Sophie Marshall: Jenseits der Gabe

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JENSEITS DER GABE

Schätze und Geld in mittelalterlicher Literatur

SOPHIE MARSHALL

Jenseits der Gabe

Schätze und Geld in mittelalterlicher Literatur

Sophie Marshall
Schwabe Verlag

Erschienen 2023 im Schwabe Verlag Berlin GmbH

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Abbildung Umschlag: Fafner als Drache den Nibelungenhort bewachend / nach einer Skizze von Arnold

Böcklin. 1884. Quelle: BnF Gallica / gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France. Mit freundlicher Genehmigung

Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin

Cover: icona basel gmbh, Basel

Layout: icona basel gmbh, Basel

Satz: 3w+p, Rimpar

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7574-0099-6

ISBN eBook (PDF) 978-3-7574-0100-9

DOI 10.31267/978-3-7574-0100-9

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Inhalt Vorwort .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 9 1ImSchatten der Gabe. Schätze und Geld in Mittelalter und mittelalterlicher Literatur .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 11 1.1 Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs? Gabe und Ware, Gabenlogik und Geldlogik .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 13 1.2 Der Schatten des Tauschs:Das ‹Jenseits› aller Zirkulation. .. .. .. . 26 1.2.1 Fossilisation .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 29 1.2.2 Einfaches oder «doppelte[s] Fundament der Gesellschaft»? Konzepte von zwei ‹Sphären› und sacra 38 1.3 Jenseits und vor aller Reziprozität:Gabe vs. Austausch .. .. .. .. .. .. 56 1.4 Geld .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 62 1.4.1 Was ist Geld, und was ist Geld im Mittelalter?. .. .. .. .. .. .. . 63 1.4.2 Kommerzielle Geldwirtschaft im Mittelalter?. .. .. .. .. .. .. . 70 1.4.3 Vergraben oder investieren?Mittelalterliche Geldwirtschaft(en)bezüglich Zirkulationund Hortung .. .. .. 80 1.5 Die mittelalterliche Perspektive .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 89 1.5.1 MittelalterlicheÖkonomietheorie vs. Gabenlogik .. .. .. .. .. 93 1.5.2 MittelalterlicheGeldtheorie vs. Abstraktionstelos .. .. .. .. .. 101 1.6 Textkorpus und Aufbau. 122 2Jenseits der Zirkulation I: PrototypischeSchatzeigenschaften. Horte zwischen Lévi-Strauss und Godelier .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 125 2.1 ‹Tote Kultur› jenseits Prosperität und Gabe – Beowulf .. .. .. .. .. .. 126 2.2 Tabu der (Ver‐)Teilung – Nibelungenlied .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 134 2.3 niht anders wan steine und golt – was der Nibelungenhort ist und was nicht .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 147 2.4 StörfaktorHortprinzip oder:Hort vs. Ringgeld und marke (Nibelungenlied, Gesta Danorum, Nibelungenklage). .. .. .. .. .. .. . 173
2.5 Etzels ungelückes hort und ein falsch abgemessener Otter –Vermehrung der Horte (Nibelungenlied, Edda, Nibelungenklage). . 198 2.6 Jenseits der Heldenepik:Prototypische Schatzeigenschaften im Roman (Gregorius, Parzival,mit Blick auf den Wartburgkrieg). . 229 2.7 Punktestand (Zwischenfazit). .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 250 3Jenseits der Zirkulation II:Ursprünge 255 3.1 Am Anfangwar der Fisch – Ursprünge von Schatz, Geld und Zirkulation (Waltharius, Edda, Matthäusevangelium ). .. .. .. . 255 3.2 Lévi-Strauss im Sangspruch – Ursprungder Gabe beim Wilden Alexander .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 288 3.3 Integrity im Sangspruch – Ursprungdes Geldes und Absage an die Gabe bei Michel Beheim .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 300 4Brennpunkt Geld? Fortunatus .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 313 4.1 ÖkonomieinLiteratur und Leben um 1500:Geldwirtschaft –und Gabentausch?Fragen an den Fortunatus 313 4.2 Das Geld und die Kleinode .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 327 4.2.1 Fortunatus beim Grafen von Flandern: Dynamik ‹verkehrter› Ökonomie. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 329 4.2.2 London:Tödliche Kleinode .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 336 4.3 Das kleinat und sein Geld:ChimärenmotivGlücksäckel 354 4.3.1 Die ‹unzertrennbaren Kleinode›: Glücksäckel und Wunschhut als sacra .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 355 4.3.2 Die ‹leerenKleinode›: Glücksäckel und Wunschhut als Anti-Hort .. .. .. .. .. .. .. .. 369 4.3.3 Das Säckelgeld:Gold und Vertrauen 375 4.3.4 Zwischenfazit .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 386 4.3.5 Der Glücksäckel:Diesseits von ‹Geldlogik› .. .. .. .. .. .. .. .. 387 4.4 Fazit zum Fortunatus .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 398 5Das Jenseits der Gabe:Ergebnisse. Mittelalterliche Literatur als Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit, synchron und diachron 403 Abkürzungenund Zitation .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 427 6 Inhalt
Literatur .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 429 Primärliteratur 429 Grammatiken und Wörterbücher .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 435 Forschungsliteratur .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 436 Inhalt 7

Dieses Buch ist währendder Jahre meiner Juniorprofessur an der FriedrichSchiller-Universität Jena entstanden. Mein besonderer Dank gilt Jens Haustein und Manuel Braun, die mir nicht nur in dieser Zeit als geschätzte Freunde in der Nähe und in der Ferne zur Seite standen, sondern auch durch ihre genaue und kritische Lektüre mein Buchprojekt unterstützt haben. Meinen vielen Jenaer Kolleginnen und Kollegen, besonders Matthias Perkams, Jan Dirk Harke und Roland Schuhmann, bin ich für freundliche Gespräche und wichtige Hinweiseebenso dankbar. Außerdemdanke ich Susanne Köbele, Christian Kiening und ihren Zürcher Studierenden und Lehrstuhlangehörigen für überaus anregende und hilfreiche Diskussionen. Auch Margreth Egidi und dem Paderborner IEMAN (Institut zur interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens)sei dafür gedankt, dass ich in angenehmer Atmosphäre meine ersten Ideen vorstellen und besprechen durfte. Immer ein offenes Ohr und guten Rat hatten Anna Mühlherr und Justin Vollmann für mich. Sehrgeschätzt habe ich zudem den Austausch in meinem DFG-geförderten Wissenschaftlichen Netzwerk«Dinge in der Literatur des Mittelalters – historische Formen der Ding-Mensch-Relation», wobei mich besonders die Studien zu Schätzen von Christina Antenhofer, Bettina Bildhauer und Anna Mühlherr in meiner Arbeit motiviert haben. – Ab dem Jahr 2022 erschienene Forschungsliteraturkonnte für dieses Buch nicht mehr vollständig berücksichtigt werden.

Vorwort

1ImSchatten der Gabe. Schätze und Geld in Mittelalter und mittelalterlicher Literatur

Biß ymer gebende, 1 ‹Sei immer gebend!›,diese Weisung giltKönig Artus. Ihre Implikationen dürften mittelalterlichen Rezipienten selbstverständlich gewesen sein. Gaben verteilen zu können, ist für die soziale Hierarchie bedeutend;Ritter zu beschenken, stellt treue Bindung und Gegenleistung sicher;Reichtum nicht für sich zu behalten, ist für das Seelenheil relevant. Die Aufforderung zielt auf viele Einzelhandlungen, die das soziale und politische Leben gestalten sollen –eben dies scheint in mittelalterlicher Literatur generell zuzutreffen, Gabenhandlungen sind in erzählenden Texten der Zeit zentral. Und doch lässt der zitierte Rat schon deutlich werden, dass eben nicht ymer nach solchen Mustern gehandelt wird. Ganz im Gegenteil.

Das Paradigmader Gabe – genauer:die dreifache Verpflichtung von Geben, Empfangen und Erwidern, oder:Gabentausch bzw. Gabenlogik –2 stand bereits vielfältig im Fokus der mediävistischen Literaturwissenschaft.3 Grundlegenden Funktionsweisen mittelalterlicher Kultur und ihrem Niederschlag in der zeitgenössischen Literatur ist in diesem Zusammenhang nachgespürt worden, etwa wie über Gaben Beziehungen, Verpflichtungen und Hierarchien hergestellt werden. Auch ‹gewaltsame Gaben› sowie Raub und Vergeltungwerden im Licht der reziproken Gabenlogik betrachtet,4 deren Grundregeln solche ‹negative Sozialität› demnach ebenso zu folgen scheint. Doch nicht alle Handlungsverläufe, in denen wertvolle Gegenstände eine Rolle spielen, sind mit diesem Paradigma zu erfassen. Die vorliegende Untersuchung nimmt das in den Blick, was sich im Schatten der Gabenlogik befindet. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Bereiche unterscheiden, die dem Modellder Gabe als ‹Anderes› gegenüberstehen. Ihr eventuelles und gegebenenfalls spezifisches Erscheinen in mittelalterlichen narrativen Texten (zur Auswahl s. Kap. 1.6)soll hier untersucht werden.

1 Prosalancelot,zitiert nach:Steinhoff 1995a, I, S. 668, Z. 16. Zum Kontext und Verständnis der Stelle s. Kap. 1.2.2 mit Anm. 223.

2 Zur Problematik der Begriffe und ihrer Implikationen s. Kap. 1.1 u. Kap. 1.3 mit Anm. 286.

3 Vgl. den Forschungsaufriss in Kap. 1.1.

4 So etwa von Oswald 2004;Sahm 2014a;Gebert 2017a;Mühlherr 2018;auch Cowell 2007, z. B. S. 3, 13, 52–63, 105, 109, 112.

Nicht nur wird, erstens, die Frage nach dem vermeintlichen Gegensatz von Gabentausch und monetärem Warenhandel gestellt. Ob – und wenn ja:für welche Zeitenund welche Kulturen – solch ein Gegensatz überhaupt existiert, ist umstritten (s.Kap. 1.1), sodassdie Textuntersuchung mit möglichst wenig Vorannahmenund heuristisch offen operieren muss. Es wird auch, zweitens,die Frage nach dem Ursprung der Gabe ‹vor› jedemKreislauf der Reziprozität gestellt, nach der ‹ersten› Gabe also, auf die erst Reziprozitätfolgt. Dieses ‹Jenseits› zum Gabentausch, das ihn erst anstößt, hat bereits Derrida und andere interessiert (s.Kap. 1.3). Besonders aber stellt sich, drittens, die Frage nach dem entgegengesetzten Ende von Reziprozität und Zirkulation: dem Hort. Wertvolle Gegenstände, welche die Zirkulationverlassen und thesauriert werden, Schätze also, stellen ein bedeutendes Motiv in mittelalterlicher Literatur dar, obwohl immer wieder supponiert wird, dass der dort erzählten Sozialität die Gabenlogik zugrunde liege. Deren Grundregeln lassen aber nicht erkennen, wie sich das Behalten und Sammeln zu dieser Sozialität verhält (s.Kap. 1.2).

Die drei genannten Interessen sind nicht nur darüber verbunden, dass ihre Gegenstände,jeder für sich und auf unterschiedlichen Ebenen, Negative zu Austauschlogiken der Gabe bilden:als mögliches ‹anderes System› im ersten Fall, als logisches ‹Davor›,das erst ins Feld der Gabendynamik eintritt, im zweiten, und als entsprechendes ‹Danach›,als (und sei es nur zeitweilige)Herausnahme von Dingen aus allen Austauschprozessen im dritten Fall. Die Untersuchung wird auch zeigen, dass in einer Reihe von Texten des Mittelalters alle drei ‹Jenseitsbereiche› des Gabentauschs im Zusammenhang mit einem Phänomen betrachtet werden, dessen Stellenwert zu jedemder drei Bereiche genau zu klären ist:Geld. Wie sich Geld zum sogenannten Gabentausch verhält,wie es im Erzählen vom Ursprung der Reziprozität verhandelt wird und welchen Stellenwert es in der Literatur in oder gegenüber Schätzen hat, gilt es zu untersuchen.Grundsätzlich ist dabei zu klären, was Geld im gegebenen kulturellenKontext überhaupt sein kann (s.Kap. 1.4.1); als problematisch erweist sich hierbei u. a. die immer wieder vertretene Annahme einer historischen Entwicklung ‹vom Materiellen hin zum Virtuell-Abstrakten› (s.Kap. 1.5.2).

In literaturwissenschaftlichen Arbeitenzur Gabenökonomie dominiert zudem das Narrativ der angeblichnoch nicht ausgebildeten Geldwirtschaft zumindest im Frühmittelalter;die aktuellen Diskussionen der Geschichtswissenschaft zu Geld und kommerziellem Handel des Mittelalters bleiben dabei vielfach unberücksichtigt – hier steht ein ganzer Forschungsdiskurs ‹im Schatten der Gabe›. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch einer engeren Zusammensicht der kulturanthropologischen Gabentheorie mit der reichen archäologischen und ökonomiehistorischen Mittelalterforschung der letzten Jahrzehnte (s.Kap. 1.4.2 u. ö.), um die mittelalterliche Literatur angemessenbeleuchten zu können.

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1ImSchatten der Gabe. Schätze und Geld in Mittelalterund mittelalterlicher Literatur

1.1 Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs?Gabe und Ware, Gabenlogik und Geldlogik

DersogenannteGabentausch stehtseitJahrzehnten im Interesseder mediävistischenForschung,wobei regelhaftimplizitoderauchexplizit dazu konträre Austauschprinzipien dieFolie bilden.Dieses ‹Jenseits derGabe› soll nunzuerst umkreist werden.Umdie Spannbreiteder Thesen desTauschs alsUniversalie und derjenigen vonmöglichen dichotomischen Differenzierungenaufzuzeigen,sind zunächst sowohl diebasalsten Austauschtheoremeals auch Annahmen desGegensatzes vonGabentausch undanderen Tauschformensowie dieRolle desGeldes dabeivorzustellen. Schließlichist dieaktuellesoziologischeund geschichtswissenschaftlicheKritikeinzubeziehen.Zielist es,präventiv mögliche blickverengende Vorannahmen undvereinfachendeNarrative auszuloten

Das Geben,Empfangenund Erwidern von Gaben istseit Marcel Mauss’ einflussreichem Essay«DieGabe» («Essaisur le don»,1923/24)als Kulturkonstituensbeschrieben5 und alssoziologisches Paradigmaverteidigt6 worden.Mauss arbeitet das Phänomen empirisch an umfassendenStudienv.a.zu«sogenannten primitiven»7 und archaischen Kulturen heraus; seinAnspruch ist aber die Darstellung einerStruktur von generellerGültigkeit.8 Demnachtreten Clans und Individuen in einsoziales Netzüber den Austausch vonmateriellen Gütern,Höflichkeiten, Festmählern, Dienstleistungen, künstlerischen Darbietungen sowie Verwandten,die anderenFamilienindie Ehe gegebenwerden.9 Gabentausch ist ausdieser Sicht alsokein einfach ökonomisches,sondern ein ‹totales› Phänomen menschlicher Kultur.10 All diesen ‹Gaben› sei ein ‹Zwang› zu ihrer Annahmesowie zu ihrer – allerdingsoftmalszeitverzögerten – Erwiderung inhärent,11 sei es in Formeinerkonkreten Gegengabe, einerDienstbereitschaft o. a.12 Sie stellten

5 Vgl. z. B. Mauss 1996, S. 17:«Alles, was das eigentliche gesellschaftliche Leben der Gesellschaften ausmacht, die den unseren vorausgegangen sind, […]ist darin verwoben»; Hahn 2015, S. 14:«Geben erzeugt Gesellschaft genauso wie das Annehmen einer Gabe»; Caillé 2006, S. 183:Die Gabe sei «privilegierte[r] Antrieb der Sozialität».

6 Vgl. Caillé 2006.

7 Mauss 1996, S. 17 u. ö.

8 Vgl. ebd., S. 17, 19, 157–165;Evans-Pritchard 1990, S. 11 f.; Hahn 2015, S. 12–15, 19; Caillé 2006, S. 172, 176, 196;Angriffen auf die Plausibilität der Universalismus-Hypothese begegnet Caillé ebd., S. 196

206.

9 Vgl. z. B. Mauss 1996, S. 22, 39, 118, 176 f. u. ö.; Mauss 2006, S. 14.

10 Vgl. Mauss 1996, S. 17 f., 22, 176–178 u. ö.; Evans-Pritchard 1990, S. 9f.

11 Vgl. Mauss 1996, S. 17 f., 25 f., 28, 36–39, 98, 100, 147, 157 f. Die Verweigerung der Annahme hat Konsequenzen und «kommt einer Kriegserklärung gleich»(ebd., S. 37).

12 Diesem Aspekt der Reziprozität geht insbesondere Derrida nach (s.Kap. 1.3), für den auch bereits eine emotiv-moralische Reaktion (Schuldgefühl, Dankbarkeit)eine ‹Erwiderung› ist, sodass es aus seiner Sicht eine ‹reine Gabe› (imGegensatz zum Tausch)inMauss’ System

1.1 Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs? 13

Bündnisse her sowie über die erzwungeneVerpflichtung des Empfängers, da sie ihn zum ‹Schuldner› machten,auchHierarchien und Abhängigkeiten;Gabentausch könne daher auch agonistische Zügeannehmen.13 Mittels dieser Logiken und Wirkungen stifteten Gaben eine über den Prozess derÜbergabe zeitlich hinausgehende Bindungzwischenden am Austausch Beteiligten,die oftmalssoweit gehe, dass sie alsinder Gabe selbst befindliche ‹Gegenwart› desGebers empfunden werde.14 In jedem Fall sei ihre Funktion in erster Linie diese Etablierungeiner Bindungemotionaler, moralischer und rechtlicher Natur, die (hierarchische)Situierung der Menschen zueinander, ja das Stiftenvon Sozialität,15 währendbiologischeNotwendigkeiten(Ernährung,Fortpflanzung)eineuntergeordneteRolle spielten. «Der Mensch istein individueller, moralischer, sozialer, politischer, wirtschaftlicher usw.Mensch,weilerTauschpartnerist»16 .

Insbesondere Lévi-Strauss hat diesen Aspekt der totalen sozialen Tatsache weiter ausgeführt:Ersieht im Austausch die conditio humana,mittels welcher grundsätzlich Kultur aus der Natur emergiere.17 Das psychologische, als Strukturpotenzial angeborene18 Prinzip von Reziprozität sei allen konkreten gesellschaftlichen Bräuchendes Austauschs universal vorgeordnet.19 Diese strukturelle Basis, in jederArt Austausch (sogar dem von Wörtern)aktualisiert, werde besonders in der zentralensozialen Universalie des Inzestverbots verwirklicht, also im Austausch der Frauen zwischen Familien.20 Weitere strukturalistisch ansetzende Theorien stehen an der Seite von Lévi-Strauss.21 Die ‹Zerdehnung› des Gabenbegriffssolcher Ansätze – der Austausch von Gegenständenwie auch von Menschen sowie von allen möglichen immateriellen Phänomenen – ist in Mauss’

gar nicht gibt (Derrida 1993, S. 17, 22–25, 37–56). Das Risiko der Nicht-Erwiderung betonend, will Caillé 2006, S. 181–183, hingegen doch von ‹Gabe› sprechen.

13 Vgl. Mauss 1996, S. 24 f., 92, 95, 99, 146 f., 170 f. Zur ‹Schuld› vgl. auch Godelier 1999, S. 61

66, 71, 82;Gregory 2015 (1982), S. 13. Dass trotz des Schuld-Aspekts Agonismus kein zwingendes Charakteristikum aller Gabenreziprozität ist, betonen Caillé 2006, S. 194, 199–202, wie auch Godelier 1999, S. 57–60, 206–226.

14 Vgl. Mauss 1996, S. 33–36, 118, 152, 158 f.

15 Vgl. ebd., S. 17 f., 51;s.o.Anm. 5; Godelier 1999, S. 61–66, 71;Hénaff 2014, S. 74 f.

16 Papilloud 2006, S. 262, mit Verweis auf Mauss 1999, S. 162 ff., und Mauss 1989, S. 28 ff.

17 Vgl. Lévi-Strauss 1993, S. 80.

18 Vgl. ebd., S. 159–162.

19 Vgl. ebd., z. B. S. 136 f., 140, 142.

20 Vgl. grundlegend Lévi-Strauss 1993, prägnante Zitate s. u., Anm. 102. Zum Austausch von Wörtern und zu Sprachstrukturen als Ausdruck der universalen Gesetze, die sich genauso in Verwandtschaftsstrukturen ausdrückten, vgl. Lévi-Strauss 1966.

21 Den anglo-amerikanischen und französischen Traditionen dieser Austauschtheorien seiner Zeit widmet sich Ekeh 1974;vgl. auch den Band von Kapferer 1976b, einführend ebd. Kapferer 1976a, S. 1

21;Parkin 1976 (bes. S. 163 f., 187); Homans 1961, z. B. S. 12

14, 317, 365, 391 f.; Kopytoff 2003, S. 68.

14 1ImSchatten der
und Geld in Mittelalterund mittelalterlicher Literatur
Gabe. Schätze

Theorie der Gabe als totalen Prinzips angelegt, wird allerdings mit einigem Recht auch kritisiert.22 VonRelevanz erscheint forschungsgeschichtlichinsbesondere, wie Lévi-Strauss Frauen zu Gaben ‹degradiert›. 23 Für die vorliegende Arbeit ist aber zunächst einmal die Hypothesevon Interesse, dass der Austausch die Grundlage von Sozialität sei;später entstandennämlich Lévi-Strauss hierin kontrastierende Entwürfe (s.Kap. 1.2.2). Prinzipiellbesteht die Idee, dass die civitas auf Tausch basiere, schon seit den Schriften des Aristoteles (s.u.Kap. 1.5.1):24 «[W]enn Tausch,dann Gemeinschaft», so der antike Philosoph, und keinesfalls «gäbe es Gemeinschaft, wenn es keinen Tausch gäbe»; «durch den Austausch aber bleiben sie [die Menschen]zusammen [, … wenn]reziprokes Geben stattfinde[t]».25

Auf den von Mauss etablierten Grundsätzen baut eine solche Vielzahl mediävistischer (geschichts- wie literaturwissenschaftlicher)Arbeiten auf, dass dieser Forschungsbereich schon Ende der 1990er Jahre für kaum noch überblickbar erklärt wurde.26 Für die mittelalterliche Kultur und ihre Literatur scheint das Phänomen der Gabe, wie Mauss es beschrieben hat, zentral zu sein;inQuellen gespiegelte wie auch fiktionale Handlungslogiken werden mit diesem anthropologischen Rüstzeug durchsichtig gemacht. Für die ältere literaturwissenschaftli-

22 Kritik etwa bei Emmerich 2004, S. 25.

23 Vgl. z. B. Lévi-Strauss 1993, S. 121:Von den sogenannten ‹primitiven› Kulturen bis in moderne Gesellschaften habe der Tausch, «was die Frauen betrifft, [seine]grundlegende Funktion behalten [ ], weil die Frauen das kostbarste Gut bilden»; S. 124:«die Frau selbst ist nichts anderes als eines dieser Geschenke, freilich die höchste jener Gaben, die nur in Form gegenseitiger Gaben zu erhalten sind». Dazu der Einwand von Godelier 1999, S. 54:«Das Inzestverbot führt zu drei logisch gleichwertigen Möglichkeiten. Entweder tauschen die Männer untereinander ihre Schwestern, oder die Frauen tauschen untereinander ihre Brüder, oder die Gruppen tauschen untereinander Männer und Frauen. Vondiesen drei logischen Möglichkeiten hat Lévi-Strauss nur eine übrigbehalten, indem er den Tausch der Frauen zwischen den Männern […]als universelles Faktum postuliert hat. Nun existieren aber die drei Möglichkeiten soziologisch», was sich empirisch nachweisen lasse. «[D]er Austausch von Frauen ist kein universelles Faktum,wie Lévi-Strauss behauptet. Er ist lediglich die statistisch häufigste Form von Heiratstausch.» Dass Lévi-Strauss’ Thesen wissenschaftsgeschichtlich problematisch sind, da sie eine strukturelle Gleichsetzung von Frauen und Dingen in realen Austauschlogiken suggerieren, versteht sich. Heuristisch ist diese strukturalistische Sichtweise für mittelalterliche Literatur mit ihren manchmal holzschnittartigen Figuren und Regelwerken allerdings – was den oder die moderne(n) Leser(in)durchaus empören kann – zuweilen auch ergiebig. Die Idee der Frau als

‹Gabe› zwischen Männern lässt sich jedenfalls in mittelalterlicher europäischer Literatur nachweisen. Allerdings gibt es auch hierzu im Einzelnen divergierende Auffassungen (vgl. Cowell 2007, S. 97

99, 134

152).

24 Vgl. Kaye 1998, S. 51.

25 Aristoteles, Ethik V,8;Übers.: Aristoteles 2006, S. 173, 175.

26 Publikationen gebe es «onsuch ascale, that it is hard to keep track of all their publications», wie Bijsterveld 2001, S. 123, feststellt;vgl. ebd., S. 125:«dozens of books on the gift».

1.1
15
Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs?

16 1ImSchatten der Gabe. Schätze und Geld in Mittelalterund mittelalterlicher Literatur

che Forschung gilt etwa die Arbeit von Leisi als grundlegend;für die jüngere germanistische Mediävistik lassen sich exemplarisch der von Baisch herausgegebene Sammelbandsowie die Arbeitenvon Oswald, Sahm, Reichlin und Egidi aufführen;komparatistisch ist die Studie Cowells.27 Da zum Austausch der europäischen Kultur des Mittelalters auch Münzgeld gehört, wird dieses Thema in einigen der genanntenStudien ebenfalls berührt.

Zur Beschreibung von Tausch- bzw. Gabenlogiken dienen diesen Arbeiten immer wieder unterschiedliche Binarismen, die nicht miteinander zur Deckung gebracht werden können. Cowell unterscheidetzwischen«the symbolic economy»des Gabentauschs und «commodification»;28 bei Letzterem sei das Tauschobjekt selbst Objekt des Begehrens, während es eigentlich im Gabentausch nur Symbol der Beziehung der Austauschpartneruntereinander sei.29 Mit commodification ist also nicht einfach monetärer Warenhandel gemeint,sondern etwa die Rolle der Braut Kriemhild (sie sei nicht ‹Gabe› zwischen Gunther und Siegfried, sondern Objekt von Siegfrieds Begierde, eine commodification,die das Nibelungenlied B problematisiere).30 Geld ist hier kein Differenzkriterium,sondern tritt in beiden ‹Systemen› auf.31 – Egidi wiederum nimmt kritisch die Parameter von ökonomischen(verrechnenden, utilitaristischen, zweckrationalen)und anökonomischen(zweckfreien) Gabenlogiken in den Blick.32 Das Ergebnis ihrer Studie ist differenziert:Eine Abwertung oder Negation des ökonomistischen Tauschs (etwa im Bereich der Liebe)sei eher ein modernes denn ein mittelalterliches Ideal.33 Münzgeld wird bei Egidi dem ökonomistischen Kalkül zugeschlagen, allerdings innerhalb dieser berechnenden Logiken relativ unterschiedslos zusammen mit anderen Wertgegenständenund Gabeneinsätzen verschiedenster Art verhandelt.34 – Ähnlich bedenktReichlin kritisch den «Gegensatz von Ökonomischem und Anökonomischem »und fragt nach der «‹Gabenhaftigkeit des Tauschens›»35 ;auch diesem Blick auf ‹Hybridformen› und ‹spielerische Verschrän-

27 In der Reihenfolge ihres Erscheinens:Leisi 1953;Oswald 2004;Cowell 2007;Egidi 2008; Reichlin 2009;Sahm 2014a;Sahm 2014b;Baisch 2017.

28 Cowell 2007, S. 94, 136 u. ö. Er schließt an die Studie von Kay 1995 an.

29 Vgl. Cowell 2007, S. 94–99, 134–152. Basis bildet Stratherns Theorie von Gabe und Ware, vgl. Strathern 1988, S. 143–147;vgl. auch Hénaff 2014, S. 75;Gregory 2015 (1982), S. 13.

30 Vgl. Cowell 2007, S. 134–152.

31 Vgl. z. B. ebd., S. 69, zu The Poem of the Cid.

32 Vgl. Egidi 2008, S. 9–19, 39–42, 227–237;Egidi u. Wedell 2012, S. 9f., 14–17. Diese Parameter sind auch für Kiening u. Koller 2021, S. 22 f., 43, 47 f., 51, 53, 63, 80 f., zentral.

33 Egidi 2008, z. B. S. 40–42, 68–83, 227–237. Vergleichbar auch das Ergebnis von Reichlin 2009, S. 230 f.

34 Vgl. Egidi 2008, z. B. S. 228.

35 Reichlin 2009, S. 40. Sie meint damit «Effekte[], die Reziprozität unterlaufen oder überschreiten, ohne dass sie dessen [des Tauschens]anökonomischen Gegensatz darstellen»(ebd.).

Vgl. auch ebd., S. 230 f.

kung› dient jener Binarismus als heuristische Basis.36 Hinsichtlich der in den Mären zentralen Begehrensstrukturen des Tauschens ist es für Reichlin dabei insbesondere das Geld, das «aufgrund seiner PotenzialitätBegehren erzeugt»37 – eine Potenzierung eines Phänomens, das für den Tausch aberauch sonst konstitutiv sei.38

Vonden genannten Dichotomien (‹symbolic economy vs. commodification› sowie ‹ökonomisch vs. anökonomisch›)zuunterscheiden ist noch eine weitere, insbesondere für Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit oft in Anschlag gebrachte,welche letztlich das Geld zur differentia specifica macht.Dabei wird das Geld mit scheinbarer Selbstverständlichkeit einem ‹kommerziellen Handel› als Gegenpol von Gabeninteraktionen zugeschrieben. Mit dem Geld erschiene dann etwas ‹Neues›,das die ‹alte Gabenlogik› abzulösen beginne:«Gaben- versus Geldlogik».39

DasNarrativ, dasdahintersteht,ist daseiner Entwicklungder Gesellschaften vonGabentauschgesellschaften(‹Naturvölkern›, ‹archaischen› Kulturen)zu ‹ausdifferenzierten›40 kapitalistischen Warentauschgesellschaften. Eine solche Entwicklungshypothese – Maussselbstist hier nichteindeutig positionierbar –41 istvon einerReihe vonSoziologenund Wirtschaftsethnologenscharfkritisiert worden.42 DieKritikenlassensichzweiKategorienzuordnen, dereneine (a)nur dasdiachro-

36 Vgl. Reichlin 2009, S. 230 f.; ebd., S. 112:Reichlin möchte «fragen, wie die Texte unterschiedliche Tauschordnungen voneinander abgrenzen». Es seien «die literarischen Gabe- und Tauschmodelle höfischer Literatur (milte,gegenseitiges Überbieten beim Geben, ambivalente Gaben)weiterhin wirksam, weil sie als intertextuelle Muster aufgegriffen und neu besetzt werden. Zum anderen spielen die Texte damit, unterschiedliche Tausch- und Gabekonzeptionen (u.a.Güterwirtschaft, Inkommensurabilität von minne,Almosen)ineinander zu verschränken und Interdependenzen zwischen ihnen sichtbar zu machen»(ebd.).

37 Ebd., S. 235.

38 Vgl. ebd., S. 64 f., 70, 81.

39 Z. B. M. Braun 2001, S. 103 (Zitat); B. Kellner 2005, S. 330 f. («versachlichte[r] Verkehr der Waren über Verkauf und Zahlung»inder Geldwirtschaft vs. «persönliche Beziehung von Gebendem und Empfänger»imGabentausch, S. 331); Oswald 2004, S. 322–324;Kiening u. Koller 2021, S. 31, 45, 72 u. ö.; für das Frühmittelalter schon Leisi 1953, S. 268 f. Hinter diesen Modellen steht meist eine Sicht nach Georg Simmels Philosophie des Geldes, vgl. Reichlin 2009, S. 68 f., sowie nach der Systemtheorie Niklas Luhmanns, vgl. Reichlin 2009, S. 71–76, Oswald 2004, S. 322–324, und grundsätzlich M. Braun 2001.

40 Nach Luhmann 1988 (bes. ebd., Kap. 7),s.o.Anm. 39.

41 Auch wenn Hahn 2015, z. B. S. 12 u. 14, im evolutionistischen Modell Mauss missverstanden und entstellt sieht, gibt Mauss doch auch Anhaltspunkte für diese Auslegung, z. B. Mauss 1996, S. 19, 134, 172 f. Vgl. Papilloud 2006, S. 248:Eine klare Beschreibung des Verhältnisses von Gabentausch und Marktwirtschaft misslinge Mauss. Siehe auch Paul 2006, S. 297 f.

42 Vgl. Hahn 2015, S. 11–16;Hénaff 2014;Rus 2008 (mit weiterer Forschung); Kumoll 2006, S. 130–135 (mit weiterer Forschung); Parry u. Bloch 1989, S. 7–16.

1.1 Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs? 17

18 1ImSchatten der Gabe. Schätze und Geld in Mittelalterund mittelalterlicher Literatur

ne Ablösungsmodell undderen andere (b)die Phänomen-Differenz selbst bestreitet.

Für Hénaff etwa handelt es sich beim Gabentausch und beim Warenhandel um zwei distinkte Phänomene (a), die beide schon in den (aus ‹modern-westlicher› Sicht) ‹alteritären› Kulturen nebeneinander existiert und verschiedene Funktionen besessen hätten.43 In dieselbe Richtung gehen die Studien Gregorys.44 Ihre Differenzkriteriendieser Systeme entsprechen dabei aber grundsätzlich denen, die auch bei der Entwicklungshypothese vorgebracht werden.

Der Gabe wird hierbei die Ware, dem Gabentausch der kommerzielle Markt entgegengesetzt. Zentrale Distinktionsmerkmale sind (1) der hohe Grad an Sozialität auf Seiten des Gabentauschs (Herstellung persönlicher, zeitlich andauernder Bindungund Verpflichtung,«freundschaftliche[r] Gefühle»45,Loyalität, Asymmetrie/Hierarchie, Agonalität etc.) und ihr Fehlen auf Seiten des Warenkaufs;(2) die verschiedene Zeitdauer der Interaktion:Aufschub der Erwiderung der Gabe versus annähernde Gleichzeitigkeit der Bezahlung der Ware;(3) die in der Gabe fortdauernde ‹Gegenwart› des Gebers, dessen Teil oder Eigen sie nicht aufhört zu sein, einerseitsund die vollkommene Lösung der Ware vom Verkäufer und Hersteller nach der Transaktion andererseits;(4) utilitaristischeMoral auf Seiten des Warenmarktes hinsichtlich Maximierung des materiellen Profits.46 Wenn Geld als Medium des Warenkaufs thematisiert wird, gilt es meist als ideales unpersönliches Mittel exakt messbarer Äquivalenz der Tauschwerte,welche die Unabhängigkeit der am Tausch Beteiligten voneinander garantiert (Ausschluss von Schuld, Verpflichtung und Abhängigkeit, von andauernder Bindung also).47

Diese Dichotomie – sei es als ‹Entwicklung› oder als gleichzeitiges Nebeneinander distinkter Systemegedacht (s.o.) – wird allerdings in der soziologisch-

43 Vgl. Hénaff 2014, S. 71 u. ö.; allein der Handel, nicht der ebenso übliche zeremonielle Gabentausch (als symbolische Anerkennung der anderen Menschen), diene ökonomischen Interessen. So auch Burkart 2009, S. 67.

44 Vgl. Gregory 2015 (1982), z. B. S. xv–xvii;Gregory 1994, S. 43, 46–48, 52–57, zur gleichzeitigen Existenz von Gabentausch und Warenhandel in Papua-Neuguinea auf den Trobriand Islands.

45 Häufig, auch von Mauss 1996, S. 51, zitierte Feststellung von Radcliffe-Brown 1922, S. 83.

46 So lassen sich die Kriterien zusammenfassen, die genannt werden z. B. von Hénaff 2014, S. 80;Godelier 1999, S. 64 f.; Carrier 1995, S. 11, 18–38;Gregory 1994, S. 41–70;Gregory 2015 (1982); sowie im kritischen Überblick von Rus 2008, S. 81–97, und Kumoll 2006, S. 130–133.

47 Vgl. beispielsweise Hénaff 2014, S. 78. Kritik an dieser Richtung bei Parry u. Bloch 1989, S. 5–8, 12–16. Weiterführend ist die geldtheoretische Frage, ob «Geldtausch und reiner Tauschhandel […]von vollkommen anderer Natur sind und einander ausschließen»(Simiand 2015, S. 86), denn hier wird Geldtausch auch dem Tausch mit Geldäquivalenten entgegengestellt, welcher seinerseits mit der traditionellen Sicht auf ‹Gabentausch› nicht mehr viel zu tun hat. Vgl. zum (Münz‐)Geld Kap. 1.4.

anthropologischen Forschung zunehmend grundsätzlich in Frage gestellt (b). Das Paradigma des Gabensystemsentstamme einer Romantisierung anderer Kulturen aus Perspektive der westlichen Moderne.48 Auch habe das Geld in den einzelnen Gesellschaften eine Vielzahl von Funktionen und Bedeutungen, die sich nicht auf ein ‹System› beschränkten.49 Zudem wird betont, dass die von Mauss beschriebenen Regeln des Gabentauschs auch für die monetäre Ökonomie der aktuellen kapitalistischen Wirtschaft Geltung hätten.50 Rus gibt einen ausführlichen Überblick der Diskussion und hält fest, dass moderner Warenhandel zentrale Elemente beinhaltet, die traditionell dem Gabentausch (als vermeintlichem Gegenpol)zugeschrieben werden.51 Der Unterschied dieser ‹zwei Logiken› von Warenhandel und Gabentausch wird so entschiedenrelativiert. Die Positionen reichen dabei von der Nivellierung der Dichotomie52 bis hin zu graduellen Abstufungen der verschiedenenSystemmerkmale in konkreten Kulturen und Kulturbereichen;die Dichotomie wird dann als ideelle Skala betrachtet, deren

48 So Parry u. Bloch 1989, S. 9; Appadurai 2003, S. 11. Nach Bourdieu 1977, S. 177–196, könne auch die generöseste Gabe z. B. dem Zweck größtmöglichen Prestiges des Gebers dienen; Caillé 2006, S. 181–183, 191, betont die paradoxen Eigenschaften der Gabe als «obligatorisch und frei, eigennützig und uneigennützig»(S. 183, Hervorhebung ebd.). Zur ‹Anti-Utilitarismus›-Debatte s. auch Papilloud 2006, S. 246–252 (S.251:«Utilitarismus hat immer bestanden»); vgl. auch Beckert 1999, S. 1. Zur Wertungsfrage der zwei Systeme s. Egidi 2008, S. 6, 12

19, 39–41.

49 Vgl. Parry u. Bloch 1989, S. 7f., 12–16, 22.

50 Vgl. Carrier 1995, S. 15, 17 u. ö.; Bourdieu 1977 (s.u., Anm. 52); Appadurai 2003, S. 12 f., mit Nennung weiterer Forscher dieser Richtung;Rus 2008;Hahn 2015, S. 11 f.; eine Reihe von Beiträgen im Band von Adloff u. Mau 2005a;Mauss 1996, S. 19, 119 f. (wobei Mauss hier gleichzeitig Unterschiede zwischen moderner und ‹archaischer› Ökonomie betont).

51 Vgl. Rus 2008. Beispiele sind ‹persönlich bindende› Markenstrategien (die auch den Verkäufer/Hersteller im Produkt immer ‹präsent› halten, sodass der Käufer dauerhaft in Beziehung zum Hersteller steht), Beziehungen und Verpflichtungsempfinden zwischen Kunden und Verkäufern, ‹Treuepunkte› etc. Prägnant auch Hahn 2015, S. 11–13:«[… So]sind die aus dem Gabentausch hervorgehenden Verpflichtungen auch in Warentransaktionen enthalten. Die Idee einer Gabe ist in den Praktiken im Zentrum der Warentransaktion wiederzufinden […]. Die Gabe bleibt Teil der Warentransaktion, […]weil die Beteiligten sich von ihr den Vorteil einer besseren Glaubwürdigkeit versprechen.» So «kann man bis heute sagen, dass sehr viele Aspekte der allgegenwärtigen Konsumkultur implizit die Prinzipien der Gabe befolgen. Konsum als das wichtigste Wirtschaftsprinzip des spätmodernen Kapitalismus kommt nicht aus ohne die zuerst von Mauss aufgezeigten Grundregeln der Gabe»; die «Regeln der Gabe [sind]inder kapitalistischen Wirtschaft immer wieder zu erkennen».

52 Vgl. Bourdieu 1977, S. 171–185, der die Ähnlichkeiten betont und für den der zeitliche Aufschub der Erwiderung im Fall der Gabe den ökonomischen Charakter verschleiert. Dazu auch Appadurai 2003, S. 12.

1.1 Die Universalie des Tauschs – Differenzierung des Tauschs? 19

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