Iso Kern
Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz
Iso Kern
Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie Zu einer Synthese von Husserl und Leibniz
Schwabe Verlag
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1. Kapitel. Die primordinale Reduktion auf die primordinale Erfahrung (oder auf die Eigenheitssphäre) des Ego als Ausgangspunkt der konstitutiven Analyse der Erfahrung (Einfühlung, Fremderfahrung) des anderen Ego. Husserls Begriffe der originalen Erfahrung und der Monade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
§ 1.
§ 2.
Drei verschiedene Begriffe der «primordinalen Erfahrung» bei Husserl: Erstens, der genetische Begriff der «primordinalen Erfahrung», welcher die der Erfahrung von anderen Subjekten zeitlich vorangehende Erfahrung bedeutet (ein «unmöglicher Begriff» im Sinne von Leibniz, d. h. ein Begriff, «der nicht gedacht werden kann»); zweitens, der statische Begriff der «primordinalen Erfahrung», der als eine Abstraktion all das in der von mir erfahrenen Welt ausblendet, was anderen Subjekten zu verdanken ist; drittens, die «Eigenheitssphäre» im Sinne von Leibnizens Monade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Das in der Einfühlung Erfahrene ist nicht original, sondern originär erfahren. Doch in einer anderen Bedeutung ist es auch original erfahren. Erste, zweite und dritte Originalität. Primordinalität als erste (primordinale) Originalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
6
Inhalt
2. Kapitel. Phänomenologie der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3.
45
Die Phänomenologie der Einfühlung enthält vier verschiedene Arten von Problemen: a) das Problem einer fiktiven Genesis der Einfühlung, b) das Problem einer reflexiven Analyse der gegebenen eigenen Einfühlung, c) das Problem der phänomenologischen Analyse der wesentlichen Struktur der genetischen Konstitution der Einfühlung, d) das Problem der phänomenologischen Interpretation der faktischen Genesis der Einfühlung in der Entwicklung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Erste Stufe der Einfühlung: Das Ungenügen von Husserls phänomenologischer Analyse der konstitutiven Erfahrung eines anderen lebenden (menschlichen oder tierischen) Wesens: Diese Analyse macht die äusserliche wahrnehmungsmässige Ähnlichkeit zwischen meinem äusserlich wahrgenommenen eigenen Leib einerseits und dem Leibkörper eines solchen lebenden Wesens andererseits und die «assoziative Paarung» aufgrund dieser Ähnlichkeit geltend. Die Analyse der konstitutiven Erfahrung eines solchen lebendig sich selbst bewegenden Wesens muss sich auf Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung des subjektiven Wahrnehmungsraumes als meines kinästhetischen Bewegungsraumes oder als des wahrgenommenen «Spielraumes» meiner wirklichen und möglichen lebendigen Selbstbewegungen stützen und auf diesem Boden die phänomenologische Analyse weiterführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
§ 5.
Zweite Stufe der Einfühlung: Vergegenwärtigendes Sich-Versetzen in die Situation des anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
§ 6.
Husserls apriorisches Denkexperiment (das er seit den Jahren 1921/22 ablehnte): Die Möglichkeit der Vorstellung eines anderen Ich vor der wirklichen Erfahrung von ihm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Wie können wir ein anderes individuelles Ich oder ein anderes individuelles Bewusstsein wiedererkennen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Vergegenwärtigendes Ich und vergegenwärtigtes Ich in der blossen Phantasie, im Bildbewusstsein, in der Erinnerung und in der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Ich in einer bloss phantasierten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Ich in einer Bildwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ich in der erinnerten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Ich in der eingefühlten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 59 61 62
§ 4.
§ 7.
§ 8.
Inhalt
§ 9.
Ein anderes apriorisches Denkexperiment Husserls: Kann es auf getrennte Welten bezogene Subjekte geben? Einige Bedingungen der Möglichkeit der Koexistenz von Subjekten: Deduktion der Einzigkeit der Welt, der Einzigkeit der Zeit, der Einzigkeit des Raumes . . . . . . . .
63
§ 10. Die Möglichkeit eines weltlosen Bewusstseins. Die Möglichkeit eines Bewusstseins ausserhalb der kommunizierenden Subjekte kann durch keine empirischen Gründe ausgeschlossen werden . . . . . . . . . .
66
§ 11. Einfühlung in der naturalen Einstellung und in der personalen Einstellung. Die Einfühlung in der naturalen Einstellung der Naturwissenschaften als uneigentliche Einfühlung, die Einfühlung in der personalen Einstellung der Geisteswissenschaften als eigentliche Einfühlung. Anschauliche und unanschauliche Einfühlung . . . . . . . .
68
§ 12. Gerade, schlicht vergegenwärtigende Einfühlung und (dritte Stufe der Einfühlung) oblique, in der Vergegenwärtigung reflektierende Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
§ 13. Die «Konstitution des alter ego (anderen Ich) durch eine den eigenen Gesichtspunkt transzendierende Vergegenwärtigung» hat auch im gewöhnlichen Leben zwei grundlegende Bedeutungen: eine naive (gerade) und eine reflexive (oblique) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
§ 14. Was ist die naive (gerade) vergegenwärtigende Einfühlung (zweite Stufe der Einfühlung), welche ein sich normal entwickelndes Kind während des zweiten Lebensalters erreichen muss, auf der Grundlage eines schon zuvor erworbenen bloss gegenwärtigenden oder wahrnehmungsmässig unmittelbaren Verständnisses von Menschen und Tieren als lebenden, sich selbst bewegenden, wollenden und nicht wollenden Wesen (erste Stufe der Einfühlung)? . . . . . . . . . . . . .
74
3. Kapitel. Kommunikation, kommunikative Tätigkeiten, Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
§ 15. Die Person im Personenverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
§ 16. Husserls phänomenologische Darstellung der reziproken Einfühlung in ein Du (die Beziehung Angesicht zu Angesicht): seine Analyse des sich an andere Wendens in Akten des auf etwas Gegenwärtiges Zeigens, des etwas Gegenwärtiges Ausdrückens und des deskriptiven Mitteilens von etwas Abwesendem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
§ 17. Die Gemeinschaft in der Kommunikation durch Akte des Sprechens . a) Der Akt des Sprechens vom Gesichtspunkt der verstehenden Person. Des Hörenden Bewusstsein von einem anderen Ich . . .
82 83
7
8
Inhalt
b) c)
d)
Die Gefahr eines unendlichen Regresses in der phänomenologischen Analyse der Kommunikation zwischen dem Sprecher und dem Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten an das (vergegenwärtigte) Urteil (Sachverhalt) des Sprechenden und dem Glauben des Adressaten an den (vergegenwärtigten) Urteilsakt des Sprechenden. Der Parallelismus hinsichtlich der zwei Glaubenssetzungen zwischen der einverstehenden Vergegenwärtigung der Mitteilung eines Sprechenden und der erinnernden Vergegenwärtigung eines eigenen vergangenen Wahrnehmens oder begrifflichen Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterschied zwischen dem Glauben des Adressaten in seinem vergegenwärtigenden Verstehen der Mitteilung des Sprechenden und dem Glauben in einem vergegenwärtigenden Erinnern an das eigene vergangene Wahrnehmen und Urteilen. Die identische Bedeutung des gesprochenen und des verstandenen Urteils als Einheit der Idee des Urteils und des Glaubens an diese Idee . . . . . . . . . . . . .
84
87
88
§ 18. Der Glaube an die Wirklichkeit eigener Erfahrungen und der Glaube an die Wahrheit eigener Gedanken sind unsicher, wenn man dafür nicht die Zustimmung oder mindestens das Gehör und das Interesse anderer Personen findet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
§ 19. Während sich die Einfühlung primär im Visuellen abspielt, findet die Kommunikation und überhaupt der soziale Verkehr primär im Auditiven statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
§ 20. Die Gemeinschaft des praktischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
§ 21. Geschlechtliche Liebe als Gemeinschaft des Genusses . . . . . . . . . . . . .
93
§ 22. Zwei Bemerkungen über Husserls elementare phänomenologische Analyse der sexuellen Liebe als Genussgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . .
94
§ 23. Die Erfüllung des sexuellen Triebes als Vereinigung meiner primordinalen Sphäre mit derjenigen des Sexualpartners . . . . . . . . . .
96
§ 24. Nichtgeschlechtliche personale Liebe und Liebesgemeinschaft. Das «Leben im anderen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
§ 25. Die ethische Liebe der Freundschaft. Christliche Liebe und Liebesgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
§ 26. Einfühlung und Mitleid (Mitgefühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Inhalt
§ 27. Einige von Husserl nicht analysierte sozial relevante Gefühle, Handlungen und Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychopathische Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Grund, warum Husserl phänomenologisch an Hass und psychopathischer Grausamkeit nicht interessiert war . . . . . . . . d) Ärger und Wut (Zorn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Dankbarkeit und Verzeihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 102 105 108 108 110
§ 28. Kommunikative Gemeinschaft mit Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 § 29. Das Erreichen des objektiven Bewusstseins seiner selbst in der Ich-Du-Beziehung. Der Ursprung des Ich als einer praktischen objektiven Person im sozialen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 § 30. Eine Frage, die Husserl nicht stellte: Sind wir wirklich fähig, andere Personen als moralisch schuldig oder unschuldig zu beurteilen? . . . . 113 § 31. Personale Einheiten höherer Ordnung und ihre Wirkungskorrelate . a) Gemeinsame Leistungen mit einem gemeinsamen Willen . . . . b) Gemeinsame Leistungen ohne einen gemeinsamen Willen . . . . c) Konstitution personaler Einheiten höherer Ordnung . . . . . . . . d) Zwei Arten von durch den Willen eines anderen hindurch gehenden Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Konstitution einer gemeinsamen Welt sinnlicher Erfahrung und Konstitution einer gemeinsamen personalen Kulturwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kommunikative Vielheit von Personen als Substrat von gemeinsamen Handlungen und von gemeinsamen Leistungen. Der «Gemeingeist» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115 115 116 116 118 119 120
4. Kapitel. Die Konstitution solipsistischer und intersubjektiver Objektivität. Heimwelt und fremde Welten. Normalität und Anomalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 § 32. Terminologische Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 § 33. Solipsistische und intersubjektive Normalität in der Konstitution von Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Kausalität zwischen Dingen und Leib und psychophysische Konditionalität in der solipsistischen Einstellung . . . . . . . . . . . 123 b) Die Möglichkeit der Anomalität in der solipsistischen Erfahrung. Das System orthoästhetischer Wahrnehmungen . . 125
9
10
Inhalt
c)
d) e)
Können in der solipsistischen Erfahrung die Erscheinungen relativ zur psychophysischen Konditionalität sein? Das «Ding an sich» als Kontinuum von durch die Idee der Kausalität vereinigten optimalen Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Die orthoästhetische Vielheit von Aspekten (Anblicken) als Gemeinbesitz aller Subjekte und die Anomalität in der Erfahrung der gemeinsamen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die logisch-mathematische Objektivität als notwendige intersubjektive Objektivität gegenüber der Vielheit der verschiedenen orthoästhetischen Systeme der einzelnen Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
§ 34. Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten durch Interpretation aufgrund von «Abbau» der Genesis der Naturerfahrung. Der Unterschied zwischen der Erfahrung der Natur und dem interpretierenden Verstehen der Naturerfahrung anderer Subjekte. Das Problem der Kommunikation mit Tieren und der Interpretation der Kommunikation zwischen Tieren . . . . . . . . . . . . . . 131 § 35. Die Erfahrung der Welt als Heimwelt und als Fremdwelt anderer Menschen und Tiere. Das Durchschnittliche, Normale als die fundamentale Schicht in der Heimwelt. Fremdheit als Zugänglichkeit in der Form der Unverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 36. Der Unterschied zwischen Heimwelt und Fremdwelt als grundlegende und umfassende Struktur unserer Welterfahrung. Die emotionale Zugehörigkeit zur Heimwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 § 37. Das Verhältnis zwischen der Heimwelt der Armen und der Heimwelt der Reichen als der heute grösste Gegensatz zwischen Heimwelt und Fremdwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5. Kapitel. Der «existenzielle» und monadologische Charakter der phänomenologischen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 § 38. Die transzendentale Phänomenologie als eidetische Wissenschaft der Bedingungen der Möglichkeit (der Wesen, der Essenzen) der transzendentalen Intersubjektivität und die phänomenologische Philosophie als wissenschaftliche Metaphysik der Wirklichkeiten (Existenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 § 39. Absolute Monadologie als Ausweitung der transzendentalen Egologie. Die absolute Weltinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Inhalt
§ 40. Die Teleologie der Entwicklung der Monaden. Liebe als Ziel (Telos) dieser Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 § 41. Phänomenologie der Intersubjektivität und phänomenologische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6. Kapitel. Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Monadologie Husserls und derjenigen von Leibniz. Wenn die Monadologie Leibnizens durch die Phänomenologie Husserls korrigiert und ergänzt und wenn die Monadologie Husserls durch wichtige Gedanken der Monadologie Leibnizens erweitert würde, könnte die umfassendste, wahrste und tiefste Metaphysik der europäischen Tradition seit Aristoteles entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 179 § 42. Husserls Monadologie ist gänzlich zentriert in mir, dem jeweils phänomenologisierenden faktischen Ich, der ich im strengen Sinn für mich das einzige Ich bin. Leibnizens Monadologie ist auch zentriert im Denken und Wollen Gottes, der unendlichen Monade, der alle endlichen Monaden geschaffen hat und kontinuierlich schafft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 § 43. Husserl lässt es beim faktischen Ich, seinen anderen faktischen Ich und der gemeinsamen faktischen Welt bewenden, während Leibniz nach dem ausreichenden Grund fragt, warum solche Fakten existieren und nicht vielmehr nicht existieren. Die Notwendigkeit einer Annahme Gottes bei Leibniz und bei Husserl . . . . . . . . . . . . . . . 183 § 44. Husserls und Leibnizens Monadenbegriff haben verschiedene Ursprünge. Husserls Begriff stammt aus der reflexiv-phänomenologischen deskriptiven Analyse des intentionalen Bewusstseins und bedeutet den Inbegriff des selbst Erlebten, derjenige von Leibniz aus einem metaphysischen Prinzip oder einer metaphysischen Überlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 § 45. Bewusstseinsinhalte, von denen Husserl nicht spricht: Leibnizens unbewusste Bewusstseinsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 § 46. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention und seine Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem entsprechen teilweise Leibnizens Lehre von den verworrenen und differenzierten Perzeptionen (perceptions confuses et perceptions distinctes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 A. Husserls Lehre von der Wahrnehmung eines zeitlichen Ablaufes durch Impression, Protention und Retention . . . . . . . 195
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Inhalt
B.
Husserls Lehre vom äusseren und vom inneren Horizont der Wahrnehmung von Gegenwärtigem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
§ 47. Husserl legt die phänomenologischen Grundlagen der ersten Stufe der Einfühlung. In dieser Stufe erscheinen mir von meinem jeweiligen leiblichen Wahrnehmungsgesichtspunkt aus in meinem eigenen sinnlich-leiblich wahrgenommenen Bewegungsraum sinnlich-leiblich wahrgenommene andere sich selbst bewegende Tiere und Menschen als sinnlich-leiblich etwas wahrnehmend und mit etwas leiblich tätig. Leibniz spricht nur vom Gesichtspunkt der Monade und spricht von einer von Gott präetablierten Harmonie von Seele und Leib, wie wenn Seele und Leib im sinnlich-leiblichen Wahrnehmen (Betasten, Beriechen, Schmecken, Sehen und Hören von etwas) zwei verschiedene Dinge wären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 § 48. Nach Husserl haben die Monaden «Fenster», nach Leibniz nicht . . . . 210 § 49. Husserl reflektiert auf die Kommunikation der menschlichen Monaden durch Ausdrucksbewegungen mit tierischen Monaden und auf die Kommunikation durch Ausdrucksbewegungen sowie durch die spezifisch menschliche logische Sprache mit anderen menschlichen Monaden, was Leibniz nicht tut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 § 50. Husserl reflektiert auch auf die praktische Zusammenarbeit mit anderen menschlichen Monaden und auf die damit verbundenen gemeinsamen Zwecke und gemeinsam verwendeten Mittel, was Leibniz nicht tut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 51. Husserl reflektiert darauf, wie ich mit anderen menschlichen Monaden mehr oder weniger beständige Gemeinschaften wie Vereine und Gesellschaften wie unseren Staat bilde, welche den Charakter von Personalitäten höherer Ordnung besitzen. Darauf reflektiert Leibniz nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 52. Husserls Monadologie ist intersubjektiv, diejenige von Leibniz nicht . 211 § 53. Für Husserl ist die Geschichte der Menscheit teleologisch, Leibniz diskutiert diese Frage nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 § 54. Leibniz stellt in seiner Monadologie die radikalste Frage der Metaphysik: «Warum gibt es eher etwas als vielmehr nicht nichts» (pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien), und entwickelt aufgrund dieser Frage einen Gottesbeweis. Husserls Monadologie stellt diese Frage nicht, aber er gibt Hinweise auf einen Gotteserweis . 212
Inhalt
§ 55. Nach Leibniz bedeuten differenzierte Perzeptionen Macht (puissance) und Herrschaft (empire), verworrene Perzeptionen bedeuten Ohnmacht (impuissance, étourdissement, évanouissement) und Knechtschaft (esclavage). Die Differenziertheit und Verworrenheit der Perzeptionen einer monadischen Seele repräsentieren nach Leibniz die Differenziertheit und Undifferenziertheit der Organe ihres eigenen Leibkörpers. Husserl spricht in seiner phänomenologisch begründeten Monadologie nicht von Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 § 56. Leibnizens reflexiv-phänomenologisch ausgewiesene metaphysische Lehre von der Kraft fehlt in der Monadologie Husserls . . . . . . . . . . . . 216 Neun Schlussbemerkungen in Aussicht auf die Zukunft echten Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Zitierte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
13
Vorwort
Husserl und Leibniz haben viel Gemeinsames, unterscheiden sich aber auch deutlich voneinander. Was das Gemeinsame betrifft, hatten sie beide Astronomie studiert und waren beide Mathematiker, Logiker und Philosophen. Sie waren beide Deutsche. Sie waren beide gläubige Lutheraner. Sie waren beide der Auffassung, dass es nur eine echte und strenge Wissenschaft geben kann und dass diese Wissenschaft letztlich einer metaphysischen Grundlage bedarf. Die Metaphysik beider war eine monadologische, wobei sich Husserl ausdrücklich auf Leibniz berief. Husserl (1859–1938) hatte sein Universitätsstudium damit begonnen, in Leipzig (wo Leibniz 1646 geboren wurde und 1661 bis 1662 Philosophie und Theologie studiert hatte) während drei Semestern (Wintersemester1876/77 bis Wintersemester 1877/1878) Astronomie zu studieren, in der Mathematik eine wesentliche Rolle spielt. Leibniz hatte zwischen 1663 und 1665 Astronomie in Jena studiert. Vom Sommersemester 1878 bis zum Wintersemester 1880, also während sechs Semestern, studierte Husserl hauptsächlich Mathematik an der Universität Berlin. Sein wichtigster Lehrer war dort Carl Weierstrass (1815– 1897), der in der damaligen Grundlagenkrise der Mathematik sich bemühte, diese auf ihre Elementarbegriffe und Axiome zurückzuführen, aufgrund deren durch eine strenge und einsichtige Methode ein widerspruchsfreies System der mathematischen und logischen Analysis konstruiert und deduziert werden kann. 1882 promovierte Husserl als Österreicher an der Universität Wien mit der Dissertation «Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung». Von da an wandte er sich immer mehr der Philosophie zu. Ausschlaggebend war dabei der in Wien lehrende Philosoph und Psychologe Franz Brentano (1838–1917), dessen Vorlesungen er dort besuchte. Brentano lud Husserl 1886 ein, mit ihm zusammen die drei Sommermonate in St. Gilgen am Wolfgangsee zu verbringen. So hatte Husserl eine wunderbare Gelegenheit, mit dem mehr als 20 Jahre älteren Brentano über Philosophie und Theologie zu diskutieren. Brentano gab ihm die Gewissheit, dass Philosophie als Wissenschaft betrieben werden kann. Im Herbst 1886 zog Husserl nach Halle, um sich dort bei dem Brentano nahestehenden Psychologen Carl Stumpf (1848–1936) zu habilitieren. Seit dieser Zeit lebte und arbeitete er ununterbrochen in Deutschland. 1887 habilitierte er sich in Halle mit der Schrift «Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen». Nach einer Überarbeitung veröffentlichte er sie 1891 unter dem Titel Philo-
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Vorwort
sophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen. In Halle unterrichtete er als Privatdozent unter schwierigen finanziellen Umständen während 14 Jahren. 1900/1901 publizierte er sein grosses dreibändiges Werk Logische Untersuchungen, das Werk, das ihm den Durchbruch und grosse Anerkennung brachte, auch vom damals sehr bekannten Wilhelm Dilthey (1833–1911), Professor für Philosophie in Berlin, der Hauptstadt Preußens. Am 14. September 1901 wurde er vom Preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin zum ausserordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät Göttingen ernannt. Im Wintersemester 1901/1902 begann er seine dortige Lehrtätigkeit. Von da an erweiterte sich sein Interesse immer mehr auf alle Gegenstände des Denkens und Erfahrens, immer mit der Frage, wie und als was sich diese im Bewusstsein konstituieren, d. h. wie sie durch Denken, Erfahren oder durch andere Bewusstseinsweisen zur Gegebenheit oder Erscheinung kommen. Denn er war der Überzeugung, dass man nur wissen kann, was etwas ist, wenn man weiss, wie es im Bewusstsein zur Erscheinung bzw. zur Gegebenheit kommt. Z. B. könne man nur wissen, was Zahlen sind, wenn man weiss, wie einem Zahlen im Anschauen und Zählen gegeben werden bzw. sie in ihnen zustande kommen. Am 9. Februar 1916 mit Wirkung auf den 1. April wurde Husserl von Friedrich, Grossherzog von Baden, zum ordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Freiburg ernannt. An dieser Universität lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1928 und blieb in Freiburg bis zu seinem Tod 1938. 1922 hielt er auf Einladung der Universitäten London und Cambridge dort eine Reihe von Vorträgen in deutscher Sprache. 1923 bot ihm das Kulturministerium Berlin die durch den Tod von Ernst Troeltsch (1865–1923) frei gewordene Professur an der Universität Berlin an. Husserl lehnte ab. Husserls letztes, unvollendetes Werk trägt den Titel Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936). Husserl hinterliess einen enorm grossen Nachlass (40’000 handgeschriebene Seiten). Als Mathematiker hatte er die Gewohnheit, schreibend (in Gabelsberger Stenographie) zu denken. Husserl stammte aus Proßnitz (Prostejov) in Mähren, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Österreichischen Kaiserreich gehörte, fühlte sich aber durch sein Leben als Student in Leipzig und Berlin und weil er seit 1886 bis zu seinem Tod (1938) ununterbrochen in Deutschland lebte, immer mehr als Deutscher. 1896 erwarb er die preußische Staatsangehörigkeit. Im Ersten Weltkrieg verlor er bei einem Sturmangriff auf Fort Vaux bei Verdun in Frankreich seinen jüngeren Sohn Wolfgang (geboren 1895), und sein älterer Sohn, Gerhart (geboren 1893), wurde durch einen Kopfschuss verwundet. Was die Religion betrifft, war Husserl ein Jude, der sich nicht durch Anpassung, sondern durch Überzeugung unter Einfluss seines Freundes, des nachmaligen ersten gewählten Präsidenten (1919–1935) der tschechoslowakischen Repu-
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blik, Thomas Masaryk (1850–1937), taufen liess. 1886 wurde er mit 27 Jahren in der Stadtkirche der lutheranischen Pfarrgemeinde in Wien getauft. Auf seinem Arbeitspult hatte Husserl danach immer ein Neues Testament. Sein Lebensspruch war: «Die auf Gott harren, kriegen neue Kraft.» Dieser Spruch aus dem Propheten Jesaia (Kapitel 40, Vers 31) stand über dem Tor des Franke’schen Waisenhauses in Halle, an dem Husserl als Privatdozent während seiner Zeit in dieser Stadt täglich vorbeikam. Husserl hatte wie Leibniz technische Fähigkeiten, aber nur sehr beschränkt. Von einem Schüler von Husserl – von welchem habe ich vergessen, vielleicht von Roman Ingarden oder von Jan Patočka – hörte ich, dass Husserl in seiner Hallener Zeit eine neue Methode zum Schleifen von Lupengläsern erfand, diese der Optikfabrik Zeiss in Jena vorlegte und von dieser ein Stellenangebot erhielt. Husserl hatte selbst eine Vorliebe für solche Gläser, denn er wollte gewisse Dinge genau sehen. Dieses Streben nach dem genauen, exakten «Sehen» trägt seine ganze phänomenologische Analyse des intentionalen Bewusstseins von etwas. Aber Husserl war nicht wie Leibniz philosophischer Theologe, Techniker, Politiker, alles, was er als Gelehrter 200 Jahre später auch hätte sein können. Und auch seine Philosophie bewegt sich nicht auf drei verschiedenen Grundlagen wie diejenige von Leibniz, nämlich der reflexiv-phänomenologischen, der apriorischlogischen und theologischen und der empirischen, sondern nur auf der ersten und dritten von Leibniz. Seine Philosophie ist in gewissem Sinne monolinear: Sie veränderte sich, entwickelte sich zwar stetig, korrigierte sich aufgrund tieferer Einsichten, weitete sich thematisch immer weiter aus, vertiefte sich bis zu metaphysischen Fragen, aber sie ist nicht dreidimensional wie diejenige von Leibniz. Husserl als Deutscher schrieb nur deutsch, während Leibniz als Deutscher kaum deutsch, sondern lateinisch und französisch schrieb. Leibniz kannte sich in der Philosophiegeschichte wesentlich besser aus als Husserl. Leibniz berief sich auf Aristoteles, Thomas von Aquin und viele andere, kannte alle namhaften Philosophen seiner Zeit und setzte sich mit ihnen ausführlich auseinander. Er konnte in der Sprache der Philosophie der Thomisten, der Cartesianer, von Locke und anderen schreiben. Husserl befasste sich zwar auch mit Philosophiegeschichte, z. B. im ersten Teil seiner Vorlesung «Erste Philosophie» vom Wintersemester 1923/1924.1 Aber Husserl nannte seine Philosophiegeschichte «meine philosophischen Romane», nahm sie also als geschichtliche Darstellungen nicht wirklich ernst. Er wollte mit ihnen nur zeigen, dass die ganze europäische Philosophiegeschichte letztlich auf seine phänomenologische Philosophie hinausläuft, mit anderen Worten, dass die ganze europäische Philosophiegeschichte als Einleitung zu seiner phänomenologischen Philosophie dienen kann.
1956 herausgegeben von Rudolf Boehm: Edmund Husserl. Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, Husserliana, Band VII, Martinus Nijhoff, Den Haag.
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Aufgrund dessen ist die Philosophie Leibnizens vieldimensional und weit komplexer als diejenige Husserls. Husserls Philosophie ist aber in ihren reflexivphänomenologischen Analysen genauer, exakter als diejenige von Leibniz. * Leibniz (1646–1716) wurde in Leipzig geboren. 1661 bis 1662 studierte er an der Universität dieser Stadt Philosophie und Theologie. 1663 zog er nach Jena, um an der dortigen Universität Mathematik, Physik und Astronomie zu studieren. 1665, mit 19 Jahren, schrieb er sein erstes Buch, De arte combinatoria (Über die Kunst der Kombinatorik). Mit dem ersten Teil promovierte er in diesem Jahr zum Doktor der Philosophie. Danach ging er an die Universität Altdorf der Universität Nürnberg und promovierte dort 1666 zum Doktor der Rechte. Von 1666 bis 1672 stand Leibniz im Dienst des Kurfürsten und katholischen Erzbischofs von Mainz, von Schönborn, und wohnte im Hause des Kurmainzer Oberhofmarschalls, Johann Christian von Boyneburg. 1670 wurde Leibniz zum Rat des kurfürstlichen Oberrevisionsgerichtshofs ernannt. 1672 reiste Leibniz auf eigene Initiative nach Paris, wo er als Hofmeister für Boyneburgs jüngsten Sohn tätig wurde. Er blieb vier Jahre in Paris (1672–1676). In Paris wollte er zusammen mit Boyneburg König Ludwig XIV sein sogenanntes Consilium Aegyptium vorlegen, seinen «Rat» oder «Vorschlag», die osmanischen Türken von Ägypten aus zu bekämpfen, um dadurch Wien, die Bastion Europas im Osten gegen die osmanischen Türken, zu entlasten. Wien war 1529 von der osmanischen Armee belagert worden, sollte 1683 wieder belagert werden und stand damals dauernd unter osmanischer Gefahr. Durch diesen Zweifrontenkrieg wollte Leibniz die osmanischen Türken schwächen. Der Fall Wiens gegen die Türken hätte ganz Westeuropa den Osmanen ausgeliefert. Der osmanische General der Belagerung von 1683 erklärte, dass er nach der Eroberung Wiens nach Rom ziehen und den dortigen Petersdom zu seinem Pferdestall machen werde. Andererseits wollte Leibniz durch das Consilium Aegyptium Ludwig XIV von dessen Eroberungsplänen im Norden und Osten Frankreichs abhalten. Doch dieser «Rat / Vorschlag» (consilium) fand beim Sonnenkönig kein Gehör, denn er wollte nicht seinen mächtigsten Gegner in Europa, Österreich, stärken. In Paris hatte Leibniz Kontakt mit vielen Gelehrten, zum Beispiel mit dem Jansenisten Antoine Arnauld, dem theologischen Lehrer von Blaise Pascal (1623–1662). Er hatte durch den Neffen Pascals, Etienne Périer, den Sohn seiner älteren Schwester Gilberte, Zugang zu Pascals Nachlass. Er studierte Pascals mit 15 Jahren geschriebenen Traité des coniques (Abhandlung über die Kegelschnitte), von dem 1639 nur ein kleiner Teil in Paris veröffentlicht worden war,2 und 2 Blaise Pascal, Traité des coniques, in Pascal, Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963.
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bat darauf schriftlich Etienne Périer und nach dessen Tod (1680) auch dessen Sohn Louis, die ganze Abhandlung wegen ihrer grossen Wichtigkeit zu veröffentlichen. Doch Leibnizens Bitte wurde nicht entsprochen, sodass dieses mathematische Meisterwerk des 15-jährigen Pascal zum grossen Teil verloren ging. Erst im 19. Jahrhundert wurde das mathematische Niveau der Abhandlung auf deren Gebiet wieder erreicht. Die für Leibniz wichtigste mathematische Schrift Pascals waren die unter dem Pseudonym A. Dettonville zwischen 1658 und 1659 als Briefe veröffentlichten Texte über die Berechnung von krummlinigen Kurven und Flächen.3 Pascal reduzierte in ihnen die Berechnung von krummlinigen Flächen auf die Summierung einer unendlich grossen Anzahl unendlich kleiner Rechtecke und wandte dabei ein der Integralrechnung sehr nahe kommendes Verfahren an. Am Ende seiner Untersuchung stiess er beinahe zur Infinitesimalrechnung vor. Leibniz erfand diese nach dem Studium dieser Briefe Pascals im dritten Jahr seines Pariser Aufenthaltes (1675). Noch ziemlich am Anfang seines Paris-Aufenthaltes im Jahre 1673 schrieb Leibniz mit 26 Jahren in lateinischer Sprache seinen Dialog zwischen einem Catechista theologus (Theologen als Katechist) und einem Catechumenus Philosophus (Philosophen als Katechumenen) Confessio Philosophi (Bekenntnis eines Philosophen), ein Dialog, der auch den Titel oder Untertitel trägt: Fragmentum dialogi de humana libertate et de justitia Dei (Fragment über die menschliche Freiheit und die Gerechtigkeit Gottes).4 Dieses kleine Werk Leibnizens ist eine kleine Theodicée, ein Titel, den man sinngemäss mit «Rechtfertigung der Weltregierung Gottes angesichts des Schlechten in dieser Welt» wiedergeben kann. Es entspricht in seinen Grundgedanken dem 37 Jahre jüngeren grossen Werk von Leibniz, den Essais de Théodicée sur la bonte de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal aus dem Jahre 1710. Der Gedanke einer Rechtfertigung der Weltregierung Gottes angesichts des Schlechten in dieser Welt durchzieht das ganze Denken und Schreiben Leibnizens mindestens seit 1773 bis zu seinem Lebensende (1716). Er ist sicher eines der wichtigsten Anliegen Leibnizens, ein Anliegen, das Husserl fremd ist. Schon seit 1668, als Leibniz im Dienst des Kurfürsten und katholischen Mainzer Erzbischofs von Schönborn stand, bemühte sich der welfische Herzog Johann Friedrich, Leibniz als Bibliothekar in seine Residenzstadt Hannover zu holen. In Paris in finanzielle Nöte geraten, sagte ihm Leibniz 1676, acht Jahre später, zu. Auf der Reise von Paris nach Hannover besuchte der unterdessen 30Jährige in Den Haag den 14 Jahre älteren Benedictus de Spinoza (Baruch DespiLettre de A Dettonville [= Pascal] à Monsieur A. D. D. S. en lui envoyant la démonstration à la manière des anciens de légalité des lignes spriale et parabolique in Pascal. Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963, S. 172–184. 4 G. W. Leibniz, Confessio Philosophi. La profession de foi du philosophe, Texte, traduction et notes par Yvon Belaval, Vrin, Paris 1961. 3
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