Barbara Straka. Nietzsche forever?

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BARBARA STRAKA

NIETZSCHE FOREVER ?

Friedrich Nietzsches

Transfigurationen in der zeitgenössischen Kunst

Friedrich Nietzsches Transfigurationen in der zeitgenössischen Kunst

Teilband 1

Schwabe Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Elisabeth Jenny-Stiftung, Riehen

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Abbildungen Umschlag und Innenklappe: Thomas Hirschhorn, Nietzsche-Car, 2008 (Gesamtansicht und Detail), mixed media, Programa Allgarve de Arte Contemporânea, Antiga Lota no Passeio Ribeirinho, Portimão, Portugal, Courtesy Fondation Jan Michalski pour l’écriture et la littérature, Montricher (CH), Fotos: Romain Lopez, Courtesy of Thomas Hirschhorn © VG BildKunst, Bonn 2025

Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin

Cover: icona basel gmbh, Basel

Satz: mittelstadt 21, Andreas Färber, Vogtsburg-Burkheim

Druck: Balto Print, Vilnius

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ISBN 978-3-7965-4652-5

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

«Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.»

(Aus hohen Bergen. Nachgesang, JGB, KSA 5, S. 243)

Inhalt

Teilband 1

Geleitwort: Andreas Urs Sommer IX

1. Einleitung: Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

1

2. Nietzsches ‹Umwertung›: Zur Rezeptionsentwicklung nach 1945 17

3. Diskurs in der Fachöffentlichkeit: Sachstand und Defizite 33

4. Nietzsche als Thema von Kunstausstellungen 55

4.1 Thematische und anlassbezogene Ausstellungen 55

4.2 Kontinuierliche Ausstellungstätigkeit der NietzscheForschungsstätten in Sils Maria, Naumburg und Weimar 75

4.2.1 Das Nietzsche-Haus in Sils Maria / Engadin

4.2.2 Nietzsche-Haus und Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg/Saale

75

86

4.2.3 Das Nietzsche-Archiv in der Weimarer ‹Villa Silberblick› 90

5. Nietzsches Transfigurationen in der zeitgenössischen Kunst: Themen und Werke

5.1 Person, Typus, Physiognomie – Nietzsche im Porträt

99

108

5.1.1 Aussehen, Wesen, Wirkung 108

5.1.2 Physiognomie .

112

5.1.3 Typisierung Nietzsches und Nietzsche-Typologie 124

5.1.4 Porträts .

132

5.1.4.1 Personifikationen und Transformationen 136

5.1.4.2 Abstraktion 141

5.1.4.3 Porträt-Serien

142

5.1.4.4 Doppel- und Gruppenporträts 153

5.1.4.5 Historisierende Nietzsche-Porträts .

5.2 Elisabeths Erbe? Nachwirkungen nationalsozialistischer Nietzsche-Adaption .

162

175

5.3 Biografische Episoden, schicksalhafte Begegnungen und Beziehungen 206

5.3.1 ‹Drama Nietzsche›: Familie, Kindheit, Lebenszyklus . .

5.3.2 Von der «Sternen-Freundschaft» zur Erzfeindschaft: Richard und Cosima Wagner

5.3.3 Das verhängnisvolle «Dreigestirn»: Friedrich Nietzsche, Lou von Salomé und Paul Rée .

206

227

237

5.4 «Nietzsche nackt?»: Erotik und Sexualisierung

5.5 Nietzsches Reisen und die «Wanderschaft des Lebens» 291

5.6 Nietzsches Orte, Landschaften und das Phänomen der ‹Aura› 329

5.7 Relikte und ‹Reliquien›

Teilband 2

5.8 Werke, Zitate und Begriffe

5.8.1 Name und Signatur

5.8.2 Sprache, Zitate und Begriffe

5.8.3 Nietzsche-Werkbezüge

5.8.4 Nietzsche lesen

5.9 Zarathustra – Zyklen und Motive

5.9.1 Annäherungen

5.9.2 Zarathustra-Zyklen

5.9.3 Einzelmotive, Gleichnisse und Symbole

5.9.4 Der ‹Seiltänzer› als ein zentrales Motiv

5.10 Die ‹Turiner Pferdeumarmung›

5.11 Einsamkeit, Krankheit und Tod

5.11.1 «Heimat Einsamkeit»

5.11.2 Krankheit und Wahnsinn

5.11.3 Tod und Totenmaske

5.12 Denkmäler, Antidenkmäler und Events 584

5.13 «Being Nietzsche»

5.14 Nietzsche wird Pop

5.14.1 Popularisierung, Trivialisierung und Kommerzialisierung

5.14.2 Der Einfluss der Populärkultur auf Nietzsche-Bildnisse und -Themen in der zeitgenössischen Kunst 648

5.14.3 Nietzsche-Fakes in Kunst und Medien

6. Nietzsche forever?

6.1 Nietzsche als Kunst- und Künstlerphilosoph

6.2 Was fasziniert zeitgenössische Künstler:innen an Nietzsche? 697

6.3 Nietzsche als Künstler

6.4 Nietzsche forever?

7. Anhang

7.1 Nachwort

7.2 Dank

7.3 Künstlerinnen und Künstler

7.4 Siglen

7.5 Literaturverzeichnis

7.6 Index

«Verwandlungskraft als Charakter-Fehler»?

Ein Geleitwort

Andreas Urs Sommer

Nietzsche ist ein Verwandlungskünstler. Davon kann sich leicht überzeugen, wer mehr als nur einen Blick in seine Schriften wirft und sich von der unerhörten Bandbreite ihrer Schreib- und Denkstile den Atem rauben lässt. Zwar benennt der Philosoph in einer «Zur Physiologie der Kunst» betitelten Aufzeichnung von 1888 als das «Problem des Schauspielers – die ‹Unehrlichkeit›, die typische Verwandlungskraft als Charakter-Fehler».1 Es ist die einzige Stelle, an der er sich überhaupt der Vokabel «Verwandlungskraft» bedient – hier, um darauf aufmerksam zu machen, dass in der Kunst seiner Zeit das Schauspielerische die Überhand gewinne. Kunst als Showbusiness statt als Substanz. Aber selbst verfügt Nietzsche doch desgleichen über eine gewaltige Verwandlungskraft, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen. Hätte er sich die ebenfalls als «Charakter-Fehler» ausgelegt?

Nietzsche verwandelt Künstler. Davon legt das vorliegende Monumentalwerk von Barbara Straka eindringlich Zeugnis ab. Nietzsches Verwandlungskraft hält, gerade in den bildenden Künsten, bis in die Gegenwart unvermindert an. Dies stand der Forschung bisher nicht oder jedenfalls nicht genügend deutlich vor Augen: Nietzsches durchschlagende Wirkung beschränkte sich keineswegs, wie man lange glaubte, auf die künstlerischen Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern hält nach dem Zweiten Weltkrieg (übrigens auch mit der radikalen politischen Problematisierung Nietzsches) an, ja verstärkt sich mancherorts noch.

«Sein Werk, das eine lange, glühende Folge von Aphorismen ist, ist nicht mit Worten, sondern mit Blitzen geschrieben. Mit Nietzsche treten wir in das Zeitalter der Schöpfung ein.» («Son œuvre, qui n’est qu’une longue suite incandescente d’aphorismes, est écrite non avec des mots, mais avec des éclairs. Avec Nietzsche, nous entrons dans l’âge de la

1 NL 1888, 17 [9], KSA 13, S 530

Silbermedaille von Georges Mathieu (1921–2012) auf Nietzsches Also sprach Zarathustra aus der Serie MOMENTS DE LA CONSCIENCE OCCIDENTALE , Monnaie de Paris, 1971, 31 Gramm, 50 mm, Privatsammlung

© Andreas Urs Sommer

création.»)2 Mit diesen Worten kommentierte Georges Mathieu (1921–2012), der Hauptvertreter des Tachismus, sein Ölgemälde ZOROASTRE (116 × 89 cm) und die beiden parallel entstandenen Medaillen anlässlich der Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung Mathieu à la Monnaie. Médailles & Peintures am 16. März 1971 in der Monnaie de Paris unter der Schirmherrschaft von Valéry Giscard d’Estaing. Ob der damalige Finanzminister und nachmalige Staatspräsident Mathieus Überzeugung geteilt

2 Georges Mathieu laut Drouot, Paris, Auktion Art Contemporain, 22 . Juni 2011, Nr 33, vollständig zitiert und publiziert in: Andreas Urs Sommer, «Lieber schuldig bleiben, als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt!» Friedrich Nietzsche auf Medaillen und Münzen. Catalogue raisonné 1900–2024, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 74 (2024/25), S 45–106, hier S 79

hat, dass mit Nietzsche das «Zeitalter der Schöpfung» begonnen habe, ist nicht überliefert. Zweifellos aber haben es viele seiner Mitkünstlerinnen und Mitkünstler getan, die sich zu Recht oder zu Unrecht als Donner verstanden haben, die den Nietzsche-Blitzen nachgefolgt sind.

Barbara Straka hat in ihrer umfassenden Studie all die NietzscheBlitzwirkungen in den bildenden Künsten nicht nur zusammengetragen, konzise vorgestellt, thematisch und gedanklich gruppiert. Sie hat sie vor allem tiefschürfenden Interpretationen unterzogen, mit deren Hilfe einige Aspekte der jüngsten Kunstgeschichte in anderem Licht erscheinen. Nietzsche provoziert unendlich viele und vieles – das Grobe und das Feine, das Plakative und das Verborgene, das Vordergründige und das Hintersinnige. Das vorliegende Buch entfaltet ein weitausgreifendes Panorama, wie Nietzsche Künstlerinnen und Künstler verwandelt und ihnen ein Gepräge gegeben hat. Nichts anderes bedeutet das griechische Wort «Charakter».

1. Einleitung: Friedrich Nietzsche –(k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

«Nietzsche war ein Kunstdenker sui generis, nicht die Begleitstimme dieser oder jener Ästhetik. Ich sehe in ihm einen ‹Konzeptkünstler avant la lettre›. Was er denkend imaginierte, waren radikale Umwertungen, in denen sich die Kunst des Jahrhunderts ankündigte, an dessen Schwelle er starb» (1).

Es geht im Folgenden einmal nicht um Friedrich Nietzsche und seine Werke. Es geht auch nicht um seine Texte zu Kunst und Ästhetik oder um sein Verhältnis zur bildenden Kunst, sondern darum, wie er von Künstlerinnen und Künstlern gesehen wird: solchen nämlich, die nicht seine Zeitgenossen waren, sondern unsere Zeitgenossen sind. Während die Kunst zu Nietzsche um 1900 und in der Moderne recht gut aufgearbeitet ist, klaffen für die Zeit nach 1945 gewaltige Lücken, und es fehlt ein Überblick. Vorab sei gesagt: Die Verfasserin schreibt nicht als Philosophin oder Nietzscheforscherin, sondern aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und ehemaligen Kuratorin. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen daher die Künstler:innen und ihre Werke, ihr Blick auf den Philosophen, doch wäre dieser, auf der Basis eines rein werkimmanenten Interpretationsansatzes ohne Verknüpfung mit Nietzsches Person, Biografie und Werk wenig erhellend. Auch der fachwissenschaftliche Diskurs, auf Nietzsches Rezeption in der bildenden Kunst bezogen, darf nicht ausgeklammert bleiben, denn gerade im Spannungsfeld zwischen jüngerer Kunstentwicklung, Kunstgeschichte, philosophischer und biografischer Nietzscheforschung werden Leerstellen, Defizite und Widersprüche sichtbar, denen im Folgenden nachgegangen wird (vgl. Kap. 3). Zwar rückt das in den späten 1980er- und in den 1990er-Jahren sich erheblich verändernde Nietzsche-Bildnis durch Ausstellungen (vgl. Kap. 4), Kataloge und Einzelpublikationen (2) auch in den Fokus von Nietzscheforscher:innen und Kunsthistoriker:innen, doch sehen sie im Beitrag der zeitgenössischen Kunst offenbar bisher kein oder kaum Potenzial zur Veranschaulichung und Vermittlung der Philosophie Nietzsches gegenüber einem breiteren, nicht auf die Fachöffentlichkeit beschränkten Publikum.

Nach der Rezeption bedeutender Persönlichkeiten aus Philosophie oder Literatur in Werken der bildenden Kunst zu fragen, ist indessen nicht neu. So wurden etwa Arthur Schopenhauer, Rudolf Steiner und Rainer Maria Rilke mit Publikationen oder Ausstellungen zu ihrer Rolle, die sie für bildende Künstler:innen einnahmen und bis heute einnehmen, bedacht (3). Und auch Georg Friedrich Wilhelm Hegels Kunstphilosophie und seine These vom ‹Ende der Kunst› wurde in Bezug auf die zeitgenössische Kunst reflektiert und gefragt, ob ihm diese wohl gefallen hätte. Sie alle, Karl Marx und jüngst auch Franz Kafka und Immanuel Kant eingeschlossen, wurden gelegentlich zum Bildmotiv, auch zur Karikatur, aber lange nicht in dem Umfang und differenzierten thematischen Spektrum wie Friedrich Nietzsche. Warum? Warum gerade er?

Dass die Themen Nietzsche und die bildende Kunst wie auch Nietzsche in der bildenden Kunst in der Rezeptionsentwicklung zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der Gegenwart keineswegs außer Acht zu lassen sind, ja dass er von damals bis heute die größte Aufmerksamkeit in diesem Kontext auf sich ziehen kann, ist ein Faktum, wie allein ein Blick in die Geschichte zeigt: Bereits seit Mitte der 1890er-Jahre, in seiner letzten Lebensspanne, die er als Pflegefall in geistiger Umnachtung zunächst in Naumburg, später in Weimar verbrachte, avancierte Friedrich Nietzsche zum Gegenstand der Verehrung einer frühen Fan-Gemeinde und zum Sujet der bildenden Kunst in Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie, Skulptur und Plastik. Aber nur wenige Künstler seiner Zeit wie Curt Stoeving, Siegfried Schellbach, Max Kruse, Arnold Kramer und Hans Olde wurden neben ausgewählten Besucher:innen in die Archiv- und Privaträume vorgelassen; andere Bildnisse wie etwa das lebensgroße Porträt von Edvard Munch entstanden posthum (4). Als Hausherrin und Archivleiterin wachte die Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, nach dem Tod der Mutter nicht nur über die Bearbeitung und Edition der Schriften und Briefe ihres Bruders; sie bestimmte nicht nur über den schriftlichen und dinglichen Nachlass, sondern auch über die Entwicklung der Bildniskunst, die sich anfangs noch auf den kranken Philosophen als Modell beziehen konnte, später auf Porträtfotografien und Berichte von Zeitgenoss:innen angewiesen war. Nietzsches Schwester, die dem Nationalismus der Kaiserzeit und später dem aufkommenden Nationalsozialismus nahestand, hatte einen politisch vereinnahmbaren Nietzsche-Mythos nach ihrem Bilde erschaffen, der zum Auslöser eines idealisierenden Nietzsche-Kults geworden war. Die von ihr autorisierten Gemälde, Grafiken und Plastiken waren dessen reine Veranschaulichung, während die authentischen Fotografien des Kranken ein erschütternd realistisches Bild von Nietzsche bewahrten. Ideal und Wirklichkeit – als Referenzpunkte der historischen wie zeitgenössischen Kunst wirken beide Pole bis heute in einzelne Werke hinein und als ‹Elisabeths

Erbe› (vgl. Kap. 5.2) noch lange nach. Wie die ‹Textpolitik› der Schwester die Rezeption Nietzsches anfachte und steuerte, so trug die ‹Bildpolitik› des Weimarer Archivs unter ihrer Ägide maßgeblich auch zu einer ersten Welle der Vermarktung seines Andenkens bei. Die Wirkung seiner Werke, vor allem des Zarathustra, erlebte im I. Weltkrieg einen ersten Höhepunkt. Zugleich haben die in großen Auflagen erscheinenden Schriften und Devotionalien das Nietzsche-Verständnis und NietzscheBild in der Kunst der Moderne, im Jugendstil, Futurismus, Surrealismus, Expressionismus und Dadaismus unleugbar beeinflusst und nicht nur einzelne Künstler:innen ‹infiziert›, deren Werk direkt oder immanent von seiner Lektüre und Verehrung geprägt wurde.

Nietzsches Monumentalisierung in künstlerischen Darstellungen durch Überbetonung physiognomischer Merkmale (vgl. Kap. 5.1.2) hat Theodor von Kramer in drei Stufen zwischen 1900 und 1924 mit einer Illustration für die Fliegenden Blätter festgehalten. Aber der humorvolle karikaturistische Blick auf Nietzsche war schon bald nicht mehr opportun; er fand mit dessen erneuter Ideologisierung im aufkommenden Nationalsozialismus sein Ende: Denn in der Zeit zwischen 1933 und 1945 wird Nietzsche noch einmal zur Kultfigur erhoben, erfährt seine heroische Aufwertung und Fehlinterpretation als personifizierter ‹Übermensch›, ein ideologiebehaftetes Gebilde, das nach dem Ende des Hitler-Regimes seinen drastischen Absturz erleben musste. Elisabeth Förster-Nietzsche, die mit dem Faschismus in Italien und dem Nationalsozialismus in Deutschland sympathisiert hatte, muss mit ihrer Archivpolitik als Urheberin einer sich nach 1900 entwickelnden Nietzsche-Typologie und Ikonografie gelten. Ihre Funktion als Nietzsche-Schwester wird gleichwohl heute ambivalent gesehen; sie erfährt Verständnis für ihre Rolle

Theodor von Kramer, Nietzsche in der Kunst , in: Fliegende Blätter, München, 161, 1924, Nr 4127, S 438

einer nach Selbstständigkeit und Einfluss strebenden Frau des 19. Jahrhunderts im Schatten des berühmten Bruders und wird als Sammlerin und Bewahrerin des schriftlichen und dinglichen Nachlasses gewürdigt. Doch ihre verfälschenden Eingriffe in die Schriften und Briefe legten die Bausteine für dessen ideologische Vereinnahmung in Kaiserreich und Nationalsozialismus mit der Folge seiner vorläufigen Tabuisierung in der Rezeption nach 1945 und bescherten Nietzsche die brandmarkende Anklage, «Wegbereiter des Faschismus» zu sein (Georg Lukács), womit sein Status als Persona non grata in der DDR besiegelt schien.

Wie aber steht es mit der Wirkung Nietzsches auf die bildende Kunst nach 1945? Seit wann lässt sich überhaupt davon sprechen? In der Zeit nach dem II. Weltkrieg war Nietzsche zunächst kaum Thema; seine Rezeption im Westen weist Leerstellen auf, Tabuisierungen auch, denn noch lange hallte nicht nur in der DDR, sondern auch in der westdeutschen Linken der Vorwurf nach, sein Denken habe geradewegs in den Nationalsozialismus und die Katastrophe von Krieg und Holocaust geführt. Nur zögerlich wird Nietzsche wiederentdeckt und diskutiert – von Literaten wie Thomas Mann und Gottfried Benn, von den Autoren der Frankfurter Schule, von den französischen Poststrukturalisten um 1968 und von der Nietzscheforschung in Deutschland. Dabei wird er samt seinem Werk vielfachen ‹Umwertungen› unterzogen (vgl. Kap. 2). Ein neuer Blick auf Nietzsche wurde jedoch erst ermöglicht durch die bereinigte textkritische Gesamtausgabe der beiden italienischen Philologen Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die seit den 1960er-Jahren erarbeitet wurde und sich dabei auch auf Karl Schlechtas kritische Anmerkungen zur Editionspolitik des Weimarer Nietzsche-Archivs und Fälschungsvorwürfe stützen konnte. Nur langsam und mit Verspätung wagen sich auch Künstler wieder an das Thema, von frühen Einzelwerken der 1950er-und 1960er-Jahre abgesehen. Aber schwer lastet noch das politische Erbe auf dem Neubeginn der Nietzsche-Rezeption in der bildenden Kunst. So wundert es nicht, dass mancher Beitrag noch in den späten 1970er-Jahren ambivalent in seiner Aussage erscheint, weil die kritische Frage nach der ‹Rehabilitation› Nietzsches – als zulässiger oder unzulässiger Gegenstand der Kunst – zunächst offenbleibt.

Auch wenn Nietzsche als einer der wohl umstrittensten Philosophen nach 1945 zweifellos eine ‹Renaissance› in künstlerischen Positionen nach 1980 erlebte, die längst auch jenseits des deutschsprachigen europäischen Raums im internationalen Kunstschaffen auffindbar sind, so haben doch weder diese Beiträge noch diejenigen von Künstlerinnen Eingang in die fachwissenschaftliche Rezeption gefunden. Nietzscheforschung und Kunstgeschichte nehmen bislang nur einzelne Positionen

arrivierter Künstler wahr. Gleichwohl befürchteten im 100. Todesjahr des Philosophen einige Autor:innen einen neuen Nietzsche-Kult, während andere die Beliebigkeit und Qualität der Darstellungen kritisierten und generell die Ernsthaftigkeit heutiger künstlerischer Befassungen mit Nietzsche bezweifeln. Korrekturen in der Wahrnehmung setzen sich erst mit den beiden – vorerst einzigen bilanzierenden – Ausstellungen zu Nietzsche in der zeitgenössischen Kunst allmählich durch (Für F. N. –Nietzsche in der bildenden Kunst der letzten 30 Jahre, Weimar 1994 und Artistenmetaphysik – Friedrich Nietzsche in der Kunst der Nachmoderne, Berlin 2000/2001). Darüber hinaus leisten die Forschungsstätten in Sils Maria, Naumburg, bedingt auch in Weimar, mit kontinuierlichen Kunstausstellungen zu Nietzsche eine wichtige Arbeit für das Cross-over der Disziplinen und fördern einen konstruktiven Dialog zwischen Philosophie und Kunst (vgl. Kap. 4.1; Kap. 4.2).

Was aber interessiert, was fasziniert bildende Künstler:innen heute an Nietzsche? Welche Themen greifen sie auf, welche Methoden und Medien wenden sie an? Welche Vermittlungsstrategien werden verfolgt? Sehen Künstlerinnen Nietzsche anders als Künstler (vgl. Kap. 6.2)? Aus langjähriger kuratorischer Praxis und Erfahrungen der Autorin mit der Ausstellung Artistenmetaphysik konnten auch nach 25 Jahren zahlreiche Kontakte zu Künstler:innen, Galerien und Museen aktualisiert und neue Quellen erschlossen werden. Recherchen und Materialsammlungen wurden mit Interviews ergänzt und anhand eines Fragenkatalogs gestützt, vertieft und erweitert. Die Anzahl identifizierter künstlerischer Positionen ist inzwischen auf über 220 Namen angewachsen, deren Werke hier erstmals nach Themengruppen strukturiert und, soweit es sich anbietet, ikonografisch hinterfragt werden. Für die Gliederung der Themenkomplexe wurde ein Clustermodell gewählt, in dessen Mittelpunkt jeweils die bedeutendsten Werke stehen, die eine ikonografische Weiterentwicklung des Motivs mit vielschichtigen Bezügen zu anderen Positionen aufweisen. Andere gruppieren sich dazu, manche bleiben marginal, sind aber dennoch im Gesamtzusammenhang von Bedeutung, um die Vielfalt der Darstellungen auszuloten (vgl. Kap. 5.1–5.14).

Stand früher die Bildniskunst zu Nietzsche im Fokus, ausgeführt in den traditionellen Gattungen Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Plastik, Skulptur, so hat sich spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre das Spektrum der Themen, Motive und Medien in bemerkenswerter Weise ausgeweitet. Spielte anfangs der Rekurs auf die authentischen Fotos und das Festhalten am Genre des Porträts eine Rolle, ist in freieren Darstellungen nach 1990 eine sukzessive Auflösung des Bildnisses zu beobachten, nachdem dessen tradierte Erscheinungsform verschiedene Stufen der Formalisierung, Emblematisierung, Abstraktion, Fragmentierung und Dekon-

Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

struktion durchlaufen hatte. Statt der Bilder Nietzsches rücken nun die durch sein Leben und sein philosophisches Denken evozierten Bilder in den Blickpunkt.

Person, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches waren seit 1900 und wurden bis heute ebenso rasanten wie fundamentalen Veränderungen in der Wahrnehmung und Darstellung unterworfen, die mit seiner Bewertung im philosophischen, zeitgeschichtlichen und letztlich politischen Kontext verknüpft sind. Für die Beschreibung zentraler Etappen der für unser Thema relevanten Rezeptionsentwicklung nach 1945, die zunächst die Literatur, dann auch die bildende Kunst erfasst, greifen wir auf zwei Begriffe zurück, die Nietzsche selbst verwendete: Kreiste eine Leitidee seiner Philosophie um die Umwertung aller Werte, so lassen sich die paradigmatischen Wechsel in der Bewertung seiner Bedeutung analog als Umwertung[en] beschreiben (vgl. Kap. 2). Für die bildende Kunst bringen wir – wie der Untertitel der Publikation besagt – den Begriff der Transfiguration[en] ins Spiel, mit dem sich nicht nur die Wandlungen der philosophischen Nietzsche-Rezeption und des Nietzsche-Bildnisses im engeren Sinne, sondern auch das Aufkommen neuer Themenfelder nach 1980 beschreiben lassen. Sie werden hier erstmals in 14 Themengruppen zusammengefasst, rezeptionsgeschichtlich und ikonografisch aufbereitet (vgl. Kap. 5). Der Begriff der Transfiguration (gr.: Metamorphosis, lat.: transfiguratio, dt.: Verklärung) bietet sich an, weil er von Nietzsche selbst sowohl kunsthistorisch als auch philosophisch angewendet wurde: Das Gemälde Trasfigurazione di Gesù von Raffael, sein letztes und bedeutendstes, an dem er von 1518 bis zu seinem Tod 1520 gearbeitet hatte, wird von Nietzsche in seiner Frühschrift Die Geburt der Tragödie nicht mehr als Motiv des in der christlichen Ikonografie verankerten Auferstehungsmythos Christi reflektiert, sondern zum Symbol für die ästhetische Bewältigung des Daseins an sich umgedeutet1, eine Grundidee, die später seine gesamte Philosophie der Lebenskunst und des

1 Zur Interpretation des Gemäldes Raffaels schreibt der Kunstbetrachter Nietzsche: «In seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der ‹Schein› ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit» (GT 4, KSA 1, S 39) In einem Gespräch mit der Autorin wies Bazon Brock darauf hin, dass der Begriff Transfiguration eigentlich «Gestaltwandel mit dem Ziel der Verklärung» bedeute

Amor fati (lat.: Liebe zum Schicksal) prägen und durchziehen sollte: «Die Verklärung eines gleichzeitig als Leiden erkannten und in seinem Leidenscharakter bejahten Lebens bildet dabei den Hauptaspekt der künstlerischen Tätigkeit. Es geht darum, die leidhafte, mitunter schreckliche Daseinserfahrung» zu kompensieren (5), mit Nietzsches Worten «in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt» (GT 7, KSA 1, S. 57).

So wurde ein überzeitlich gültiges Kunstwerk der Renaissance zum Leitmotiv der Selbstbeschreibung seiner Philosophie als einer «Kunst der Transfiguration» (FW, Vorrede 3, KSA 3, S. 349), von der sich Nietzsche selbst überzeitliche Gültigkeit erhoffte. Diese disziplinübergreifende Übersetzung eines Begriffes von der Malerei in die Philosophie dürfte auch Skeptikern zu denken geben, die sich keinen sinnstiftenden Dialog zwischen Kunst und Philosophie erwarten und es vorziehen, in akademischen Fachgrenzen zu verharren. Doch auch noch ein Nebenaspekt des Begriffs Transfiguration in seiner engeren deutschen Übersetzung (= Verklärung) wirft ein Schlaglicht auf Nietzsches künstlerische Rezeption, da er bereits zu Lebzeiten zu einem Objekt der Verehrung und Idealisierung wurde und sich um seine Person und Biografie ein realitätsverklärender Mythos bildete, an dem die Künstler seiner Zeit und danach aktiv mitarbeiteten. Nicht selten verliehen sie ihm den Nimbus des Heiligen und Märtyrers, wurde er doch sogar mit dem Sohn Gottes gleichgesetzt, wie es der Maler, Zeichner, Schriftsteller und Philosoph Alfred Kubin einmal mit den ehrfürchtigen Worten «Er ist wirklich – unser Christus!» ausdrückte (6).

Raffael, Trasfigurazione di Gesù, um 1520, Öltempera auf Holz, 405 × 278 cm, Rom, Pinacoteca Vaticana, Abb : www de wikipedia org

Anonym, Nietzsche mit der Dornenkrone , um 1900, Exlibris für Georg Lapper, GSA 101/89, Abb .: Jürgen Krause, «Märtyrer» und «Prophet», a a O (Bildteil, Nr 13)

Damit kehrte man zu einer Übertragung der christlichen Ikonografie auf den Philosophen zurück, die dieser selbst längst überwunden hatte. Ähnliche, gleichwohl profanierte Zuschreibungen lassen sich heute wieder in der Populärkultur erkennen: Im Zuge seiner Popularisierung, Trivialisierung und Kommerzialisierung seit den 1980er-Jahren hat Nietzsche erneut den Kultstatus eines Superstars erlangt (vgl. Kap. 5.14).

Mit Nietzsches Begriff der Transfiguration und seinem disziplinübergreifenden Denken zwischen Philosophie, Kunst und Wissenschaft sieht sich auch die Berliner Künstlerin Tyyne Claudia Pollmann in ihrer Arbeitsweise verwandt und ließ sich zu mehreren Werken inspirieren, die sie als Installation, Computersimulationen und großformatige Fotoarbeiten ausführte: transfigure nietzsche (2000) ist zugleich die dritte Etappe ihres Projekts translate 2020 (vgl. Kap. 5.8). Daraus spricht die

Überzeugung der Künstlerin, dass der Philosoph bis heute aktuell ist, gegebenenfalls einer ‹Übersetzung› durch zeitgenössische Medien bedarf. Sie bezieht sich dabei auf eine Passage aus Die fröhliche Wissenschaft: «Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen –, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!» (FW III, 112, KSA 3, S. 473)

Die heutige bildende Kunst ist von einem neuen Nietzsche-Kult weit entfernt, den sie bestenfalls kritisch reflektiert oder auch nur affirmativ zitiert. Sie hat es vermocht, sich mittels innovativer Strategien, unbelastet von Idealisierung und Ideologisierung, dem Menschen Nietzsche, sei-

Tyyne Claudia Pollmann, transfigure nietzsche , 2000 (Detail), aus der 3 Phase des Projekts translate2020 , Computersimulation, Cibachrome auf Alu Dibond, 81 × 153 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

nem Leben und Denken anzunähern und nach seiner Aktualität für die Gegenwart zu befragen. Im Resümee der letzten Jahrzehnte wird deutlich: Die schon von Nietzsche kritisierte ‹Kunst der Kunstwerke› tritt allmählich hinter einen offenen Kunst- und Werkbegriff und hinter ganzheitliche Lebenskunstkonzepte zurück, die nicht zuletzt von ihm selbst angestoßen worden waren und in den Postulaten der Avantgarden um 1960 (Kunst = Leben = Kunst) aufgegriffen wurden. Joseph Beuys’ viel zitierter Ausspruch «Jeder Mensch ist ein Künstler» und die Idee der Sozialen Plastik haben ihre Vorstufe in Nietzsches Diktum «Jeder Mensch ist ein Künstler, im Traum und im Tanz» (7). Ohne Nietzsches in seinen Schriften verstreute, doch fundamentale Äußerungen zu Kunst und Ästhetik, die eine inspirierende Rolle für die Kunst der Moderne und Gegenwart einnahmen, hätte die jüngere Kunstgeschichte wohl einen anderen Verlauf genommen.

Mit dem Internet setzt schon in den 1990er-Jahren eine inflationäre Bilder- und Warenflut von Kitsch, Deko-Produkten und Fan-Artikeln ein, die auch vor einer Verniedlichung und Verkindlichung des Philosophen nicht haltmacht. In diesen Wellen werden auch nicht authentische Bildnisse Nietzsches mitgespült, sogenannte Fakes, die Porträts von Unbekannten als Nietzsche ausgeben und hier als neueres visuelles Phänomen in Abgrenzung zur Kunst zu betrachten sind (vgl. Kap. 5.14.3). Die Perfektionierung der digitalen Bildbearbeitung und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz setzen ungeahnte Kreativität auch bei Amateuren frei: Technisch höchst professionelle, digitale Nachschöpfungen von Nietzsche-Porträts und irritierende Neuschöpfungen mittels KI verbreiten sich neben Pseudokunst in den einschlägigen Portalen des Internets. Wie im Action-Comic geistert gelegentlich noch das Image des ‹Übermenschen› durch diese Hervorbringungen, aber von angloamerikanisch geprägten Kreationen wie Nietzsche als Superman, Comic-Held und Popstar geht keine Gefahr einer politischen Vereinnahmung aus. Populärkultur und Digitalisierung, Nietzsche-Fakes und Neuerfindungen lassen jedoch auch Künstler:innen nicht unbeeindruckt; sie adaptieren diese Formate gelegentlich in ihren Werken (vgl. Kap. 5.14.2). Wo aber verlaufen die Grenzen zwischen Fake, Kitsch und Kunst und wie lassen sich verfälschende Artefakte von anderen unterscheiden? Hatte nicht Nietzsche schon in Ecce homo gewarnt, «Verwechselt mich vor Allem nicht!»? Stand er nicht lange genug im Schatten der Verfälschung seiner Schriften und Kanonisierung seines Bildnisses durch die Schwester? Sollte es sein Schicksal sein, heute und in Zukunft einer post-faktischen, oberflächlich-populistischen Rezeption zu unterliegen? Spricht aus dem Phänomen der Fakes und Neuerfindungen das Bedürfnis, Lücken der fotografischen Überlieferung zu schließen (8), etwa Nietzsches

‹bilderlose› Zeit zwischen 1882 und 1891? Oder geht es um eine symbolische Verlebendigung und Vergegenwärtigung des einstigen Mythos Nietzsche, der ein für alle Mal vom Sockel gestoßen, vielfachen ‹Umwertungen› unterzogen wurde und endlich als nahbarer ‹Mensch unserer Tage› in Erscheinung tritt? Entsprechende Motive der jüngeren Kunst, die Nietzsche als Radfahrer, als Boxer, mit Turnschuhen, als Partyheld oder Popstar zeigen, scheinen von dieser Intention zu zeugen.

Nietzsche – einst Kult, Mythos, Heiliger, Märtyrer, Prophet, Übermensch –heute menschlich-allzumenschlicher, durch Populärkultur und Kunst verjüngter und vergegenwärtigter Zeitgenosse, aber auch Idol, Superstar, Markenartikel und Verkaufsschlager. Zweifellos haben diese Adaptionen zu einer grenzenlosen Ausweitung der Rezeption beigetragen. Hat er als Person, hat sein Werk, sein in die Zukunft vorausweisendes Denken heute die Massen erreicht, die er sich ehemals erhoffte? Hat er uns auch heute etwas zu sagen angesichts von Krisen, Kriegen und Katastrophen? Oder verbleibt seine philosophische und wissenschaftliche Wirkung in den Grenzen der Fachöffentlichkeit, die sich verständlicherweise gegenüber der seichten Oberflächlichkeit einer kurzatmigen, populistischen, konsumtiven Rezeption abschottet? Könnte die zeitgenössische Kunst, würde sie denn in ihrer Dimension und Qualität von der Nietzscheforschung zur Kenntnis genommen, mit «nietzscheanischem Ernst» (Andreas Urs Sommer) zwischen diesen entlegenen Welten vermitteln? Kann sie dazu beitragen, sein Leben und Denken zu veranschaulichen, verständlich zu machen und über die philosophische Community hinaus neue Zielgruppen zu erschließen? Können sich Kunst und Philosophie auf diese Weise neu begegnen und gegenseitig erhellen? Diese und weitere Fragen anhand von Werkbeispielen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler zu erörtern, sind ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Publikation.

Viele der hier berücksichtigten Künstler:innen waren mir seit den 1980erund 1990er-Jahren aus meiner Tätigkeit als Kuratorin bereits bekannt, andere lernte ich neu kennen. Die Kontaktaufnahme war unkompliziert; alle Angesprochenen zeigten sofort Interesse an dem Thema ‹Nietzsche in der zeitgenössischen Kunst›, waren zu ausführlichen Gesprächen, Atelierbesuchen oder Telefoninterviews bereit. Ein Fragebogen gab Struktur; er erwies sich teils als brauchbarer Leitfaden für die Gespräche, teils als ein zu komplexes Instrument im direkten Dialog, da die Befragten lieber frei berichteten, wie sie zu Nietzsche gekommen waren, welches ihr persönlicher Zugang zu Person, Biografie und Werk war, was sie an ihm fasziniert und wie sie seine Bedeutung für die Gegenwart einschätzen (vgl. Kap. 6.2). Dabei stellte sich heraus, dass die ersten Begeg-

Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

nungen entweder auf Elternhaus und Schule, auf zufälliges Entdecken oder auf Interesse an der Lebensgeschichte Nietzsches zurückgingen. Für die Lektüre einzelner Schriften Nietzsches gaben viele der Befragten Also sprach Zarathustra an, Nietzsches Hauptwerk, das bis heute fasziniert, wenn auch in ganz anderer Form als zu Beginn der Moderne. So wundert es nicht, dass ihm auch in jüngerer Zeit zahlreiche Einzelwerke, Serien und Zyklen gewidmet wurden (vgl. Kap. 5.9).

Die Künstlerkorrespondenz wie auch die persönlichen Begegnungen, Atelierbesuche oder telefonisch geführten Interviews erwiesen sich als außerordentlich ergiebig und stellen wertvolle neue Quellen für die Recherche zum Entstehungskontext und zur Interpretation der Werke dar. Anekdotisches und Inoffizielles, Hintergründiges zum eigenen Werk wie auch zum Werk von Kollegen und Lehrern war zu erfahren und floss, wo möglich, in Recherchen und in Beschreibungen ein. Hinzu kamen Gespräche und Korrespondenz mit den Kurator:innen der NietzscheForschungsstätten (Peter André Bloch und Peter Villwock, Sils Maria; Helmut Heit, Katharina Günther und Manuel Schwarz, Weimar; Ralf Eichberg und Catarina Caetano da Rosa, Naumburg/Saale).

Das Zusammentreffen mit den Künstlerinnen und Künstlern war eine große Bereicherung für die Sammlung von Informationen und Material. Im persönlichen Gespräch ließen sich viele Fragen besser und direkter klären als telefonisch oder schriftlich. Allerdings waren Besuche wie diese auch sehr zeitintensiv, und es wurde im einen oder anderen Fall nicht leicht, an das Thema anzuknüpfen. Denn zwei Jahrzehnte oder mehr waren seit früheren Begegnungen und Ausstellungen vergangen; längst stellten die Dialogpartner arrivierte Größen im internationalen Kunstmarkt dar, haben Professor:innenstellen an renommierten Kunsthochschulen inne oder waren bereits emeritiert und konnten umfangreiche Bibliografien und Ausstellungsverzeichnisse vorweisen. Längst arbeiteten sie an anderen Themen oder bereiteten gerade Retrospektiven vor. Aber die Objekte meiner thematisch sehr spezifischen Recherche lagen oft in der ferneren Vergangenheit, waren in Vergessenheit geraten, verkauft oder verschenkt worden, und wenn sie sich noch im Künstlerbesitz befanden, waren sie zuweilen verschüttet unter Bergen von Zeichnungen, Skizzen, Fotos, Arbeitsmaterial oder schwer zugänglich in verstaubten Mappen verstaut, die sich in den hintersten Ecken des Lagers befanden oder in externen Archiven ausgelagert waren. Bei den Gesprächen kamen manchmal Erinnerungen an frühere Werke auf, die hinter dem Horizont des Gedächtnisses verschwunden waren und zur spannenden Wiederentdeckung wurden: Nach einem Atelierbesuch bei Volker März im November 2022, bei dem sich die Autorin inmitten eines Universums hunderter bemalter Tonfiguren wiederfand, erinnerte sich der Künstler plötzlich, dass Nietzsche der Prototyp seiner allerersten

Plastik gewesen war, als er den von Arnold Kramer 1898 nach dem Leben gestalteten, im Krankenstuhl sitzenden, sinnenden Philosophen nachformte. Er habe ihn allerdings mit einer Schüssel voller Nutella-Creme auf dem Schoß dargestellt und die Figur anlässlich seiner Naumburger Einzelausstellung 1995 an den damaligen Kustos des Stadtmuseums verschenkt. Aus ungebranntem Ton gefertigt, habe sie vermutlich die Jahrzehnte nicht überlebt. Manche Künstler:innen waren durch den Atelierbesuch und die Gespräche so motiviert, dass sie sich zu neuen Arbeiten inspiriert fühlten wie etwa Uwe Bremer, der bald darauf mitteilte, er habe inzwischen noch zwei weitere, großformatige Zeichnungen zu Nietzsche angefertigt und an neuen Ideen mangele es nicht. Auch gab es bei den persönlichen Begegnungen oft wertvolle Hinweise auf Werke von Künstlerkolleg:innen, die mir bisher nicht bekannt waren, sodass sich die Liste mehrmals erweiterte. Besonders erwähnenswert ist hier ein Besuch bei Frank Motz, dem Leiter der ACC Galerie Weimar: Aus langjähriger Kooperation mit internationalen Künstler:innen, die als Stipendiat:innen vor Ort zu Nietzsche gearbeitet hatten, konnte er spontan zehn weitere Namen nennen, die das Material wesentlich bereicherten.

Schwieriger gestalteten sich die Recherchen, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin bereits verstorben war. In diesem Fall wurden Kontakte zu den Betreuer:innen der Nachlässe oder Verfasser:innen der Werkverzeichnisse aufgenommen. Darüber hinaus gab es wertvolle Unterstützung durch Galerien, Museen, staatliche und Künstler-Archive, Auktionshäuser und private Sammler:innen; ohne sie wäre mancher Kontakt nicht zustande gekommen. Auch in schwierigen Einzelfällen war es meist möglich, die Spuren eines Werks, das seinen Weg in den Kunsthandel gefunden hatte, mithilfe von Auktionshäusern zu rekonstruieren und den aktuellen Verbleib ausfindig zu machen.

Recherche, Abbildungs- und Rechtebeschaffung wurden dann aufwendig, wenn es sich um Werke der frühen Nachkriegszeit, der 1950erund 1960er-Jahre handelte. Aber auch das Bildmaterial der beiden Kunstausstellungen zu Nietzsche, 1994 in Weimar und 2000 in Berlin, musste neu zusammengetragen werden oder stand nur als Katalogabbildung zur Verfügung, da die Fotovorlagen in den Verlagen nicht mehr existierten, die Künstler:innen inzwischen verstorben, die Werke nicht mehr verfügbar oder im Internet nicht hinreichend präsent waren. In diesem Fall konnte die Suche nach Ansprechpartner:innen zur Odyssee geraten. Die mangelhafte bzw. bisher nicht erfolgte Digitalisierung der Arbeiten, wie sie für Kunst vor 1990 noch immer typisch ist, fehlende oder unvollständige Werkverzeichnisse, verstreute Nachlässe und andere Probleme der Auffindbarkeit, des Nachweises und der Dokumentation erschwerten die Arbeit. So sind unter den Abbildungen auch manche, die ledig-

Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

lich als ein wissenschaftlicher Verweis auf das jeweilige Werk dienen, aber qualitativ nicht adäquat wiedergegeben werden können.

In der kunsthistorischen Forschung gilt es als Common Sense, dass ein Kunstwerk vom Zeitpunkt seiner Entstehung bis zu seiner Interpretierbarkeit fünfzig Jahre benötigt. Für zeitgenössische Künstler:innen sind schon zwei Jahrzehnte eine unvorstellbar lange Zeit. Seit den 1970erJahren, spätestens seit der Globalisierung des Kunstmarktes, waren die Bedingungen der Produktion, Distribution, Vermittlung und Rezeption von Werken der bildenden Kunst großen Veränderungen unterworfen. Die vom expandierenden Kunstmarkt diktierte Arbeit unter Zeit-, Originalitäts- und Innovationsdruck, die Bereitstellung immer neuer Produkte für eine ständig wachsende Nachfrage hat bei vielen zwar ein immens großes Œuvre entstehen lassen, dessen professionelle Aufarbeitung und Dokumentation aber außerordentlich zeit- und kostenintensiv ist und nur von gut verdienenden, etablierten Künstler:innen mithilfe ihrer Galerien oder Assistent:innen geleistet werden kann. So gerät vieles aus früheren Jahren in Vergessenheit oder geht verloren, und das Nichtvorhandensein einer Website oder ein bis heute nicht digital aufbereiteter Nachlass, dessen museale oder archivalische Unterbringung ohnehin schon zu Lebzeiten eines Künstlers oder einer Künstlerin immense Energien und Durchsetzungskraft erfordert, kann das Aus für einen Platz in der Kunstgeschichte bedeuten. Diese Hintergründe heutiger Kunstproduktion stellten auch für das Aufspüren von Werken mit Nietzsche-Bezug erschwerende Umstände dar, die zu berücksichtigen waren. Sie unterstreichen noch einmal, dass es keine enzyklopädische Erfassung der nach 1945 entstandenen Werke geben kann, die hier auch nicht intendiert war. Dass Fehlendes nicht auszuschließen ist, muss vorerst hingenommen werden. Zwar entstehen auch weiterhin Werke mit Nietzsche-Themen, aber die ältere der hier unter ‹zeitgenössisch› berücksichtigten Generationen ist mittlerweile verstorben oder hochbetagt und steht für Nachfragen und Interviews nicht mehr oder nur noch für begrenzte Zeit zur Verfügung. Während unserer Vorbereitungen verstarb Frank Herzog, dessen ‹Pseudo-Relikte› Nietzsches (vgl. Kap. 5.7) schon 1994 in Weimar ausgestellt waren. Drei Jahrzehnte waren diese im Archiv verwahrt, bevor es Herzog noch kurz vor seinem Tod 2022 gelang, sie wiederzufinden. In einem Telefonat erläuterte er ihren Charakter als ‹zufällige Fundstücke›, doch war es eben nur eine scheinbare Zufälligkeit, die den Betrachtenden irritieren sollte. Einen populären Zugang zu Nietzsche mittels Kunst zu eröffnen, war ihm wichtig; er selbst hatte sich den Philosophen über die Biografie erschlossen. «Zarathustra», so berichtete er, habe er «bald zur Seite gelegt, weil die Quälerei zu groß wurde» (9).

Nach dem Ableben von Künstlern sind Werkinterpretationen auf autobiografische Aufzeichnungen (falls vorhanden und zugänglich), Presserezensionen, Kataloge und sonstige Sekundärliteratur aus Bibliotheken oder auf Quellen im Internet angewiesen und nicht zuletzt auf das eigene, in Jahrzehnten geübte Sehen von Kunstwerken. Mit der Vergänglichkeit der Zeitzeugenschaft gehen bedauerlicherweise auch wichtige Hintergrundinformationen verloren, die das Werk im Kontext von Künstlerbiografie, Zeit und Gesellschaft beleuchten und erläutern, Auskunft über Hintergründe, Anlass und Motivation seiner Entstehung geben können. Werkbeschreibungen und Interpretationen der Verfasserin wurden nach Möglichkeit immer in Gesprächen oder schriftlicher Korrespondenz mit Künstler:innen verifiziert und bei Bedarf angepasst. Wo dies nicht möglich war, halfen Aussagen von Künstlerkolleg:innen oder Galerist:innen weiter. Für ein frühes Werk von Martin Kippenberger, das er mit Nietzsche in Jena (1981) betitelt hatte und das ein Jugendbildnis seines in Jena geborenen und dem Philosophen durchaus ähnlich sehenden Künstlerfreundes Werner Büttner ist (vgl. Kap. 5.14.3), konnte dieser wertvolle Informationen zum Motiv, zu Details und zum Anlass der Bildentstehung geben, ohne die eine Interpretation gegebenenfalls in eine andere Richtung gezielt hätte. «Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!» heißt es im Zarathustra. Martin Kippenberger wäre – mit Nietzsche –die Deutung vermutlich egal gewesen, denn die eine, allgemeingültige Wahrheit gibt es nicht, auch nicht in der Kunst, deren unterschiedliche Perspektiven auf Nietzsche, auf sein Leben, sein Denken und seine Themen hier vorgestellt werden.

Literatur

1 Werner Hofmann, Nietzsche und die Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Günther Baum und Dieter Birnbacher, Hg .: Schopenhauer und die Künste, Göttingen 2005, S 308–323

2 Barbara Straka, Friedrich Nietzsche in der zeitgenössischen Kunst: Themen, Positionen, Medien, in: Enrico Müller, Hg .: Nietzscheforschung Bd 29, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Berlin und Boston 2022, S . 245–290; vgl . auch weitere Veröffentlichungen von Peter André Bloch, Renate Reschke, Hansdieter Erbsmehl, Ausstellungskataloge und Künstlermonografien in der Literaturliste im Anhang.

3 Vgl . dazu die folgenden Veröffentlichungen: Günther Baum, Dieter Birnbacher, Hg .: Schopenhauer und die Künste, Göttingen 2005; Gisela Götte, Jo-Anne Birnie-Danzker, Hg : Rainer Maria Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit , Katalog zur Ausstellung gleichen Titels der Kunstsammlungen Böttcherstraße Bremen und des Georg Kolbe Museums Berlin, München und New York 1996; Markus Brüderlin, Ulrike Groos,

Friedrich Nietzsche – (k)ein Thema zeitgenössischer Kunst?

Hg .: Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart , Katalog zur Ausstellung gleichen Titels im Kunstmuseum Wolfsburg (2010) und Kunstmuseum Stuttgart (2011), Köln 2010; Francesca Iannelli, Natur und Geist in der zeitgenössischen Kunst nach Hegel, in: Hegel-Jahrbuch, Berlin 2014; dies .: Würde die zeitgenössische Kunst Schlegel und Hegel gefallen? In: Elisabeth Weisser-Lohmann, Alain Patrick Olivier, Hg : Kunst – Religion – Politik, Reihe HegelForum, Studien, E-Book 2013, S . 93–102; Xaver von Cranach, Die Verwandlung des Franz K., in: Der Kafka-Kult. Vom Eigenbrötler zum Popstar , Themenheft Der Spiegel Nr 23, 01 06 2024, S 100–110

4 Barbara Straka, Zwischen Authentizität und Fiktion: Friedrich Nietzsche in der Malerei um 1900 Die Bildnisse von Curt Stoeving, Hans Olde, Edvard Munch und Arthur Kampf, Vortrag im Rahmen des Symposions Nietzsche und die bildende Kunst im 20. Jahrhundert, Nietzsche-Forum München e V , 20 11 2021 Eine Veröffentlichung des Tagungsbandes mit ergänzenden Beiträgen ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich 2025 im Schwabe Verlag Basel erscheinen; dies .: ‹Gaukler mit Leierkasten› – ein unbekanntes Nietzsche-Porträt? Zur Ikonographie und Deutung eines wiederentdeckten Gemäldes von Arthur Kampf (1865–1950), in: Friederike Felicitas Günther und Enrico Müller, Hg .: Nietzscheforschung Bd 27, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Berlin und Boston 2020, S 254–280

5 Enrico Müller, Nietzsche-Lexikon, Leiden et al . 2020, S . 231 f .

6 Alfred Kubin, zit n Richard Frank Krummel, Hg : Nietzsche und der deutsche Geist, Bd II: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkriegs. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901–1918 , Berlin und New York 1983, S 416

7 Barbara Straka, Philosophie, Kunst und Leben, in: Günter Gödde, Nikolaos Loukidelis, Jörg Zirfas, Hg .: Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S 283–288 .

8 Hansdieter Erbsmehl, «Habt Ihr noch eine Photographie von mir?» Friedrich Nietzsche in seinen fotografischen Bildnissen, Weimar 2017

9 Frank Herzog, in einem Telefonat mit der Autorin, November 2022 .

2. Nietzsches ‹Umwertung›: Zur Rezeptionsentwicklung nach 1945

«… ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ‹Umwertung der Werte› überhaupt möglich ist» (EH, Warum ich so weise bin 1, KSA 6, S. 266).

Nietzsches Umwertung aller Werte ist ein Leitthema seiner Philosophie, ein Schlagwort auch, das ähnlich wie Der Wille zur Macht im Lauf der Zeit unsäglichen Missverständnissen ausgesetzt war. Für die Welt des Fin de Siècle mit seinem Dekadentismus hatte Nietzsche einen Niedergang der Kultur diagnostiziert und den abendländischen Nihilismus prophezeit, der sich ihm in einem kulturellen Werteverfall zeigte und mit der Unhaltbarkeit eines allgemeingültigen Wahrheitsbegriffs einherging, den er durch einen perspektivischen, relativen Wahrheitsbegriff ersetzte. Vor allem aber war für ihn die Menschheit ihres obersten Wertes verlustig gegangen, denn «Gott» als christliche Leitidee für den Sinn des Lebens, «ist todt!», verkündet Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft, und dahinter gab es kein Zurück mehr: «Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet» (FW III, Der tolle Mensch, 125, KSA 3, S. 481). In seiner Wertzerstörungsund Umwertungsphilosophie hat sich Nietzsche metaphorisch, mit seinen eigenen Worten gesprochen, eines gewaltigen Werkzeugs bedient: des Hammers. Damit zertrümmerte er alles, was ihm als überkommen erschien: Religion, Moral, Kultur, Philosophie, Politik, Geschichtsgläubigkeit, Traditionen, Konventionen, Wertvorstellungen und vieles mehr,

Thomas Rieck, Umwertung , 1989, aus einer Serie von 5 Zeichnungen, Lack, Beize, Tusche, Graphit auf fotokopierter Vorlage, 29,5 × 20,7 cm, Abb : Für F. N. , a a O , S 81 © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

was den Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausmachte. Er ließ, bildlich gesprochen, keinen Stein auf dem anderen und überantwortete es den Generationen nach ihm, aus den Trümmern die Fragmente neu und anders zusammenzusetzen und zukunftsfähige Werte aufzustellen. In diesem Prozess sind wir bis heute befangen, die Zeit drängt, globale Krisen, Katastrophen und Kriege nehmen zu, und so sind Nietzsches Postulat der Umwertung aller Werte und sein prophezeiter Nihilismus als düstere Vorahnung kommender Zeiten maßgebliche Bausteine für seine Aktualität, die er bis heute genießt. Als der ‹Philosoph mit dem Hammer› ist er in die europäische Geistesgeschichte ebenso wie in das kulturelle Gedächtnis eingegangen, und was für Nietzsche der Hammer als das Symbol für die unerbittliche Härte des Vorgehens, die Schärfe seines Denkens, seiner Sprache und für die Radikalität seiner Methodik war, hat zahlreiche Schriftsteller und Künstler inspiriert, es ihm gleichzutun, seinem Diktum Ausdruck zu verleihen. Ein Beispiel ist das Werk Wolf Vostells, das exemplarisch für Happening und Fluxus steht und sich wiederholt der Metaphorik Nietzsches bediente. Im Zentrum seiner Berliner Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie (1975) stand das Environment Auto-Fieber (1973) mit einem schwarzen Cadillac inmitten von Porzellantellern. An den Türen der Luxuskarosse waren Rechen angebracht, die von Elektromotoren betrieben wurden und kreisende Bewegungen im Tellerfeld ausführten. Darüber hingen mehrere Hämmer, die rhythmisch auf das Dach des Autos einschlugen. Die Ikone des 20. Jahrhunderts, das Automobil, wurde der Gewalt eines nietzscheanischen Werkzeugs der Zerstörung ausgeliefert. Die Betrachtung sollte beim Publikum physischen Schmerz auslösen und die Wahrnehmung für Aggression, Gewalt und Vernichtung schärfen. Ähnlich ging Vostell in seiner Fandango-Serie (1975) vor, in der er Autotüren mit Hämmern demolierte, ein primitives Werkzeug gegen ein hoch entwickeltes Industrieprodukt einsetzte und symbolisch die Sinnlosigkeit menschlicher Gewalt und Zerstörung anprangerte.

Die Kunst der Moderne und der Postmoderne ist erfüllt von Destruktions- und Dekonstruktionsprozessen, von Fragmentierung und Auflösung überkommener Formen und fragwürdig gewordener Inhalte; sie ist ein Seismograf paradigmatischer Veränderungen. So sah auch Nietzsche diese wertezerstörenden und -erneuernden Prozesse: «Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische» (Za II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, S. 149). In der Überwindung der Tradition liegt für ihn immer zugleich die Geburtsstunde von Innovation und die Bedingung für eine Weiterentwicklung der Zivilisation. Die Zertrümme-

rung des Alten setzt ungeahnte Kreativität als Voraussetzung des Neuen frei und ist ein Grundelement aller Künste. Sie wird, mehr noch, sogar die Basis für die Kunst der Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts, das Nietzsche nicht mehr erlebte, aber er hatte die Weichen dafür gestellt, dass auch in der Kultur, in den Künsten, im Begriff des Künstlers und

Wolf Vostell, Auto-Fieber, 1973, Environment, Courtesy Museo Vostell Malpartida Junta de Extremadura © Foto: Armando Méndez, Cáceres © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Wolf Vostell, Auto- Fieber, 1973, Detail, Foto: Courtesy Museo Vostell Malpartida Junta de Extremadura © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

des Kunstwerks nichts mehr so blieb wie vorher. Das neue Jahrhundert entfaltete sich in der von Nietzsche beeinflussten Philosophie nach ihm, in Wissenschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft mit geballter Kraft, geradezu explosionsartig, so als habe man eine Sprengladung gezündet, wie er es von den bevorstehenden Entwicklungen und letztlich von sich selbst vorausgesagt hatte: «Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit» (EH, Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, S. 365).

Nietzsches Begriff der ‹Umwertung› könnte somit als Paradigma nicht nur allgemein für die Entwicklung seiner Rezeption gelten, sondern auch für die bildende Kunst, indem das nach 1900 kultisch aufgeladene Nietzsche-Bildnis mit seiner variierenden Typologie zwischen Märtyrer, Prophet und Idol, instrumentalisiert durch Kaiserreich und Nazizeit, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dekonstruiert und nahezu aufgelöst wurde, um neue Motive und Themen zu evozieren. Aus den Bildnissen Nietzsches wurden Nietzsches Bilder, deren ungeheure ästhetische Validität und visuelle Sprengkraft bei Künstlern bis heute zündet. Die analog zu seiner Rezeption in Philosophie und Geisteswissenschaften stattfindende ‹Umwertung› Nietzsches in der bildenden Kunst werden wir mit dem kunsthistorischen Begriff der ‹Transfiguration› beschreiben, da sie immer auch Elemente einer Verklärung beinhaltete (vgl. Kap. 1.), zuletzt in seiner Stilisierung als Pop-Ikone.

Nietzsches Rezeption im Wandel der Zeit ist ein Paradebeispiel für die permanente Veränderung der Perspektiven auf jemanden, der von sich und seinen künftigen Lesern sagte, «nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt» (JGB, Aus hohen Bergen. Nachgesang, KSA 5, S. 243). Der Philosoph und sein Werk waren schon zu seinen Lebzeiten und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann nochmals in mehreren Wellen nach 1945 einem Auf und Ab der Verehrung, Verklärung, ideologischen Indienstnahme und Verachtung, Tabuisierung und Neubewertung ausgesetzt, er war und blieb strittig. Bis zu seinem geistigen Tod im Jahr 1889 hatte er sich aktiv und kritisch mit der unterschiedlichen, oft abschätzigen, ratlosen, ignoranten, teils aber auch zustimmenden Bewertung durch Freunde, Kollegen und Korrespondenzpartner auseinandergesetzt und litt lange darunter, nicht als derjenige gesehen und geschätzt zu werden, als den er sich selbst sah, nicht die Massen ansprechen zu können, die er sich als Zielgruppe wünschte. Dennoch begann Nietzsches erste Umwertung im Sinne einer Vorahnung, eines allmählichen

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