Federica Isabella Malfatti: Verstehen verstehen

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FEDERICA ISABELLA MALFATTI

Verstehen verstehen

Eine erkenntnistheoretische Untersuchung

05

Theoria

KatjaCrone /JohannesHaag /DavidLöwenstein (eds.)

Volume5

Verstehenverstehen

FedericaIsabellaMalfatti
EineerkenntnistheoretischeUntersuchung Schwabe Verlag

Erschienen 2023 im Schwabe Verlag Berlin

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Gestaltungskonzept: icona basel gmbh, Basel

Cover: Zunder & Stroh, Kathrin Strohschnieder, Oldenburg

Satz: 3w+p, Rimpar

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7574-0092-7

ISBN eBook (PDF) 978-3-7574-0093-4

DOI 10.31267/978-3-7574-0093-4

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VeröffentlichtmitUnterstützungdesAustrianScienceFund (FWF):PUB944-G
FürFrieda inmemoriam
Inhalt Danksagung ........ .... ................ .... ................ .... 11 Einleitung .......... .... ................ .... ................ .... 13 1.EinIntegrationsmodelldes Verstehens 17 1.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 17 1.2DasnoetischeSystem:StatischeAnalyse .... ................ .... 21 1.2.1DasnoetischeSystem:AllgemeineBemerkungen ...... .... 21 1.2.2InhaltlicheDimension .......... .... ................ .... 22 1.2.3StrukturelleDimension 25 1.2.4Anmerkungen ................ .... ................ .... 26 1.3DasnoetischeSystem:DynamischeAnalyse ................ .... 28 1.3.1AllgemeineBemerkungen ...... .... ................ .... 28 1.3.2ErweiterungundRevisioneinesnoetischenSystems .... .... 29 1.3.3WegezumepistemischenFortschritt 31 1.4 Verstehen:EintentativesModell. .... ...... .............. ..... 34 1.4.1Wenn Verstehenscheitert ...... .... ................ .... 34 1.4.2 VerstehenundnoetischeIntegration .. ................ .... 35 1.4.3Gradunterschiedeim Verstehen .. .... ................ .... 41 1.5Fazit 43 2. Verstehenund Tatsachen ............ .... ................ .... 45 2.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 45 2.2 «Verstehenistfaktiv»:Washeißtdas?. ...... .............. ..... 47 2.3WassprichtfüreinenFaktivismus?. .. ...... .............. ..... 50 2.4 Verstehenohne Wahrheit?Nichtsoschnell!. 52 2.4.1FalscheRepräsentationssysteme. ...... .............. ..... 53 2.4.2NichtwahrheitsfähigeRepräsentationssysteme ........ .... 54 2.4.3FiktionenalsRepräsentationssysteme ................ .... 56
2.5ElginundPotochnikgegeneinenFaktivismus. .............. ..... 58 2.5.1ErfolgderWissenschaftnachElginundPotochnik ...... .... 59 2.5.2KritikanElgin ................ .... ................ .... 62 2.5.3KritikanPotochnik ............ .... ................ .... 66 2.6Fazit .......... .... ................ .... ................ .... 68 3. VerstehenundRealismus ............ .... ................ .... 69 3.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 69 3.2WissenschaftlicherRealismus .......... .... ................ .... 71 3.2.1DasKein-Wunder-Argument .... .... ................ .... 71 3.2.2EinwändezumKein-Wunder-ArgumentinFragegestellt .... 73 3.2.3WieeinerealistischeAntwortaussehenkönnte ........ .... 78 3.3KontinuitätohneReferenz ............ .... ................ .... 82 3.3.1StrukturelleKontinuität ........ .... ................ .... 82 3.3.2EinAnwendungsfall:Phlogistontheorie ................ .... 85 3.3.3DieRettungdeswissenschaftlichenRealismus 87 3.4Fazit 89 3.5 Vertiefung:Struktur .. ................ .... ................ .... 90 4. VerstehenundErklären .............. .... ................ .... 95 4.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 95 4.2Erklärungsmodelle:EinÜberblick 97 4.2.1DasD-N-Modell. ............ ...... .............. ..... 98 4.2.1.1DieGrundidee. ........ ...... .............. ..... 98 4.2.1.2Probleme .............. .... ................ .... 99 4.2.2Kausal-mechanistischeErklärungen .. ................ .... 103 4.2.2.1DieGrundidee. 103 4.2.2.2Probleme .............. .... ................ .... 105 4.2.3UrsacheundIntervention ...... .... ................ .... 107 4.2.3.1DieGrundidee. ........ ...... .............. ..... 107 4.2.3.2Probleme 108 4.2.4Erklärenals Vereinheitlichen. .. ...... .............. ..... 110 4.2.4.1DieGrundidee. ........ ...... .............. ..... 110 4.2.4.2Probleme .............. .... ................ .... 110 4.2.5Fazit ...... .... ................ .... ................ .... 113 4.3PragmatikdesErklärens 115 4.3.1PragmatischeAngemessenheit .. .... ................ .... 115 8 Inhalt
4.3.2 Verständlichkeit ................ .... ................ .... 118 4.3.3Hineinpassen .. ................ .... ................ .... 120 4.4 VerstehenohneErklärung?. .......... ...... .............. ..... 121 4.4.1Gedankenexperimente .......... .... ................ .... 122 4.4.2ManipulationvonInstrumenten .. .... ................ .... 124 4.4.3 (Hypothesenzu)AsymmetrienundAnalogien 125 4.5Fazit 127 5. (Anhandvon)Theorienverstehen .... .... ................ .... 129 5.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 129 5.2WasisteineTheorie?. .............. ...... .............. ..... 130 5.3Theorienverstehen. 133 5.3.1 Verständnisohne Verpflichtung .. .... ................ .... 133 5.3.2 Verständlichkeitsbedingungen .. .... ................ .... 134 5.4Interpretationsprobleme .............. .... ................ .... 136 5.4.1DiedreiEbeneneinerTheorie .... .... ................ .... 136 5.4.2BeispielefürInterpretationsprobleme 139 5.4.3EpistemischeKonsequenzen .... .... ................ .... 140 5.5Fazit .......... .... ................ .... ................ .... 143 6. Kann das Zeugnis anderer Verstehen übertragen? .. .. .. .. .. .. 145 6.1Einleitung. 145 6.2KognitiverAufwand. 149 6.2.1DasArgument ................ .... ................ .... 149 6.2.2AufwendigesWissen ............ .... ................ .... 151 6.2.3Leichtes Verstehen ............ .... ................ .... 153 6.2.4DasArgument* 154 6.2.5Fazit ...... .... ................ .... ................ .... 156 6.3Erfassen ........ .... ................ .... ................ .... 156 6.3.1DasArgument ................ .... ................ .... 156 6.3.2InvolviertErfassenFähigkeiten?. ...... .............. ..... 157 6.3.3TestimonialesErlernenvonFähigkeiten 160 6.3.4Fazit ...... .... ................ .... ................ .... 162 7.KanndasZeugnisanderer Verstehengenerieren? ........ .... 165 7.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 165 Inhalt9
7.2DerFallvonLilith .. ................ .... ................ .... 167 7.2.1DieTheoriedesanthropogenenKlimawandelsverstehen. ... 167 7.2.2Klimawandelphänomeneverstehen .. ................ .... 169 7.2.3 Verstehengenerieren .......... .... ................ .... 172 7.2.4ProblemeundtentativeAntworten. .... .............. ..... 175 7.3Fazit 177 8. VerstehenundWissen ................ .... ................ .... 179 8.1Einleitung. .... ...... .............. ...... .............. ..... 179 8.2Wasist Wissen?. .... .............. ...... .............. ..... 180 8.3 VerstehenundWissen:Asymmetrien .. .... ................ .... 182 8.3.1Gradierbarkeit 182 8.3.2Gegenstand .... ................ .... ................ .... 185 8.3.3Rechtfertigung ................ .... ................ .... 187 8.3.4Überzeugung. .. .............. ...... .............. ..... 192 8.3.5Wahrheit .... ................ .... ................ .... 194 8.3.6EpistemischerZufall ............ .... ................ .... 195 8.4Fazit .......... .... ................ .... ................ .... 199 9.RückblickundAusblick .............. .... ................ .... 201 Literaturverzeichnis .... ................ .... ................ .... 205 AutorInnen-undSachregister ............ .... ................ .... 213 10 Inhalt

DasvorliegendeBuchbasiertaufmeinerDoktorarbeit,dieich2020anderUniversitätInnsbruckverteidigthabe.ZunächstmöchteichmichbeiChristophJäger,derdieArbeitbetreuthat,herzlichbedanken:fürdieunzählbarenGespräche,dieimmerkonstruktivenKritikenundfürdieArtundWeise,wieermeinen philosophischenHorizonterweiterthat.OhneihnundohnedieSchärfeseines philosophischenBlickeswärediesesBuchwahrscheinlichniezustandegekommen.

WährendmeinesDoktoratsstudiumsdurfteichanderUniversitätzuKöln beiThomasGrundmannundanderHarvardGraduateSchoolofEducationbei CatherineZ.ElginForschungsaufenthalteverbringen.DankeandenDAAD,der meinenForschungsaufenthaltinKölnermöglichthat,undanThomasGrundmann,dermirunteranderembeigebrachthat,wieinspirierendundfruchtbares seinkann,mitjemandemuneinigzusein.DankeauchanCatherineZ.Elgin,besondersdafür,dasssiemirinjedemGesprächneuePerspektiveneröffnethat.Ihr EinflussaufmeineDenkweiseistsoumfassend,dassdasgesamteBuchvonihrer Philosophiedurchdrungenist.

VieleandereFreunde,KollegInnenundStudierendehabenmirunheimlich inderAusarbeitungdesBuchesgeholfen.MeinDankgehtanMarioAlai,AlexanderAfriat,FatimaCavis,MichelCroce,HenkDeRegt,FinnurDellsén,KatherineDormandy,FilippoFerrari,JohannesFindl,JacopoFioravanti,BrandenFitelson,MathiasFrisch,PierluigiGraziani,StephenGrimm,MarioHubert, ClementJessudos,ChristianKanzian,DavidLöwenstein,KseniaScharr,Gerhard Schurz,JohannaStüger,ChristianTappundAlfons Wachter.Einbesonderer DankgehtanJochenBriesen,ConradFriedrich,TanjaRechnitzerundCharlie SagerfürdieZeit,diesiediesemBuchgewidmethaben,undfürdieweiterbringendenKommentareundHinweise.Ichbitteum Verzeihung,solltejemandnach ihrembzw.seinemNamenindieserListesuchenundsichdabeivergessenfühlen.Ichbineuchallendankbar.

Danksagung

WirMenschenstrebendanach,dieWirklichkeitzuverstehen.EineWelt,diewir verstehen,isteineWelt,diewirimGriffhaben,mitderwirgutumgehenkönnen.EineWelt,derenStruktur,DynamikenundMechanismenfürunsnachvollziehbarsind,isteineWelt,inderwirerfolgreicheAkteuresindunddiewirgern bewohnen.Aberwasheißtesgenau,etwas – z.B.einPhänomen,einEreignis odereinSystemderWirklichkeit – zuverstehen?WelcheBedingungenmüssen erfülltwerden,damit Verstehengelingt?Worinliegtunsereepistemischeoder kognitiveErrungenschaft,wennwiretwaserfolgreichverstandenhaben?Das ZieldesvorliegendenBuchesist, Verstehenverständlicherzumachen bzw.auf dieseFrageneineAntwortzuentwickeln.

UmLichtaufdieNaturunddieBedingungenvon Verstehenzuwerfen, werdeichmichzunächstfragen:Wasgeschieht,wenneinSubjekteinPhänomen nicht versteht?WieistdasWeltbildeinesSubjektsbeschaffen,wenndiesesversucht,einPhänomenzuverstehen,unddabeischeitert?WasistanderepistemischenSituationeinesSubjekts,dasindem Versuch,einPhänomenzuverstehen, scheitert,verbesserungswürdig?DieseUntersuchungsperspektivewirdesmirermöglichen,einezentrale,notwendigeBedingungvon Verstehenzuidentifizieren: DamiteinSubjekteinPhänomen P versteht,musseineentsprechende P-repräsentierendeInformationseinheit p indasbereitsetablierteWeltbilddesSubjekts noetischintegrierbar sein.WenneineInformationseinheit p ineinWeltbildsich noetischintegrierenlässt,dannhat p einesinnvolle Position relativzudenanderenInformationseinheitendesWeltbilds,diedieselbeDomänederWirklichkeit betreffen.Sieist,andersgesagt,mitanderenrelevantenInformationseinheiten gutvernetzt,undsiepasstmitdiesengutzusammen,sodassdasSubjektmit keinenWidersprüchenoderDissonanzenkonfrontiertist.

DiebloßenTatsachen,dasssicheine P-repräsentierendeInformationseinheit p ineinWeltbildintegrierenlässtunddasssicheinWeltbildimGleichgewichtbefindet,sindallerdingskeineGarantiendafür,dasseinSubjektdasPhänomen P genuinversteht.DasWeltbildeinesAstrologenz.B.magansichsehr kohärentundhöchstsystematisiertsein;wirwürdenabersichernichtdavonausgehen,dasseinAstrologegenuinversteht,wieEreignisseaufderErdevonastronomischenEreignissenbeeinflusstwerden.DerUrsprungunddie Verbreitung desCOVID-19-Virusmögenhervorragendindas WeltbildeinesSubjekts,das eineempirischwiderlegte Verschwörungstheoriefürwahrhält,hineinpassen.

Einleitung

Wirwürdenabersichernichtbehaupten,dassein Verschwörungstheoretikergenuinversteht,woherdasVirusCOVID-19stammtundwieessichverbreitethat. ObeinSubjektPhänomenegenuinverstehtodernicht,hängtnichtnurdavonab, wiekohärentundkonsistentseinWeltbildist,sondernauchdavon,obundwie gutseinWeltbildderWirklichkeitentsprichtundobundwiegutesinderWirklichkeitverankertist.Wieistaberdieseim Versteheninvolvierte Verankerung zu konzipieren?IchwerdedieTheseverteidigen,dass Verstehenein (moderat)faktiverkognitiverZustandist,d.h.dasswirimmereingewissesMaßanWahrheit brauchen,umdieWirklichkeitgenuinzuverstehen.WennmeineAnalysekorrektist,dannmusseinWeltbilddieWirklichkeit (zumindestingewissemMaße) wahrheitsgetreuwiderspiegelnoderabbilden,damit Verstehenvorliegt.

Wiehängen VerstehenundErklärenzusammen? Primafaciesehreng:Eine Erklärungscheint der Wegschlechthinzusein,derzu Verstehenführt.WirbenötigentypischerweiseErklärungen,umzuverstehen.UnserPlaneterwärmtsich gerademitsehrgroßerGeschwindigkeit.WissenschaftlerInnenfragensich: Warum?Hättenwirdasvoraussehenmüssen?Wiehättenwirdasverhindernkönnen? WassinddieweiterenFolgen? Waskönnenwir heutetun,damitdasPhänomenabgeschwächtwird?EineErklärung,dieunsaufdiefürdieErderwärmung verantwortlichenFaktorenaufmerksammacht,liefertAntwortenaufdieseFragen.SobaldwirdiefürdasPhänomenverantwortlichenFaktorenkennen,wird dasPhänomenfürunsverständlicher(unddadurchhoffentlichauchingewissem Maßekontrollierbar).Ich werdezeigen,dassderZusammenhangzwischenVerstehenundErklärenwenigereng ist,alsesprimafacieerscheint.Verstehenist einesubjektiveErrungenschaft,dieaufderBasiseiner (korrekten)Erklärungerfolgen kann. EinekorrekteErklärungfüreinPhänomenermitteltzuhaben,ist allerdingswederhinreichendnochnotwendig,umdasPhänomenzuverstehen. Esistdeshalbnichtnotwendig,weilesWegegibt,diezu Verstehenführen,aber keineErklärungeninvolvieren.Esist deshalbnichthinreichend,weileineErklärunggewissepragmatischeBedingungenerfüllenmuss,damit Verstehengelingt. Unteranderemmusssie füreinSubjekt verständlich sein.FüreinSubjektistes unmöglich,PhänomeneanhandvonRepräsentationssystemenzuverstehen,die esalssolchenichtversteht.

ErkenntnistheoretikerhabenihreAufmerksamkeitlangeZeitüberwiegend, wennnichtausschließlich,aufWissengerichtet.VielePhilosophInnen,wiez.B. Elgin(2017),Kvanvig(2003)undZagzebski(2011),habenargumentiert,dasses ZeitseifüreineRevolutioninderErkenntnistheorie :AngesichtsderTatsache, dass VerstehengenausowertvollwieWissen,wennnichtsogarwertvollerals Wissensei,solle VerstehenWissen entthronen bzw.solle VerstehenzumHauptuntersuchungsgegenstandderErkenntnistheoriewerden.

WieaberhängenVerstehenundWissenzusammen?SogenannteReduktionistenglauben,dasssich VerstehenimGrundegenommenaufWissenreduzierenlasse. Verstehen,behauptensie,seinurprimafacieeinaußergewöhnliches

14 Einleitung

epistemischesPhänomen;eigentlichhabeeseinsehrvertrautesGesicht:Esinvolvierenichtsanderesalswahre,gerechtfertigteundaufnichtglückliche Weise geformteÜberzeugungen.Ichwerdezeigen,dasszwischenVerstehenundWissentiefeAsymmetrieneszugebenscheint,diezumindesterahnenlassen,dass VerstehenundWissenunterschiedlicheErrungenschaftensind.MeinModell von VerstehenschließtdieMöglichkeitnichtaus,dass VerstehenundWissen sichmanchmalüberlappen.VerstehenundWissenkönnenaberauchauseinanderfallen.

InmindestenseinerHinsichtsindallerdings VerstehenundWissendoch symmetrisch.InderLiteraturistesunumstritten,dassWissenzwischenSubjektendurchassertiveSprechakte übertragen werdenkönne.WissenkönnesozusagenvoneinerSprecherinzueinerHörerinfließen,wenndieSprecherinvertrauenswürdigistunddieHöreringuteGründehat,derSprecherinzuvertrauen (oderkeinegutenGründehat,derSprecherinzumisstrauen).ProminentenAutorInnenzufolge(wiez.B.Lackey2008)könnenassertiveSprechaktesogarWissen generieren: EsscheintfüreineSprecherinmöglichzusein,WisseninHörerinnenundHörerndurchassertiveSprechaktezubewirken,ohneüberWissen zuverfügenodersogarohnedassdiesesWissenirgendwoinderepistemischen Gemeinschaftbereitsvorhandenist.Ichwerdezeigen,dassetwasÄhnlichesfür Verstehengeltenkann. VerstehenkanndurchassertiveSprechakteübertragen undvielleichtsogargeneriertwerden.

Einleitung15

1.EinIntegrationsmodelldes Verstehens

1.1Einleitung

VerstehenisteinsehrwichtigesepistemischesZiel.Wasaberist Verstehen?Was heißtes,etwaszuverstehen?WiesiehtunserWeltbildaus,wenn Verstehengelingt?

InunseremSprachgebrauchhatdas Verb «verstehen» typischerweisedie Funktion,zweiElementemiteinanderzuverbinden:ein (zunächstmenschliches)Subjekt,dasetwasversteht,undeinObjekt,dasvondiesemSubjektverstandenwird.UnserSprachgebrauchmachtunsferneraufdieTatsacheaufmerksam,dasseseineVielfaltvon Gegenständengibt,dieverstandenwerdenkönnen bzw.diealsObjektevon Verstehengeltenkönnen.Betrachtenwirdiefolgenden (epistemischsignifikanten)Verwendungsweisenvon «verstehen»:

(i)«S verstehtdasPhänomender Verbrennung.»

«S verstehtdashistorischeEreignisderEnthauptungLudwigsXVI.»

(ii)«S versteht (vielvon)moderne(r) Geschichte.»

«S verstehtdieFranzösischeRevolution.»

(iii)«S versteht, warum ZuckersichinWasserauflöst.»

«S versteht, warum LudwigXVI.1793enthauptetwurde.»

(iv)«S versteht, dass seineFreundinwütendist.»

(v)«S verstehtdiePhlogistontheorie.»

«S verstehtdasU-Bahn-NetzvonWien.»

(vi) usw. Wirsprechenalsovon «verstehen»

(i)inBezugaufeinzelnePhänomene,EreignisseoderSachverhalte;

(ii) inBezugaufeinegewisseDomänederWirklichkeitoderaufeinegewisseThematik;

(iii)inBezugaufdenGrund,warumetwas – einEreignis,einPhänomen, einSachverhalt – derFallistodervorgekommenist;

(iv) inBezugaufeinzelnepropositionaleInhalte;

(v)inBezugaufTheorienoderRepräsentationssysteme (dieauchfalsch seinkönnenunddienichtunbedingtpropositionalerNaturseinmüssen);

(vi) usw.

DieseAuflistungistnichtumfassend,undvieleepistemischsignifikanteSprachgebräuchevon Verstehenwerdensicherlichvernachlässigt. Wirkönnenaber Baumberger,BeisbartundBrun(2016)folgenunddavonausgehen,dassdiehier angedeutetenSprachgebräuchedenwichtigsten Verstehenstypen entsprechen.

Diejenige,dieeineTatsache,einPhänomenodereinEreignisderWirklichkeit versteht,verfügtüber faktisches Verstehen.Diejenige,dieeineDomäneodereine Thematikversteht,verfügtüber gegenständliches Verstehen.1 Diejenige,dieversteht,warumetwasderFallist,verfügtüber explanatorisches Verstehen.Diejenige,dieversteht,dassetwasderFallist,verfügtüber propositionales Verstehen. Diejenige,dieeinRepräsentationssystemversteht,verfügtüber symbolisches Verstehen.2

SprachgebrauchGegenstand Verstehenstyp

S versteht P Phänomen,Ereignis,Sachverhalt Faktisches Verstehen

S versteht D Domäne,Thematik Gegenständliches Verstehen

S versteht,warum p Grund,Ursache Explanatorisches Verstehen

S versteht,dass p PropositionalerInhalt Propositionales Verstehen

S versteht T Theorie,Repräsentationssystem Symbolisches Verstehen/Verständnis

Wiestehendiese Verstehenstypenmiteinanderin Verbindung?Wiehängensie voneinanderab?

Faktischesundgegenständliches Verstehenscheinensehrengmiteinander verbundenzusein,insofern,alswirfürfaktisches Verstehengegenständliches Verstehenbenötigen – undumgekehrt.Diejenige,diez.B.dasEreignisderEnthauptungLudwigsXVI.versteht,kanndieserInformationeineangemessenePositionrelativzuanderenEreignissenderFranzösischenRevolutioneinräumen. MankannalsodasEreignisderEnthauptungdesKönigsvonFrankreichnicht verstehen,wennmandieentsprechendeDomäneoderThematik,nämlichdie FranzösischeRevolution,inkeinerWeiseversteht.UndaufderanderenSeite

1 Mit «gegenständlich»übersetzeichhierdasEnglische objectual. S.auchBaumberger& Brun(2016);Carter &Gordon(2016);Elgin(2004,2007,2012,2017).

2 Wennichmichaufdassymbolische Verstehenbeziehe,werdeichfortanauchdasWort «Verständnis»verwenden.

18 1.EinIntegrationsmodelldes Verstehens

verfügtdiejenige,diedieFranzösischeRevolutionversteht,überfaktisches VersteheninBezugaufdiemeistenEreignisse,diefürdieFranzösischeRevolution relevantsind.Faktisches Verstehenistalsoohnegegenständliches Verstehenunmöglich – undumgekehrt.

Faktisches Verstehenscheint (zumindestprimafacie)auchexplanatorisches Verstehenzuinvolvieren.Wirwürdenwahrscheinlichnichtsagen,dassjemand dasPhänomender Verbrennungversteht,wennernichtinderLagewärezuerklären, warum Substanzenverbrennen.Wirwürdenwahrscheinlichauchnicht davonausgehen,dassjemanddashistorischeEreignisderEnthauptungLudwigsXVI.versteht,wennerkeineAhnunghätte,warumderKönigvonFrankreichenthauptetwurdebzw.welcheFaktoren (z.B.kausal)relevantinBezugauf dasbetreffendehistorischeEreigniswaren.Faktisches Verstehenerfordertaber sichermehralsexplanatorisches Verstehen. Vonjemandem,derdashistorische EreignisderEnthauptungLudwigsXVI.versteht,erwartenwirnämlichnicht nur,dasserdiefürdasEreignis (kausal)relevantenFaktorenkennt;wirerwartenauch,dasserdie Konsequenzen desEreignisseskennt.Diejenige,diedashistorischeEreignisderEnthauptungLudwigsXVI.versteht,siehtbeispielsweise, wiediesesEreignismitderMachtergreifungvonRobespierrezusammenhängt. Fürfaktisches Verstehenscheinenwiralsoprimafacieexplanatorisches Verstehenzubrauchen;explanatorisches Verstehenistaberfürfaktisches Verstehen nichthinreichend.

BesonderswennesumempirischePhänomeneoderDomänenvonempirischenPhänomenengeht,scheinenfaktischesundgegenständliches Verstehen symbolischesVerstehenvorauszusetzen.Dasheißt:UmeinempirischesPhänomenodereineDomänevonempirischenPhänomenenzuverstehen,mussman typischerweiseeineTheorieodermehrereTheorienverstehen,dieüberdasPhänomenoderüberdieDomäneformuliertwordensind.EineTheoriemussfür unsverständlichsein,damitwiranhandderTheoriedievonihrsystematisierten odererklärtenPhänomeneverstehenkönnen.Symbolisches Verstehenscheintallerdingswederfürfaktischesnochfürgegenständliches Verstehenhinreichend zusein.Esgenügtnicht,Astrologiezuverstehen,umdiePersönlichkeitsmerkmaleunddieStimmungsschwankungenunseresPartnerszuverstehen.Esreicht nicht,diePhlogistontheoriezuverstehen,umdasPhänomender Verbrennung vonSubstanzenzuverstehen.

VieleAutorInnen (wiez.B.Grimm2011)verteidigenaußerdemdieThese, dasssichpropositionales Verstehen (verstehen,dass)aufpropositionalesWissen (wissen,dass)reduzierenlasse.UnserSprachgebrauch – zumindestimDeutschen – kollidiertaberehermitdieserAuffassung:«Ichweiß,dass …»lässtsich sicherlichunproblematischaufdenFallvoneinzelnen,isolierten,einfachenpropositionalenInhaltenanwenden.EineAussagewie «Ichverstehe,dassderZugin einerStundelosfährt»hörtsichdagegenetwasseltsaman.BesserklingenAussagenwie «Ichverstehe,dassduwütendaufmichbist»oder «Ichverstehe,dass

1.1Einleitung19

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