Der Stand der Dinge

Page 1

DER STAND DER DINGE

Theorien der Aneignung und des Gebrauchs

JAN BEUERBACH / KATHRIN SONNTAG / AMELIE STUART (HG.)

Beuerbach, Kathrin Sonntag, Amelie Stuart (Hg.)

DerStand der Dinge

Theorien der Aneignung und des Gebrauchs

Jan
Schwabe Verlag

Diese Publikation wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)SFB TRR 294/1 424638267 gefördert.

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothekverzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teiledarf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Abbildung Umschlag:Fotografievon Luca Laurence auf Unsplash.com, 2019 Korrektorat:Ricarda Berthold, Freiburg i. Br.

Cover:icona basel gmbh, Basel

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4591-7

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4592-4

DOI 10.24894/978-3-7965-4592-4

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Danksagung .. ... ... .. .. ... .. ... ... .. .. ... .... ... .... ... .... ... . 7

Jan Beuerbach, Kathrin Sonntag, Amelie Stuart: Zur Frage nach dem Stand der Dinge Eine Einleitung .. .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... . 9

I. Dinge:Aneignung und Unverfügbarkeit

Hans P. Hahn: Die Unverfügbarkeit der Dinge. Notizen zur Destabilisierung des Mensch-Ding-Verhältnisses .. .. . .. .... ... .... ... . 35

Dirk Quadflieg: Materialismus der Form. Dinge als gesellschaftliche Hieroglyphe .. ... ... .. .. .... .. .. ... .... ... .... ... .... ... .... ... . 51

Christoph Henning: Die Relevanz der Dinge in der Philosophie. Rehabilitationder Verdinglichungskritik aus dem Geist der Sozialontologie 67

Niklas Angebauer: Kein Eigentum ist auch keine Lösung. Was wir vom theoretischenArmutsstreit lernen können .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... . 89

II. Gebrauch:Das BesondereimAlltäglichen

Ulrike Langbein: Lieblingsdinge, Hassobjekte, indifferentes Zeug. Emotionen und materielle Kultur .. ... .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... . 105

Oliver Zöllner: Tonträger, Dinglichkeit und Vernutzung. Nähe-, Werkund Weltrelationen im Analogen und Digitalen 121

Robert Zwarg: Alltägliche Dinge, absolute Waren: Simmel, Bloch und drei Krüge ... ... .. .. .... .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .. .. ... . 137

III. Materialität:Selbst- und Weltbeziehungen

Marcus Döller: Kaputte Dinge Eine Lektüre von Alfred Sohn-Rethels «Das Ideal des Kaputten Über neapolitanischeTechnik». Für einen Materialismus des Subjektes nach Hegelund Marx .. .. .. ... ... .. .. ... . 155

Martin Repohl: Eine weltbeziehungssoziologische Perspektive auf Materialität?Prolegomena zu einer Phänomenologie materieller Beziehungsqualität ... ... ... .. ... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... . 173

Inhalt

Michael Meyer-Albert: Objekte als souveräne Informanten. Adornos Idee des «Vorrangs des Objektes». .. ... ... ... .. .. .... ... .... ... .... ... . 191

Über die Autor:innen .. .. ... .. ... ... .... .. .. ... ... .... ... .... ... . 209

6 Inhalt

Der vorliegende Sammelband geht auf die gleichnamige Tagung zurück, die vom 30.09. bis zum 02. 10. 2020 an der Universität Leipzig vom Forschungsbereich Kulturphilosophie des Instituts für Kulturwissenschaften veranstaltet wurde.Die Tagung fand unter den erschwerten und (damals noch)ungewohnten Bedingungen der Corona-Pandemie statt. Die Erstellung dieses Bandes und vor allem die Durchführung einer Veranstaltung in Pandemiezeiten wäre nicht denkbar gewesen ohne die zahlreichenPersonen und Institutionen, die uns finanziell, logistisch, organisatorisch, in der Anfertigung des Manuskripts und Vorbereitung der Veröffentlichung unterstützt haben. Wir danken allen voran der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Förderung unserer Tagungsowie für die Förderung dieses Tagungsbandes. LilithPoßner danken wir für ihre Unterstützung bei der Arbeit am Manuskript, insbesondere für ihre akribische Durcharbeitung aller Beiträge. Ohne die inspirierenden Beiträge unserer Autor:innen wäre dieser Band selbstverständlich nicht zustande gekommen. Wir danken Ihnen und Euch für die Ausarbeitung der Beiträge, die produktive Zusammenarbeit sowie die Anregungen und Gedanken, die wir aus den Diskussionen auf der Konferenz gewinnen konnten. Für die Anregungen, die Inspiration und die produktiven Diskussionen danken wir ebenso den Referent:innen unserer Tagung, deren Vorträge aus Zeitgründen leider nicht in diesem Band erscheinen konnten:Eva von Redecker mit ihrer Kritik des Begriffs der Sachherrschaft und Sophia Prinz, die das Verhältnis von Form und Praxis genauer untersucht hat. Im Zusammenhang der Tagung gilt unser großer Dank auch all denen, die uns in der Vorbereitung und Durchführung tatkräftig unterstützt haben:DilbaharAskari, Charlotte Trottier, Nikolaus Schulz, Andreas Grün, Dorit Thieme, Daniel Elgner und Nele Weihrauch. Zu guter Letzt und ganz besonders danken wir Dirk Quadflieg, der uns inhaltlich wie moralisch in der Realisierung dieses Projekts bestärkt hat.

Danksagung

Zur Frage nach dem Stand der Dinge –Eine Einleitung

Der Stand der Dinge, die Welt da draußen, würde eine andere Art von Blick brauchen […].

Don DeLillo: Stille (2020)

Seit der Industrialisierung hat sich die Dingwelt explosionsartig ausgedehnt. Mit der Ausweitung der Arbeitsteilung in der Moderne haben sich die Praktiken von Produktion,Distribution und Konsum entkoppelt, wobei mit der wachsenden Produktivkraftsteigerung auch der Konsum von Dingen stetig zunahm.1 Sinkende Herstellungskosten, die Ausdifferenzierung von Geschmäckern sowie die Erfindung neuer gadgets und Statussymbole zur behaglichen Ausgestaltung der privaten Räumlichkeiten und zur Erleichterung des Alltags führten über mehrere Jahrhunderte in das Zeitalter des Massenkonsumsmit seinen gesteigertenmateriellen Bedürfnissen und Begehrlichkeiten, die über die bloße Subsistenz weit hinausreichen.2

Als Reaktion auf die stetig wachsende Zahl von Gütern können unterschiedliche gesellschaftliche Einstellungen und Praktiken ausgemacht werden: Neben der vorherrschenden Form einer konsumistischen Einstellung zu den Dingen finden sich auch Randphänomene wie gegenläufige oder ‹widerständige› Praktiken der Aneignung und des Gebrauchs oder solche, die durch emotionale Verbundenheit zum Ding und Wertschätzung des Dings gekennzeichnet sind.3 Zu den ‹widerständigen› Praktiken können vor allem zivilgesellschaftliche Alltagspraktiken gerechnet werden:No-Waste-Aktivist:innen und Unverpacktläden versuchen Verpackungsmüll zu reduzieren;durch Verschenkekisten, Sha-

1 Vgl. Hahn 2014a, 97.

2 Sehr eindrücklich bspw. die reich bebilderte Studie zu US-amerikanischen Haushalten von Arnold/Graesch/Ochs/Ragazzini 2012. Zu den diversen historischen Studien über die Genese europäischer Konsumgesellschaften siehe exemplarisch Roche 2000, Sarti 2002, Trentmann 2016.

3 Diese holzschnittartige Einteilung ist hier nicht wertend gemeint und sollte auch nicht als Skizzierung einer Typisierung verstanden werden. Vielmehr soll hier lediglich auf ein breiteres gesellschaftliches Spektrum der Verhältnisse zu den Dingen hingewiesen werden. Unter die affektiven Praktiken der Wertschätzung fallen aus unserer Sicht beispielsweise leidenschaftliche Sammler:innen oder auch die Liebhaberei einer Person zu einem bestimmten, emotional aufgeladenen Ding.

ring-Zirkelund Reparatur-Cafés können ungenutzte oder kaputte Gegenstände neues Leben erhalten;als Lifestyle-Entwürfe gewinnen minimalistische Haltungen in Bezug auf Garderobe und Einrichtung oder Anleitungen zum richtigen Aufräumen zunehmend Popularität in einigen gesellschaftlichen Kreisen.4 Motiviert sind viele, bei weitem aber nicht alle dieser Phänomene bzw. Bewegungen von Krisendiagnosen wie dem Klimawandel, der zunehmenden Verschmutzung der Meere und anderer Ökosysteme durch Plastikabfälle und Schadstoffe, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Lebensräume sowie dem immer schnelleren Austausch von Konsumdingen und einer gesteigerten Vermüllung der Welt durch eine eingeübte Wegwerfmentalität kurz:von einem zunehmenden Gewahrwerden der (versteckten)Kosten der industriellen, modernen Güterproduktion, die sich als existenzielle Gefährdung gemeinsamerLebensgrundlagen darstellt.

Hier zeichnet sich ein mindestensambivalentes Bild des gegenwärtigen Stands der Dingeab. Denn während die (mal dezidiert,mal vermeintlich)widerständigen Praktiken zwar langsam ihr Dasein als Randphänomen abzulegen scheinen, hat doch der vorherrschend konsumistische Modus nichts von seiner Normalitätverloren. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Wegwerfmentalität und Sammelleidenschaft, Überfluss und Minimalismus, Wiederverwertung und geplanterObsoleszenz. Die vielgestaltigen und zum Teil konfligierenden Einstellungen zu den Dingen weisen dabei trotz mancher Modeerscheinung auf die Konstanteder fundamentalen Angewiesenheit der Menschen auf die Dingehin. Der Mensch als leibliches und damit vulnerables und sterbliches Wesen lässt sich nur als bedingtes Wesen denken, das in Austausch mit seiner materiellen Umgebung agiert und noch für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse des «Zeugs»5 bedarf.

Gerade wegen dieser fundamentalen Relevanz der Dinge ist es nicht unerheblich, wenn die Formen ihrer Produktion und Aneignung zunehmend infrage gestellt werden. Und gerade weil das Infragestellen des gegenwärtigen Stands der Dinge zu keineswegseindeutigen Antworten gelangt, werden die scheinbar un-

4 So verbindet die durch ihre eigene Netflix-Serie berühmt gewordene Aufräumexpertin Marie Kondō die häusliche Ordnung zugleich mit einer achtsamen und aufgeräumten Lebenseinstellung:«When you imagine your ideal lifestyle, you are actually clarifying why you want to tidy and identifying the kind of life you want to live once you have finished. The tidying process thus represents ahuge turning point in aperson ’slife. So seriously consider the ideal lifestyle to which you aspire.» (Kondō 2016, 4)

5 Vgl. Hasse 2020, 95. Hasse weist in diesem Zusammenhang auf Heideggers Definition des «Zeugs»und dessen Abgrenzung vom «Ding»hin:«Zeug ist dadurch vom bloßen Ding unterschieden, dass es etwas für ein menschliches Gebrauchsinteresse Hergestelltes ist (wie das Schuhzeug, Nähzeug, Schreibzeug, Spielzeug usw.).» (Hasse 2020, 96).

Jan
Stuart
10
Beuerbach, Kathrin Sonntag, Amelie

verrückbarenDinge zu Gegenständen der Aushandlung, die einetheoretisch fundierte Nachfrage und Annäherung an die Dingenotwendig machen.6

In den folgendenAbschnitten möchten wir auf einige der einflussreichsten und prominentesten Theorien und Autor:innen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zum Stand der Dinge verweisen und damit das Feld der zeitgenössischen Forschung skizzieren. Wir werden hierbei auf den New Materialism,die Akteur-Netzwerk-Theorie und zeitgenössische Positionen aus der Materiellen Kulturforschung eingehen, um sie in einen produktiven Zusammenhang mit Ansätzen der Phänomenologie und Kritischen Theorie zu stellen, die aus unserer Sicht Wesentliches zur theoretischen Annäherung an die Dinge beizutragen haben. Wirwerden dafür zunächst dem theoriegeschichtlichen Verlauf vom linguistic zum material turn folgen (1), um im Anschluss daran die spezifischeSensibilität für den Eigensinn der Dingeauszuzeichnen, die mit den neueren Forschungsansätzen zum Materiellen verbunden ist (2). Vordiesem Hintergrund lässt sich die Frage nach den praktischen Problemen unserer Selbst- und Weltverhältnisseinreflektierter Weise an unsere Ding-bezogenen Aneignungsund Gebrauchsweisen herantragen (3), wie dies vor allemdie vielseitigen und aufschlussreichen Beiträge unserer Autor:innen leisten, die wir unter (4)kurz vorstellen.

Diese Einführung hat somit einerseits den Anspruch, eine Vergegenwärtigung der aktuellenDiskussion auf dem Gebiet der Theorien der Aneignung und des Gebrauchs von Dingen vorzunehmen, um so das Spannungsfeld aufzuzeigen, in welchem die anschließendenBeiträge stehen. Andererseits versteht die Einleitungsich als Angebot an jene Leser:innen, die sich bislang noch wenig mit diesem Thema beschäftigt haben, einige der zentralenFragen und Thematiken besser kennenzulernen und einen ersten Überblick zu gewinnen.Der Umstand, dass sich im Folgenden eine Vielzahl von Literaturhinweisen auf einschlägige weiterführende Texte findet, ist diesem Anliegen geschuldet:eine Einladung an alle Interessierte zur Befassung mit den Dingen zu sein.

1. Vom linguisticturnzum materialturn

Die Dringlichkeit der im Vorangegangenen skizzierten Problemlage motiviert zeitgenössische Entwicklungen in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft, in der spätestens mit der Ausrufung des sogenannten material turn ein gesteigertes Interesse an der Erforschung von Dingen und deren Bedeutung zu verzeichnen ist. So hat sich die Materielle Kulturforschung zu einem

6 Womit die Dinge wieder ihrer alten Etymologie als Versammlungs- und Aushandlungsstätte zurückgegeben werden, wie Latour mit Rückgriff auf Heidegger erklärt:vgl. Latour 2005, 29 33.

Zur Frage nach
Stand der Dinge – Eine Einleitung 11
dem

eigenständigenund produktiven Forschungsfeld entwickelt,7 die theoretischen Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT)8 und des New Materialism9 liefern disziplinübergreifend neue Anknüpfungspunkte für die Erforschung von Mensch-Ding-Beziehungen. Selbst den vermeintlich wertlosen Dingen widmet sich mit den Waste Studies10 mittlerweile eine eigene Forschungsrichtung. Die im Zuge des material turn sich entwickelnden Ansätze eint ihr Fokus auf das Materielle und die Betonung seiner Relevanz für das Verständnis soziokultureller Sachverhalte. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Abgrenzung von Forschungsperspektiven, die für die Ergründung des Sozialen Sprache und Diskurse als Ausgangspunkt wählen und dabei das Materielle eher als nachrangig betrachten. Der material turn kann somit auch als Gegenreaktion auf und Kritik an einer einseitigen Überbetonung der Sprache in der Nachfolge des linguistic turn verstanden werden.11 Angeprangert wird, dass die Geisteswissenschaften der Dinge in ihrer konstitutiven Rolle für die Herausbildung von Subjektivität und Sozialbeziehungen, für die Genese von wissenschaftlichen Erkenntnisgehalten sowie für individuelle Identitätsfindung und kulturelle Ausdifferenzierung vernachlässigen.

Die oben genannte Verdrängung der aus der konsumistischen Weltbeziehung resultierenden Folgen wird damit auch auf theoretische Einstellungen zurückgeführt,die Wirkmächtigkeit im Subjekt zentrieren und die schnöde Dingwelt diesem gegenüber als bloße Verfügungsmasse abwerten.12 Bruno Latour, der wahrscheinlichprominenteste Vertreter der ANT, hat die Konsequenzen dieses Dingbegriffs zuweilen als «Bürgerkrieg»13 zwischenDingen und Menschen beschrieben. Sowohl in unserer begrifflichen Fassung der Dinge als auch in unseren Praktiken liege eine gewisse Gewaltsamkeit, ein Unterdrückungsmomentge-

7 Vgl. als wichtige Gründungspublikation Appadurai [1986] 112013 sowie zum Überblick die Handbücher Samida/Eggert/Hahn (Hgg.) 2014;Hicks/Beaudry (Hgg.) 2012;eine gute Einführung liefert auch Hahn 22014c.

8 Ein breites Spektrum an Texten von Autor:innen der ANT (u.a.Michel Callon, Bruno Latour, John Law)versammelt Belliger/ Krieger (Hgg.) 2006;prägend außerdem:Latour 2008 und 2010.

9 Vgl. u. a. Barad 2007, Bennett 2010, Braidotti 2002.

10 Unter dem Begriff Waste Studies findet sich ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das u. a. politische, ökonomische, kulturelle, historische Aspekte und Eigenheiten dessen betrachtet, was wir als ‹Abfall› bezeichnen. Abfall kann, das deutet die Formulierung bereits an, nicht substanziell definiert werden. Vielmehr verbirgt sich hinter der Bezeichnung eine kulturelle Zuschreibungspraxis. Vgl. Weber 2014. Als exemplarische Studien aus diesem Forschungsfeld vgl. Melosi 2005, Strasser 1999. Klassisch, aber nicht den neueren Waste Studies zuzuordnen, ist Thompson [1979]2017.

11 Vgl. Reckwitz 2002.

12 Vgl. Latour 2017 sowie Haraway 2018, 65.

13 Latour 2010, 91.

12 Jan
Stuart
Beuerbach, Kathrin Sonntag, Amelie

genüber nicht-menschlichen Entitäten,die auf einer Hierarchie zwischen, wie Latour sagt, «Menschen und nicht-menschlichen Wesen»14 beruhe. Hierarchisch organisierte Dualismen wie Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Geist und Materie prägen die moderne Weltsicht. Das Problematische besteht Latour zufolge darin, dass die Welt aber de facto und v. a. zur heutigen Zeit nicht nach diesem Schema aufteilbarist.15 Zu nah ist uns die vermeintlich fremde und passive Technik gekommen, die unsere Handlungsoptionen immer deutlicher strukturiert man bedenke nur die Rolle unserer alltäglichen Interaktionen mit Smartphones.Kurz:Mit der Brille ‹der Modernen› sehen wir, nach Latour, gar nicht mehr,was eigentlich geschieht.

Hier vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel in der Perspektive auf die Dinge hin zu einer anderen Haltung gegenüber der Umwelt des Menschen. Diese Haltung geht mit einer Kritik am Anthropozentrismus einher und möchte ihn letztlich aufgeben. Dinge werden zu Akteuren, die bestimmte Rollen einnehmen und wechseln können, die über Handlungsmacht verfügen.Sie werden zu Verhandlungspartnern.16 All dies lässt sich an folgendem Beispiel des sogenannten MUAC tapes veranschaulichen. Diesespapierne Maßband wurde Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa entwickelt, um damit die Oberarme von Kleinkindern zu vermessen und dadurch Rückschlüsse auf ihren Ernährungszustand schließen zu können.17 Gegenwärtig wird es vor allem im Subsahararaum verwendet. Anhand der Zahlen und Unterlegung bestimmter Zahlenbereiche in den Farben der Ampel soll das Band den Hunger messbarund erfassbar machen. Das Band bringt durch seine Beschaffenheit sowohl Techniken als auch bestimmte Formen des Wissens in die Welt,indiesem Fall:Wissen über Bedürftigkeit. Es ist aus diesem Grund kein neutrales Objekt, so Glasman, es ist vielmehr ein «Vermittler zwischen Konzeptenund Praktiken».18 Das MUAC tape ist aus dieser Perspektive weit mehr als ein instrumentell gebrauchtes Ding und wird bei Glasman sogar bisweilenzum Komplizen in entwicklungspolitischen Macht- und Interessenpolitiken zwischen Staaten und NGOs.19 Laut Glasman kann dieses Ding dahingehend interpretiert werden, dass es in sich sowohl den Anschein der Neutralität als auch die Möglichkeit des Nutzens und die Fähigkeit zum Komplizeninnerhalbbestimmter Macht- und Wissensstrukturenvereint.20

14 Latour 2010, 16.

15 Vgl. Latour 2008.

16 Vgl. Callon 2006, 156.

17 Vgl. Glasman 2019, 94.

18 Glasman 2019, 92.

19 Diese Perspektive auf die Dinge als Komplizen für Praktiken des Messens und Wertens bzw. die Interpretation der Dinge als solche ist durchaus umstritten. Siehe hierzu bspw. Tellmann 2016.

20 Vgl. Glasman 2019, 104 107.

Zur Frage nach dem Stand der Dinge – Eine Einleitung 13

Wie Reckwitz gezeigt hat, ist das theoretische Unbehagen an der Vernachlässigung des Materiellen ein seit Längerem wirksamer Unterstrom der geisteswissenschaftlichen Forschung. Reckwitz spricht von einer «Materialisierung des Kulturellen»21,die sich seit den 1970er Jahren vollzieht, wobei die Perspektiven des Kulturalismus und des Materialismus in eigentümliche Spannung geraten. Dies erklärt sich aus den theoriegeschichtlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Der linguistic turn kann als «‹Mega›-Turn»22 der Geisteswissenschaften gewertet werden, dessen Konsequenzen auch die anschließenden theoretischen Wenden und Konjunkturen noch beeinflussen.Obinseiner analytischen Ausprägung seit Frege und Wittgenstein oder der semiotischen Ausprägung in der Nachfolge de Saussures, die aufblühende Linguistik festigt die Einsicht, dass Denken nur in propositionalen Gehalten, d. h. sprachlich vermittelt, erfolgt.23 Schon bei de Saussure ist angelegt, dass Zeichensystemedifferenziell und konventionell sind, Zeichenalso keine vorgängige Realität abbilden, sondern erst im (kulturell bedingten)Verweisungszusammenhang Bedeutung entfalten.24 Dieser Umstand verschärft den Einbruch der Kontingenz, der so charakteristisch für das Denken der Moderne ist:«Linguistic Turn bedeutet Einsicht in den (sprachbegründeten)Konstruktivismus von Realität.»25 Die philosophische Einsicht, dass Denkakte propositional und sprachlich vermittelt sind, liefert also zugleich das Argument für einen kulturalistischen Blick auf menschliche Wissensbestände, Diskurse, Praktiken und Institutionen, d. h. Kultur wird als Kultur thematisch.26

Diese äußerst produktive kulturelle Wende in den Geisteswissenschaften verabschiedet sich damit von naiven Empirismen oder Positivismen, von essentialistischenAltbeständen, aber auch von einer allzu mechanistischen Hierarchisierung von Sozialstruktur und kultureller Äußerung27 bzw. von Basis und Überbau.28 Stattdessen wird nun die Aufmerksamkeit auf kulturell erzeugte und in Praktiken sedimentierte Bedeutungen gelegt, die im Alltag reproduziert und ver-

21

22

Reckwitz 2014, 13 [Herv. i. O.].

Bachmann-Medick 2006, 33.

Bereits mit der Einsicht in den propositionalen Charakter der Denkakte wird eine rigide Subjekt-Objekt-Unterscheidung bzw. Gegenüberstellung von Bewusstsein und Sache obsolet, wie Bachmann-Medick (2006, 35 36)imAnschluss an de Saussure für die Kulturwissenschaften zeigt und Schnädelbach (2012, 100 110)auch unter Berücksichtigung phänomenologischer und analytischer Ansätze für die Philosophie des 20. Jahrhunderts ausweist.

23

24 Vgl. de Saussure [1916] 21967, 76 82, 132 146.

25

Bachmann-Medick 2006, 36.

26 Vgl. Reckwitz 2014, 14:«Wenn man den Cultural Turn auf einen Kerngedanken festlegen will, dann ist es der einer sinnhaften, symbolischen oder semiotisch-differenziellen Konstitution der Wirklichkeit.» Dazu auch:Quadflieg 2019a.

27 Vgl. Reckwitz 2002, 202.

28 Vgl. Reckwitz 2014, 15 16.

14
Jan
Beuerbach, Kathrin Sonntag, Amelie Stuart

schoben werden. Daher sollte die Wiederkehr des Materiellen im Zuge des material turn nicht als Wiederherstellung eines unmittelbaren Zugangs zu den Dingen verstanden werden. Vielmehr gilt es auf der Höhe der Erkenntnisse der sprachkritischen Wende den Dingen eine spezifischeEigenlogik zuzugestehen und sie nicht vollends in ihrer Funktion als symbolische Bedeutungsträger aufzulösen. Zugleich sollte auch in der oft voreiligen Kritik an semiotischen, sozialkonstruktivistischen oder diskurstheoretischen Ansätzen berücksichtigt werden, dass mit dem Ausweisen der grundlegenden Kontingenz symbolischer Codes gerade nicht historisch spezifischeVerfestigungengeleugnet werden. Im Gegenteil: Solche symbolischenStrukturen können sich hartnäckighalten und herrschaftsförmigen Charakter ausbilden, wenn sie unreflektiert gewissermaßen als zweite Natur reproduziert werden. Das kulturalistische Paradigma unterstreicht gegenüber dieser gewohnheitsmäßigen Versteinerung von Bedeutungen und Praktiken jedoch deren prinzipielle Gestaltbarkeit und öffnet damit auch den Horizont für normative Fragen.29 Wenn Derrida mit seinem Konzept der Schrift immer auch die Materialität der Verräumlichung des Textuellen erfasst, Foucault seine Diskurstheorie um den Begriffdes Dispositivs (als Ensemble aus Architektur, diskursivem Wissenund institutionalisierten Praktiken)erweitert, Deleuze/ Guattari den Begriff der Assemblage prägen oder Butler Körperlichkeit in ihrer Theorie des Performativen neu verhandelt, dann kann selbst den Vertreter:innen des postmodernen Signifikantenspiels eine gewisse Sensibilität für das Materielle nicht abgesprochen werden.

Wir möchten daher vorschlagen, den material turn nicht als Bruch mit dem sprachkritisch-kulturalistischen Paradigmazubegreifen, sondern als eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von den Wissensordnungen zu den materiellen Gefügen in ihrer fundierendenRolle für subjekt- und kulturkonstitutive Prozesse.30 Wir betonen diese Kontinuität dabei weniger um einer Versöhnung willen, sondern um ein tiefer sitzendes Problem ernstzunehmen: wie nämlich die Dinge in ihrermateriellen Eigenlogik überhaupt zur Sprache gebracht werden können.31

29 Insofern lassen sich besagte Ansätze auch als Theorien der Befreiung verstehen, wie bspw. in Foucaults programmatischer Relektüre von Kants Aufklärungsschrift deutlich wird, vgl. Foucault [1984]2005.

30 So auch Reckwitz 2014, 13, und Folkers 2013.

31 Ein Umstand, der auch Latours Metaphorik des Parlaments (Sprecher, Konsultation und dem Ding als Versammlung)heimsucht, vgl. Latour 2010, oder Callons Rede von der «Übersetzung», vgl. Callon 2006.

Zur Frage nach dem Stand der Dinge – Eine Einleitung 15

2. Die Dinge zur Sprache bringen:Eine Sensibilität für das Materielle

Das Materialistische des material turn ist zunächst nicht im Sinne einer Wiederbelebung des Historischen Materialismus zu verstehen, der die ökonomischen Produktionsverhältnisse allein als ausschlaggebend für das Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen und Problemlagen betrachtet. Stattdessen umfasst das Materialistische des material turn alle möglichen Formen von Materialität und folgt damit zunächst einem schwachen Begriff des Materiellen.32 Auffällig ist in vielenStudien eine besondere Sensibilität für die Komplexität alltäglicher Umgangsweisen mit den Dingen. Exemplarischlässt sich hier der biographische Ansatz Igor Kopytoffs nennen, dessen Arbeiten für die materielle Kulturforschung ein wichtiger Ausgangspunkt waren. Die Dingeund Güter, die in einer «cultural biography of things»33 untersuchtwerden, haben hier nicht ausschließlich Warencharakter oder einespezifischeFunktion in einem Funktionszusammenhang. Sie stiften Zusammenhänge und Verweisungen, sie durchlaufen zudem verschiedene Stadien von der Schöpfung über den Verkauf in die Sphäre unterschiedlichster Nutzungsweisen und Übertragungen bis hin zum Verfall.34 Nur entlang dieser biographischen Gebrauchslinien lassen sich auch Lebensformen differenzieren, die sich eben vermittels der materiellen Kultur aufbauen. Avant la lettre haben das Edit Fél und Tamás Hofer in ihrer umfangreichen Studie über DieGeräte der Átányer Bauern geleistet, wobei sie über Jahre sämtlichen Gerätschaften des ungarischen Bauerndorfs Átány gefolgt sind, um deren «kulturell[e] Persönlichkeit»35 in den Beziehungen der verschiedenen Handlungskontexte herauszuarbeiten. Dabei sollteder Begriff der Dingbiographie nicht dazu verleiten, den Dingen einen natürlichen Lebenszyklus zuzusprechen,

32 Mit dem zunächst schwächer erscheinenden Begriff des Materiellen ist jedoch in einigen Fällen auch ein politisches Moment auszumachen. So z. B. im New Materialism bzw. New Feminist Materialism,aber auch bei Latour 2010 und Stengers 2018. Stengers befragt u. a. die Praxis der zeitgenössischen Wissenschaft und das noch immer dominante traditionelle, aus ihrer Sicht gegenderte Bild des Wissenschaftlers.

33 Kopytoff [1986] 112013.

34 Vgl. Kopytoff [1986] 112013, 67:«The biography of acar in Africa would reveal awealth of cultural data:the way it was acquired, how and from whom the money was assembled to pay for it, the relationship of the seller to the buyer, the uses to which the car is regularly put, the identity of its most frequent passengers and of those who borrow it, the frequency of borrowing, the garages to which it is taken and the owner ’srelation to the mechanics, the movement of the car from hand to hand over the years, and in the end, when the car collapses, the final disposition of its remains. All of these details would reveal an entirely different biography from that of amiddle-class American, or Navajo, or French peasant car.»

35 Fél/Hofer 1974, 35. Vgl. dazu auch Spittler 2002, 22.

16 Jan
Amelie Stuart
Beuerbach, Kathrin Sonntag,

und damit die Ambivalenz der Dingeauf höherer Ebene wieder einzukassieren.36 So hat Hans Peter Hahn, der auch in diesem Band vertreten ist, in zahlreichen Arbeiten die Uneindeutigkeit, ja gar den Eigensinnund die Unverfügbarkeit der Dinge betont und herausgearbeitet. Die Dinge sind nicht auf eine Bedeutung oder eine geregelte Funktionskette festzunageln, sie changieren in ihren Bedeutungen und sie erschöpfen sich auch nicht darin, bloße Bedeutungsträgerzu sein.37

Auch der New Materialism arbeitet sich an diesem Momentder Unverfügbarkeit ab und macht darauf aufmerksam, dass die Eigendynamik und Wirkmächtigkeit des Materiellen Grundkategorien des Sozialen zu irritieren vermögen.38 Hoppe spricht hier unter Rückbezug auf Stengers und Haraway auch vom «Materielle[n] als etwas Hereinbrechende[m]».39 Das lässt sich beispielsweise am Begriffder sozialen Verantwortung für Krankeund Alte im Zusammenhang der robotisierten Krankenpflege beobachten. Pflegerobotersysteme irritieren nicht nur ein herkömmliches Verständnis von Materialität, sondern stellen auch das moderne Subjektverständnis infrage, so Lipp.40 Seine Untersuchung eines Probelabors für robotisierte Altenpflege zeigt etwa die Anfälligkeit der Pflegerobotersysteme für «materielle Inferenzen»41,wie das Stolpernüber Kabel auf dem Boden und eine bisweilenerhöhte Abhängigkeit von einer aufgeräumten und geordneten Umgebung. In ihrer Fragilität und ihren Anforderungen an die Umwelt gleichen die Pflegerobotersysteme auf irritierende Weise ihren Patient:innen.42 Zugleich werden sie gemäßden Beobachtungen von Lipp im Labor von den Wissenschaftler:innen als zu optimierende,nachjustierbare Materie behandelt. Für Lipp ist dies prototypisch für heutige Gesellschaften, die «permanent mit materiellenInstabilitäten rechnen»43 und fortwährendauf sie reagieren müssen.

Ob nun Forschungsgerätschaften oder Werkzeuge des alltäglichen Lebens, Mikroorganismen oder Pilze, besondere Erbstücke44 oder die bunte Warenwelt des Kaufhauses, die hier skizzierteAufmerksamkeit für Artefakte und Naturafakte in ihrem Eigensinn hat in den vergangenenJahren eine Reihe erstaunlicher Forschungsbeiträge hervorgebracht, die aufzuzählenden Rahmen dieser Einleitung sprengenwürde. Die darin angelegte Methodologie der Sensibilität für die

36 Vgl. Hahn 2015b, 25 28.

37 Vgl. Hahn 2015a, 36 46, 48 52;Hahn 2005, 63 65. Zur Unverfügbarkeit siehe auch den Beitrag von Hans Peter Hahn in diesem Band.

38 Vgl. Hoppe/Lipp 2017, 14.

39 Hoppe/Lipp 2017, 22.

40 Vgl. Lipp 2017, 107 129.

41 Lipp 2017, 122.

42 Lipp 2017, 120 125.

43 Lipp 2017, 126.

44 Vgl. zum Erben den Beitrag von Ulrike Langbein in diesem Band.

Zur Frage nach dem Stand der Dinge – Eine Einleitung 17

dinglichenDetails, auf die es uns hier ankommt, hat dabei ihre historischen Vorläufer, sodass man mit einigem Recht von einer «Wiederkehr der Dinge»45 sprechen kann und gerade nicht von einer Neuentdeckung. Ein Anliegen dieses Bandes ist es daher, mit dem durch den material turn geschärften Blick für den Eigensinn der Dinge auch in den Traditionsbeständen der Philosophie und Geisteswissenschaften die Spuren einer Aufmerksamkeit für diese Eigensinnigkeit freizulegen.

Solche Spuren finden sich beispielsweise in einem der soziologischen Feuilletons von Siegfried Kracauer über Berlin wieder. Darin beschreibt er die Begegnung mit einem Russen, der ihn auf der Straße anspricht in dem Glauben, einen Landsmann vor sich zu haben. Das Missverständnis wurde durch Kracauers Zigarette mit einem Papiermundstück hervorgerufen, die der Mann irrtümlich für ein russisches Produkt hielt, obwohl es Kracauer zufolge lediglich eine schlechte Kopie war. «Und doch bewog schon der Anblick dieser Kopie, dieses kleinen nichtssagenden Dings, den Manndazu, unter allen Menschen mich, den Wildfremden, aufzuhalten und anzusprechen. Das Papiermundstück stellte inmitten der Straßenmenge eine Gemeinsamkeit zwischen uns her, die Zigarette, die niemals jenseits der Grenzegewesen war,beschwor das Bild Rußlands herauf.»46 Diese von Kracauer geschilderte Begebenheit gewinntnoch an Tiefe, wenn wir eine der zentralenEinsichtender Phänomenologie hinzunehmen:Die Wahrnehmung des Dings ist stets die jeweilige Wahrnehmung einer Person von einem Ding.Die Art und Weise, wie ein Ding der betrachtenden oder ihr ausgesetzten Person erscheint, ist ein wesentlicher Bestandteil der Reflexion über die Dinge.47 Exemplarisch dazu ist Heideggers Text Das Ding,indem er am Beispiel des Krugs die Annäherung an Dinge nachvollzieht.48 Der Prozess der Annäherung ist hierbei einerseits durch den Blick auf Dinge bestimmt:«[i]n der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen».49 Das Ding ist nach Heidegger andererseits etwas zu Fassendes, dessen Wesen uns durch seine Materialität und Form vermittelt werden kann. Einem Ding kann demzufolge nur gerecht werden, wer danach trachtet, es in seinem Wesen zu erblicken,und sich das Ding überhaupt zur Betrachtung heranzieht. Der Krug rückt für Heidegger durch die Anschauung seiner Leere und das «Zwiefache des Fassens»50 den Betrachtenden näher und zeigt sich in seinem Wesen. Indem Heidegger sich dem Krug widmet, sowohl in der gelebten Annäherung als auch im Prozess des

45 So schon der Titel und das Programm des Sammelbandes von Balke/Muhle/von Schöning (Hgg.) 2011. 46 Kracauer 2009, 193. 47 Vgl. bspw. Waldenfels 2016 sowie Zahavi 2009. 48 Vgl. Heidegger 2000. 49 Heidegger 2000, 158. 50 Heidegger 2000, 164.

18 Jan
Stuart
Beuerbach,
Kathrin Sonntag,
Amelie

Schreibens, bringt er ihn als Ding zur Sprache.51 Und diese Bewegung ist gleichsam für die Leser:innen während der Textlektüre nachvollziehbar wie dies auch für die Berliner Kindheit oder das Passagen-Werk WalterBenjamins, Simmels mikrosoziologischeEssays, Roland Barthes’ Mythen des Alltags oder die Miniaturen in Adornos Minima Moralia gilt, die allesamt Weisen ergründet haben, die Dinge zur Sprache zu bringen.

Die neue oder besser:wiederentdeckte Sensibilität für dasMaterielle, dieAuf merksamkeit fürdie kleinenMikroprozesseund Verstrickungen alltäglicherPrakti ken mitden Dingen eröffnet dahereine wichtige Tiefendimension geisteswissenschaftlicher Forschung, wiesie die materielle Kulturforschung, der New Materialism und dieANT seit einigenJahren ausloten. Mitder Ausweitung der Aufmerksamkeitist jedoch auch dieGefahreiner Überforderungverbunden,wie sich mit Hartmut Böhmes Entdifferenzierungstheseaus Fetischismus und Kultur verdeutlichen lässt. Wenn wirdie Dinge in ihrerkulturkonstitutiven Rolle ernstnehmen, dann weil wir entlang ihrer Festigkeit (und trotz ihrer partiellen Unverfügbarkeit)differenzielle Ordnungen aufbauen können, dieunsere Praktiken und Sinnzuschreibungen stabilisieren. Fürsolche«empfindlichen Abgrenzungssysteme […], deren Kultur zu ihrer Selbststabilisierung bedarf»52,stellen Vermüllung,Cha os,alsoOrdnungsverlust,ein fundamentalesProblem derEntdifferenzierungdar. Kulturelle Ordnungen können versuchen, diesen destrukturierenden Überschuss zu entsorgen im praktischen Sinneinder Müllverbrennungsanlage,imübertragenen Sinnedurch Vergessen.53 Oder aberkulturelle Systeme finden Wege derAuf wertung vonMüll undFunktionslosem, dieden Dingen einen anschlussfähigen Platzinder Ordnung verschaffen:das Recycling,das Museum,das Archiv. «Das aber wäre dieabsurde Utopie, denMüll zu vernichten, in demman alles musealisiert;ein Albtraumdes Archivs.»54

Die neue Aufmerksamkeit für die Dinge sollte also so ein weiteres Plädoyer des vorliegenden Bandes nicht bei einer bloßen Verdopplung der Welt stehen bleiben, welche in einer Katalogisierungder Details die fokalen Punkte derart verstreut, dass unsere Archive zu überquellenden Schubladen des Vergessens geraten. Das würde nämlich das Irritierende und Eigensinnige des Materiel-

51 Vgl. zu Heideggers, Adornos und Simmels Krug auch den Beitrag von Robert Zwarg. Vgl. den Beitrag von Oliver Zöllner in diesem Band für eine produktive Anwendung von Heideggers Ding-Begriff in der Analyse von Schallplattenliebhabern.

52 Böhme 2006, 132.

53 Vgl. Böhme 2006, 132 133. Zur konstitutiven Rolle des Vergessens siehe auch Luhmann 1996 und Assmann 2016, 11 26.

54 Böhme 2006, 133. In gleicher Weise auch Kopytoff [1986] 112013, 70:«Both individuals and cultural collectivities must navigate somewhere between the polar extremes by classifying things into categories that are simultaneously neither too many nor too embracing. In brief, what we usually refer to as ‹structure› lies between the heterogeneity of too much splitting and the homogeneity of too much lumping.»

Zur Frage nach dem Stand der Dinge – Eine Einleitung 19

len ebenso verschenken wie das Potenzial seiner Gestaltbarkeit durch eine (transformierte)menschliche Praxis. Schon im Zusammenhang mit der theoretischen Beziehung zwischenKulturalismus und Materialismus stellte sich im vorigen Abschnitt (1) die Frage nach der Gestaltbarkeit, die sich systematisch mit der Einsicht in die Kontingenz kultureller Strukturen verbinden lässt. Die Ausweisung der Unverfügbarkeit der Dinge und der unabdingbaren Verstrickung menschlicher Tätigkeiten mit den Gegenständen ermöglicht nun einen differenzierteren Blick auf die Problemlagen praktischer Vollzüge menschlicher Selbstund Weltverhältnisse als kulturtheoretisches Untersuchungsfeld. Nach dem Stand der Dinge zu fragen,heißt in diesem Sinne immer auch zu fragen:«Wie sollen wir jetzt weitermachen?»55 es ist also eine normative und mithin politische Frage nach Verantwortung, die sich vor dem Hintergrund der neuen Sensibilität für das Materielle stellt:

Bei Gestaltung steht Verantwortung (und daher Freiheit)inFrage. Daß Freiheit in Frage steht, versteht sich. Wer Gebrauchsgegenstände entwirft (wer Kultur macht), wirft anderen Hindernisse in den Weg, und nichts kann daran etwas ändern (auch nicht seine etwaige emanzipatorische Absicht). Aber daß bei Gestaltung Verantwortung in Frage steht und daß dies überhaupt erst gestattet, bei Kultur von Freiheit zu sprechen, das will bedacht sein. Verantwortung ist der Entschluß, anderen Menschen gegenüber Antwort zu stehen. Sie ist Offenheit anderen gegenüber.56

3. Kulturkritik der Moderne oder Kritische Theorie des Materiellen?Untersuchungen von Aneignung und Gebrauch

Die Überforderung mit der Explosion der Dingwelt, wie wir sie eingangs geschildert haben, evoziert nicht nur eine dringliche Frage nach dem Weitermachen, sondern ist ein bekannter Topos der Kulturkritik, in dem sich ein grundsätzliches Unbehagen in Bezug auf die Dingeartikuliert. Die Dinge treten hier als etwas auf, das uns überwältigt und beherrscht, dem es Einhalt zu gebieten gilt, um einejenseits des Konsums von Dingen liegende, authentischeund unabhängige Existenzweise freizulegen, die der Konsum verstelle. Hahn hat dies als die ‹desorientierende › (imGegensatz zur ‹orientierenden›)Wirkung der Dingecharakterisiert.57 Schon Rousseau bemängelt in seinem Diskurs über die Ungleichheit

55

So Wim Wenders im Interview mit Roger Willemsen zu seinem Film «Der Stand der Dinge»[1982]2005, Bonusmaterial der DVD des Arthaus-Verlags, Minute 08:20.

56

So Vilém Flusser 1997, 41, in seinem Essay «Zum Stand der Dinge».

57 Vgl. Hahn 2014b, 128 130. In der philosophischen Tradition wird der Beginn der desorientierenden Wirkung bei Descartes verortet. In den Dingbeziehungen eher eine Gefahr für die Authentizität des Subjekts zu sehen, wie es diese Fraktion an Theoretiker:innen tut, erweist

20 Jan
Amelie Stuart
Beuerbach,
Kathrin Sonntag,

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Der Stand der Dinge by Schwabe Verlag - Issuu