dachte, vertraut zu machen.»5
Die Idylle eines Landes, «dessen Bewohner in Freiheit und natürlicher Unschuld lebten»6, wie das Heinrich Zschokke zu sehen glaubt, existiert jedoch lediglich in seinem Kopf. In Wahrheit wirken seit geraumer Zeit gegenläufige Kräfte, welche die kleinteilige Eidgenossenschaft in einer seltsamen gesellschaftlichen und politischen Immobilität verharren lassen –rückwärtsgewandte, die patrizische und aristokratisch-landadlige Herrschaftsstrukturen aus der Alten Eidgenossenschaft auch im Ancien Régime erhalten wollen, und solche, die sich auf das von französischen Aufklärern propagierte Naturrecht berufen und sich nach früheren, als natürlich und frei empfundenen Zeiten sehnen.
Alte Eidgenossenschaft wird der Bund vor dem ersten Nationalstaat der Schweiz genannt, der im Jahre 1798 mit der Helvetischen Republik entsteht. Er bestand aus den 13 Alten Orten – Land Uri, Land Schwyz, Land Unterwalden, Stadt Zürich, Stadt Luzern, Stadt und Land Zug, Stadt und Republik Bern, Land Glarus, Stadt Freiburg, Stadt Solothurn, Stadt Schaffhausen, Stadt Basel, Land Appenzell –, deren Untertanengebieten, gemeinen Herrschaften sowie zugewandten Orten.
Ancien Régime ist ein ursprünglich liberaler Kampfbegriff für die Zeiten vor der Französischen Revolution 1789. In der Schweiz bezieht er sich auch auf die Zeit vor 1798, bevor die Eidgenossenschaft zum Einheitsstaat nach französischem Vorbild wird.
Es sind keine gewaltbereiten Aufständischen gegen eine verknöcherte Obrigkeit und sie verwenden den Begriff der Revolution noch in seiner ursprünglichen Bedeutung als Rückwendung zu früheren besseren Zeiten.
Der Begriff der Revolution entstammt dem spätlateinischen revolutio, Umdrehung. In der mittelalterlichen Astronomie bezieht er sich auf revolvierende, immer wieder auf eine gleiche Bahn zurückkehrende Bewegungen der Sterne.
In der Eidgenossenschaft sind es keineswegs Bauern aus der politisch rechtlosen Landschaft, die sich von der Gegenwart abwenden wollen, sondern Fabrikanten, die dort mit Wasserkraft eine mechanisierte Textilindustrie aufgebaut haben, wohlhabend geworden sind und sich nun an den Privilegien der Städter stossen. «Sie wollen die alte Freiheit des Vaterlandes wieder herstellen», urteilt der Historiker Tobias Kästli, «und deshalb nannten sie sich Patrioten.»7
Als Patrioten werden ursprünglich die Unabhängigkeitskämpfer in Amerika, später die Revolutionäre in Frankreich bezeichnet. Der Patriotismus umfasste auch das Streben nach dem Wohl der Heimat auf dem Fundament von Aufklärung und Naturrecht. In der Eidgenossenschaft nannten sich die Gegner der aristokratischen Herrschaft Patrioten – dies bereits vor der Französischen Revolution.
Als Heinrich Zschokke am Rheinfall Schweizer Boden betritt, könnte auch er durchaus als Patriot der Eidgenossenschaft durchgehen, und selbst mit seiner schwärmerischen Schweiz-Begeisterung steht er nicht allein. Frühe Aufklärer wie Albrecht von Haller mit seinem im Jahre 1729 veröffentlichten Bestseller-Gedicht Die Alpen oder auch der «citoyen de Genève» JeanJacques Rousseau, der den homo helveticus alpinus zum «glücklichsten Volke auf Erden» adelt und von Landsleuten schwärmt, «die Staatsangelegenheiten unter einer Eiche entscheiden und dabei stets mit grosser Weisheit zu
Abb. 1: Patriot der Eidgenossenschaft: Heinrich Zschokke, um 1801
Werke gehen»8, begründen eine wirkungsmächtige Tradition des «Helvetismus» als Gegenentwurf zum masslos-dekadenten höfischen oder patrizisch-städtischen Lebensentwurf. Viele schlägt diese in ihren Bann und so wächst in der Alten Eidgenossenschaft erstmals überhaupt so etwas wie ein gesamtschweizerisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das Jahre später in Teilen der alpinen Bevölkerung den Wunsch nach dem Nationalstaat nährt.
In dieser Gemengelage reicht ein Funke, um aus idealistisch-rückwärtsgewandten helvetischen Patrioten Revolutionäre im modernen Sinn zu machen. Dieser Funke zündet mit der Französischen Revolution, die beim Nachbarn im Westen 1791 zum ersten Nationalstaat der Moderne führt. In den 1790er-Jahren, als Heinrich Zschokke als romantischer Schweiz-Fan hierzulande aufkreuzt, springt dieser Funke auch auf Gebiete der Alten Eidgenossenschaft über. Und als Heinrich Zschokke im Sommer 1848 in Aarau stirbt, ist eine nationalstaatliche schweizerische Bundesverfassung in Sichtweite: In diesen politischen Zeiten, auf diesem Weg wird Heinrich Zschokke zum homo politicus, zum «Wegbereiter der Freiheit»9, urteilt sein Biograf Werner Ort, und wächst im Werdungsprozess der modernen Schweiz zum epochalen Zeitzeugen empor.
Am Anfang des neuen Jahrzehnts herrscht freilich zunächst Unübersichtlichkeit in Europa und auch in der Schweiz. Heinrich Zschokkes alte Heimat Preussen ist mit Österreich zur Verteidigung der Monarchie seit 1792 in den Ersten Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich verstrickt – die Eidgenossen verhalten sich neutral, obwohl sich die Patrizier in Bern vehement gegen die Revolution stellen und auch die herrschenden Geschlechter in Solothurn, Freiburg, in der Innerschweiz verhehlen ihre Abneigung keineswegs. Revolutionär gesinnt sind dagegen der Aargau und vor allem die Waadt, beides Untertanengebiete Berns. Als die revolutionäre Republik Frankreich mit Preussen und Österreich separate Frieden schliesst, damit die Koalition der europäischen Monarchien sprengt und sich zur gestaltenden Kraft auf dem Kontinent aufschwingt, sehen die dortigen Patrioten einen Weg in die Unabhängigkeit von Bern. Die Neutralität in diesem Krieg und der unverhoffte Sieg der Franzosen gegen den europäischen Absolutismus nährt Hoffnungen auf Unterstützung im Befreiungskampf gegen die Obrigkeiten im eigenen Lande.
Eine gestaltende Kraft in Europa: Napoleon Bonaparte
Die Geschichte schlägt jedoch wieder einen unerwarteten Haken. In Frankreich, wo inzwischen ein fünfköpfiges Direktorium an der Spitze der Republik steht und der im Krieg gegen Österreich erfolgreiche General Napoleon Bonaparte an Einfluss gewinnt, besitzt die Neutralität der Eidgenossenschaft keinen Wert mehr. Im Gegenteil: Die Revolutionäre im Westen sehen insbesondere Bern als Hort der Konterrevolution monarchistischer Strömungen und registrieren auch, dass eidgenössische Orte restaurativen Köpfen Asyl gewähren. Das Direktorium beschliesst also, die patrizischen Régimes zu beseitigen, die Schweiz als zentralstaatliche «Schwesterrepublik» eng an sich zu binden – wie zum Beweis annektiert Frankreich am 14. Dezember 1797 die südlichen Ämter des Fürstbistums Basel, welche eigentlich in die eidgenössische Neutralität eingebunden sind. Die in Aarau versammelte Tagsatzung reagiert zahnlos auf diese Verletzung der Neutralität, ruft nicht zum militärischen Widerstand, sondern beschwört in Worthülsen die alten Bünde.
Die Tagsatzung ist eine regelmässige Versammlung der Abgesandten der Orte, in welcher während der Alten Eidgenossenschaft die Bundesangelegenheiten geregelt werden.
Dies wirkt wie ein Brandbeschleuniger für die Helvetische Revolution.
Die Helvetische Revolution bezeichnet die Umwälzungen innerhalb der Alten Eidgenossenschaft in den Jahren 1797/98 vor der Gründung der Helvetischen Republik.
Ländliche Oberschichten, hauptstädtische Patrioten und Honoratioren aus den Munizipalstädten verbünden sich nun gegen das Ancien Régime. Überall im Land werden Freiheitsbäume errichtet, Revisionen bestehender Verfassungen auf den Weg gebracht, Symbole der alten Herrschaft geschleift und in Basel entsteht Ende Januar 1798 mit der Gleichberechtigung der Baselbieter und der Errichtung einer gesetzgebenden «Nationalversammlung» das erste moderne Parlament im Land.
Freiheitsbäume wurden beispielsweise während der Französischen Revolution aufgestellt und symbolisierten die Freiheit.
Wie ein Tsunami fegt der Ruf nach Freiheit durch die Eidgenossenschaft. Keine zehn Wochen später gibt es keine untertänigen Gebiete mehr, dafür einen lockeren Staatenbund mit knapp vierzig unabhängigen territorialen Einheiten, die als repräsentative Demokratien oder Republiken mit Landsgemeinden organisiert sind. Die befreiten Landschaften betrachten sich nun als gleichrangige Verbündete der dreizehn Orte.
Frankreich jedoch verfolgt mit der nun föderalistisch-demokratischen Eidgenossenschaft andere Pläne, welche die gerade erlangten Freiheiten in den ehemaligen Untertanengebieten Makulatur werden lassen. «Das französische Direktorium liess die konstitutionellen Experimente in der Schweiz im Frühjahr 1798 so lange gewähren, bis es auf den Trümmern der alten Ordnung seine eigene Vorstellung einer erneuerten Schweiz durchsetzen konnte»10, notiert der Historiker André Holenstein. In Paris ist der schweizerische Einheitsstaat nach französischem Vorbild längst beschlossene Sache – zu gross ist die Angst, die alten Eliten könnten durch Zugeständnisse an die Befreiungsbewegungen wieder Oberhand gewinnen.
Ein Handlanger der Franzosen: Peter Ochs Handlanger für diese Transformation ist ein Eidgenosse, ein überzeugter Liberaler und frankophiler Aufklärer namens Peter Ochs. Der Jurist hat während des Ersten Koalitionskriegs den Friedensschluss zu Basel zwischen Preussen und Franzosen orchestriert und gilt in Paris als «wichtigster eidgenössischer Gesprächspartner».11So sitzt Peter Ochs in Verhandlungen über «eidgenössische Angelegenheiten»12 dem französischen Direktorium und auch Napoleon Bonaparte gegenüber, wird Zeuge des Einmarschs französischer Revolutionstruppen in der Waadt als Brückenkopf gegen Bern –die Stadt ist vehemente Gegnerin einer helvetischen Einheitsverfassung. Den Auftrag, eine solche auszuarbeiten, hat Ochs von Napoleon bereits gefasst. Alternativen zum Willen der Besetzer, zum Entwurf zur zentralistischen Helvetischen Republik, existieren keine mehr: nicht die Berner Sehnsucht nach verflossenen patrizischen Zeiten, nicht eine um die ehemaligen Untertanengebiete erweiterte föderalistische Eidgenossenschaft.
Peter Ochs tut, wie ihm aufgetragen. In der Verfassung heisst es: «Die helvetische Republik macht einen unzertheilbaren Staat aus», aufgebaut auf dem Grundsatz der Volkssouveränität, der dem männlichen Volk jedoch nur ein Minimum an demokratischen Rechten einräumt13 und die bislang
Abb. 2: Gesamteidgenössische Beamte: Wilhelm-Tell-Siegel
souveränen Kantone zu blossen Verwaltungseinheiten degradiert. Am 12. April 1798 konstituieren sich in Aarau frisch gewählte Delegierte aus zehn Kantonen zum ersten gesamtschweizerischen Parlament und ratifizieren die aufoktroyierte Verfassung. Die Eidgenossenschaft ist nun ein Nationalstaat mit rotierender Hauptstadt14, einer trikoloren Nationalflagge in Grün/Rot/Gelb und erstmals gesamteidgenössischen Behörden, die ihre amtlichen Papiere mit einem Wilhelm-Tell-Siegel zu schmücken pflegen.
Vier Monate später taucht Heinrich Zschokke nicht zufällig in Aarau, der frisch gekürten Hauptstadt der Helvetischen Republik, wieder auf und ist bereit, sich nun nach Kräften in die zentralstaatliche Tagespolitik einzumischen. Auch er hat strube Zeiten hinter sich, die dem revolutionären Umbruch der politischen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft und dem Kampf um einen eidgenössischen Einheitsstaat geschuldet sind. Diese Geschichte beginnt im östlichen Zipfel der Alten Eidgenossenschaft, «in Chur, Hauptstadt der drei ewigen Bünde im hohen Rhätien», dem zugewandten Ort, wo Zschokkes «Lebensschicksal sehr unerwartete Wendung»15 erfährt. Sie ereignet sich im August 1796, als er mit einem Empfehlungsschreiben eines Pädagogen in der Tasche am Seminar von Reichenau an die Tür klopft. Auf Schloss Reichenau hat der frankophile und reformierte Johann Baptist von Tscharner ein Seminar errichtet. Der Aristokrat und Führer der Patrioten will hier Bündens Jugend in aufgeklärtem Geiste und unabhängig von Herkunft und Konfession erzieherisch vorbereiten auf zukünftiges staatspolitisch-republikanisches Wirken – und er legt die Leitung seiner Schule in die Hände des Zugewanderten Heinrich Zschokke.
Dieser gerät mit dem Seminar zwischen die politischen Fronten. Die republikanische Ausrichtung der Erziehungsanstalt, die Begeisterung des Gründers für die Ideen der Französischen Revolution passen nicht allen in Graubünden – etwa der mächtigen, nach Österreich orientierten Bündner Aristokratenfamilie von Salis. Historiker Werner Ort spricht von offener «Feindschaft zwischen den Patrioten und der ‹Salis-Partei›»16 und der Bischof von Chur gibt gar die Weisung heraus, sämtliche katholischen Zöglinge hätten Reichenau zu verlassen – trübe Aussichten für den inzwischen zum Mitbesitzer aufgestiegenen Heinrich Zschokke: Eltern ziehen ihre Kinder aus dem Seminar ab, und im Mai 1798 ist das Seminar Reichenau am Ende.
Etwas Gutes hat diese Entwicklung für Heinrich Zschokke dennoch. Enthoben als Seminardirektor und inzwischen erhoben zum Bündner Bürger, kann er die politische Zurückhaltung ablegen, die er sich als Ausländer
bisher auferlegt hatte. Er stürzt sich, urteilt der Bündner Schriftsteller Martin Schmid, «leidenschaftlich und ehrgeizig ins lohende Feuer der politischen, blutigen Auseinandersetzungen»17, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kampf um die Freiheit in der Alten Eidgenossenschaft auftun. Als am 12. April 1798 kantonale Delegierte in Aarau die Helvetische Republik ausrufen, tritt in Chur auch Heinrich Zschokke in Aktion. «An das freie Bündnervolk» verfasst er die Flugschrift Soll Bünden sich an die vereinte Schweiz schliessen?. Ein Plädoyer ist’s für den Anschluss an den Nationalstaat. Damit öffnet der Zugezogene die Büchse der Pandora: Fortan stehen sich im Bündnerland, dem Grenzland zwischen dem republikanischen Frankreich und dem monarchistischen Österreich, Integrationsfreudige und auf Unabhängigkeit pochende Traditionalisten unversöhnlich gegenüber. In Chur versuchen Bewaffnete das Rathaus zu stürmen und die Neueste Weltkunde meldet, «in Chur verbrannte eine grosse Gesellschaft von Bauern in einem öffentlichen Wirtshause»18 Zschokkes Schrift Freie Bündner, verlasst die braven Schweizer nicht!, die dieser als zweites publizistisches Wurfgeschoss publiziert hatte. Dabei bleibt es nicht. Bauern aus dem Untervaz erkundigen sich mit der Flinte in der Hand nach dem Aufenthaltsort von Heinrich Zschokke und behaupten, auf diesen sei ein Kopfgeld ausgesetzt – die Obrigkeit hatte beschlossen, Anschlusswillige an die Schweiz seien mit dem Tod zu bestrafen. Heinrich Zschokke versteht die Zeichen: Am 9. August 1798 besteigt er ein Floss, das ihn rheinabwärts in Sicherheit bringt.
Im Epizentrum der Politik19 taucht Heinrich Zschokke wieder auf, erwirbt das Bürgerrecht der Helvetischen Republik und mischt sich mit vollem Einsatz in eidgenössische Belange ein. «In der Helvetischen Republik schien ihm möglich, was in Frankreich misslungen war: dem Prinzip von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen», konstatiert sein Biograf Werner Ort. Er «war gewillt, in der Schweiz zu einer aufgeklärten Gesellschaft beizutragen und gegen alle Widerwärtigkeiten und Widersacher zu kämpfen»,20 und er identifiziert ein dafür geeignetes Aktionsfeld: die positive Beeinflussung der öffentlichen Meinung insbesondere bei der Bauernschaft für den neuen Einheitsstaat mittels der Presse.21 Im November 1798 nimmt Heinrich Zschokke dies an die Hand. Drei Jahre nach seiner Zuwanderung ist er als Chef eines «Bureaus für Nationalkultur» staatlicher Beamter im helvetischen Kulturministerium22 und Herausgeber einer Wochenschrift mit dem sperrigen Titel Der aufrichtige und wohlerfahrene Schweizer-Bote, welcher nach seiner Art einfältiglich erzählt, was sich im lieben
schweizerischen Vaterlande zugetragen, und was ausserdem die klugen Leute und die Narren in der Welt thun, und auf dem Cover prangt als Reminiszenz an die Gründung der Eidgenossenschaft eine Darstellung des Rütlischwurs. Der Schweizer-Bote ist ein «ächtes Volksblatt»23, erste Boulevardzeitung überhaupt, die sich in einfacher und direkter Sprache an das ungebildete bäuerliche Volk wendet, Propagandistin der Helvetischen Republik und eines schweizerischen Nationalbewusstseins, vorsichtig wohlwollend gegenüber der französischen Besatzungsmacht, ablehnend gegenüber den Exponenten des Ancien Régime und jeglichem österreichischem Einfluss – innert weniger Wochen erreicht er eine Auflage von 3000 Exemplaren und avanciert zu grundsätzlicher pressehistorischer Bedeutung als erster «Versuch systematisch und über einen längeren Zeitraum auf die bäuerliche Bevölkerung einzuwirken und von den Vorteilen der bürgerlichen Ordnung zu überzeugen»24, urteilt der deutsche Medienhistoriker Holger Böning.
In politisch aufgeladenen Zeiten hat freilich nur wenig Bestand. Von aussen und innen wirken destabilisierende, ja zersetzende Kräfte auf die Helvetische Republik ein. Die französische Besatzungsmacht zwingt Gebiete mit föderalistischer Landsgemeinde-Tradition als neuformierte Kantone in den republikanischen Einheitsstaat – etwa Uri, Schwyz, Unterwalden in einen Kanton Waldstätte, beide Appenzell in einen Kanton Säntis, Glarus in einen Kanton Linth.25 Um in solchen Gebieten des Widerstands die Autorität der Zentralregierung aufrechtzuerhalten, wird aus der Hauptstadt Heinrich Zschokke als Kommissär mit weitgehenden Vollmachten dorthin entsandt. Dieser merkt bald, wie wenig Kredit die Helvetische Republik in Stans oder Schwyz, in Lugano oder Bellinzona besitzt, wird aber auch Zeuge von Plünderungen der französischen Armee in den Dörfern draussen im Land. Im Zweiten Koalitionskrieg um die Wende zum 19. Jahrhundert werden Teile des Landes zum Schlachtfeld zwischen Frankreich und einer österreichisch-russisch-britischen Allianz. Nach dem Sieg der Franzosen scheint die Aussenfront einigermassen befriedet, die Helvetische Republik zumindest an der Oberfläche stabilisiert – im Innern jedoch gärt es weiter.
Föderalisten aus den alten Orten verharren in vorrevolutionären Vorstellungen von kantonaler Souveränität in einem eidgenössischen Staatenbund. Selbst bei den Anhängern der Revolution herrscht nun Dissonanz: Sie separieren sich in die alten unitaristischen Patrioten, die sich als eigentliche Volkspartei mit starkem Rückhalt in den ehemaligen Untertanengebieten sehen, und in die Republikaner aus dem gebildeten städtischen, durchaus
Abb. 3: «Ächtes Volksblatt»: Schweizerbote, Erstausgabe 1798